Die Weiterwohnlichkeit der Welt
Zum 100. Geburtstag von Hans Jonas erscheinen seine «Erinnerungen»
Ein riskantes Bekenntnis, so irritierend wie nachvollziehbar: In der Mitte seiner Lebenserinnerungen berichtet Hans Jonas, Friedenspreisträger des deutschen Buchhandels, vormals Soldat der «Jewish Brigade» der britischen Armee, von seiner ersten Nachkriegsreise durch das zerstörte Deutschland. Eine Mondlandschaft, voller Krater und aufragender Trümmer. «Bei diesem Anblick empfand ich etwas, was ich nie wieder erleben möchte, aber auch nicht verschweigen will – das Gefühl jauchzender (…) Rache. Es gab Jahre in meinem Leben, in denen ich auf die Frage, was der Augenblick des intensivsten Glücks in meinem Leben gewesen sei, erwidert hätte: ‹Dieser Moment…›. Von mir aus konnte das deutsche Volk einfach zum Teufel gehen». War es nicht selber vorher «zum Teufel» gegangen?
Zu diesem Zeitpunkt weiss Jonas noch nicht einmal, was er wenig später an seinem Geburtsort Mönchen-Gladbach erfahren wird: dass seine geliebte Mutter von Nazi-Deutschland erst ins Ghetto von Lodz transportiert, dann in Auschwitz ermordet worden ist. Der Moment, in dem er diese Nachricht erhält, ist der unglücklichste Moment, «der grosse Kummer meines Lebens. Diese Wunde hat sich nie geschlossen – das Schicksal meiner Mutter.» Die näheren Umstände ihres Todes waren noch weniger dazu angetan, darüber hinwegzukommen. Die Mutter hatte ihr Einwanderungszertifikat für Palästina, das sie gerettet hätte, zugunsten ihres jüngeren Sohnes Georg umschreiben lassen, der aus der Haft im KZ Dachau nur entlassen werden konnte, wenn er Deutschland unverzüglich verliess. Der schon in Palästina ansässige ältere Sohn Hans hatte auf Geheiss der Mutter die Umschreibung vorgenommen. Zu dem allgegenwärtigen Schuldgefühl der Überlebenden kommt das Bewusstsein hinzu, am Tod der Mutter faktisch mitschuldig zu sein.
Den Kontrapunkt zum Unheilszusammenhang von grösstem Kummer und jauchzender Rache bildet eine Schulgeschichte, die am Anfang dieser Lebenserinnerungen steht. Der nationalistische Lateinlehrer der Gymnasialklasse kommentiert die Torpedierung eines britischen Truppentransporters im ersten Weltkrieg: «Sehr gute Nachricht. Hoffentlich sind dabei recht viele ertrunken.» Daraufhin Schüler Hans Jonas: «Darf man das denn eigentlich wünschen?» – « ‹Ach so, du meinst, das wäre nicht christlich?› Worauf ich antwortete: ‹Ich meine nicht menschlich.› Darauf errötete er.»
Aus den Erinnerungen, die Hans Jonas vier Jahre vor seinem Tod in Gesprächen mit Rachel Salamander und Stephan Sattler auf 33 Tonbändern festgehalten hat und die jetzt zu seinem 100. Geburtstag in einer redaktionellen Überarbeitung von Christian Wiese herausgegeben werden, ragen diese Zeugnisse heraus.
Anekdoten und Memorabilien
Sonst begegnet man in dem Band bis auf die «Lehrbriefe», die Jonas zur Überbrückung philosophieloser Kriegszeit an seine Frau Lore geschrieben hat, und den erst 2001 publizierten Aufruf zur Beteiligung der jüdischen Männer am Krieg gegen Hitler öfters einem etwas redseligen, auch nicht uneitlen alten Mann, der «Memorabilien» erzählt – keine Autobiographie schreibt. Neben der Anekdote wird auch der Klatsch, zumal über die Freundinnen und Freunde von Hannah Arendt und Günther Anders bis zu Gershom Scholem, nicht verschmäht. Auch das erfolgreich um Verdichtung bemühte Nachwort von Christian Wiese und der eingehende, aber etwa bei Walter Bröcker und Anders nicht immer fehlerfreie Kommentar kann den Eindruck einer eher unterhaltsamen Lektüre nicht hindern.
In den zitieren Zeugnissen aber wird neben Jonas’ «Makabäerzorn» der dunkle Grund eines jüdischen Philosophenlebens im 20. Jahrhundert sichtbar. Seit seiner Dissertation «Der Begriff der Gnosis», nach Studien in Freiburg, Berlin und Marburg bei Edmund Husserl, Rudolf Bultmann und Martin Heidegger, dann in seinem grossen zweibändigen Werk «Gnosis und spätantiker Geist» dechiffriert Jonas diese spätantike religiöse Erlösungslehre als Ausdruck eines heillos verdüsterten Weltgefühls. Der Heidegger-Schüler, der seinen Lehrer philosophisch stets für eine Ausnahmeerscheinung gehalten, dem Nazi-Rektor aber politisch und menschlich die Entlastung verweigert hat, liest die Dokumente der Gnosis am Leitfaden der existenzialistischen Begriffe der Zeitlichkeit und Geworfenheit. «Die Welt ist alles», was buchstäblich «der Fall ist», Sündenfall und Höllensturz in einem. Später vertauscht Jonas Schloss und Schlüssel und wendet gnostische Begriffe auf sein Verständnis des existenzialistischen «Nihilismus» an. Aus Heideggers Daseinsanalytik der Angst etwa wird Jonas’ «Heuristik», seine Findekunst «der Furcht».
Prinzip Verantwortung
Aber Jonas selber ist nichts weniger als Gnostiker. Mit Leidenschaft bekämpft er vielmehr den gnostischen Dualismus von Materie und Geist, eine Welt- und Schöpfungsfeindschaft, für welche die Welt als Negation des Heils gilt und Erlösung nur durch die Negation der Welt möglich wird. Die existenzialistische Anthropozentrik mit ihrer Obsession für den Einzelnen, ihrem Pathos der Eigentlichkeit, bleibt ihm ebenso fremd. «Die Welt ist für mich (…) niemals ein feindlicher Ort gewesen.» Es geht um ihre «Weiterwohnlichkeit». Ein erstaunlicher Satz für einen Denker, der erlebt hat, was Jonas erlebt hat.
Das philosophische Spätwerk, das Jonas im Land seiner Geburt berühmt gemacht hat: «Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation» (1979), ist auf diesem Hintergrund zu sehen. Auf das Sein der Welt und des Menschen will Jonas seine ontologisch fundierte Ethik gründen: auf dass in der engstmöglichen Verklammerung von Sein und Sollen auch künftighin eine Welt und eine Menschheit sei. Schon im «Metabolismus», dem Stoffwechsel der Lebewesen, macht die «philosophische Biologie» von Jonas («Organismus und Freiheit», 1973) die Konturen eines Lebens aus, dem es in seinem Sein um dieses Sein selbst geht und das an sich selbst Zweck ist. Jenes Wesen aber, das sich am allerwenigsten von selber versteht, sich vielmehr in einer sowohl technologischen wie ontologischen Welt-Risikogesellschaft selber aufs Spiel setzen kann: Das menschliche bedarf am meisten der Stützung durch eine von der Vergangenheits- zur Zukunftsverantwortung umorientierte Ethik. Das gilt vor allem dort, wo die Gefährdung am grössten ist: Am Leitfaden des durch und durch asymmetrischen, einseitig verantwortlichen Eltern-Kind-Verhältnisses entwickelt Jonas seine Fernsten-Ethik für eine künftige Welt.
Jonas hat Zeit seines Lebens denn auch nicht gezögert, sich verantwortlich zu engagieren. Nach seinem furiosen akademischen Beginn ist er als überzeugter Zionist im Kampf gegen die Nazis und ihren «metaphysischen Antisemitismus», der sowohl die Menschheit wie die Menschlichkeit negierte, über viele Jahre als Soldat berufsfremd aktiv geworden. Erst spät, mit Professuren in Kanada und dann an der New Yorker «New School for Social Research», hat er die hochverdiente akademische Karriere gemacht.Gerne hat man in ihm mehr den wohlmeinenden Mahner und Warner als einen nüchternen Analytiker gesehen. Die «Erinnerungen» korrigieren diesen Eindruck nicht. Sein Versuch, das Sollen im Sein zu begründen, der paradoxe Entwurf einer ontologischen Ethik ist – wie alle anderen Letztbegründungsversuche auch – philosophisch tatsächlich viel schuldig geblieben. Die Gesellschaft hat mit den Ehrungen, die sie Jonas angedeihen liess, um ihr schlechtes Gewissen zu entsorgen, den eher appellativen Eindruck noch verstärkt.
Um aber die ungeminderte Aktualität des «Prinzips Verantwortung» für die gegenwärtigen Debatten zu unterstreichen, zumal für die gen- und medizinethischen Fragen, die Jonas früher als die meisten im Blick hatte, genügt es, zwei Grundregeln seiner «Heuristik der Furcht» zu zitieren: «Meliorismus», der Glaube an das immer Bessere, etwa an das ökonomische Wachstum, die militärische Sicherheit oder den gentechnologischen Fortschritt, kann nie das Totalrisiko gegenwärtiger und zukünftiger Existenz rechtfertigen. Nicht minder muss das «Gebot der Bedächtigkeit», der «Vorrang der schlechten vor der guten Prognose» gelten, wo Katastrophen dauernd und unter allen Umständen verhindert werden müssen, aber jederzeit und auf vielerlei Weise möglich sind.
Hans Jonas, «Erinnerungen». Nach Gesprächen und mit einem Vorwort von Rachel Salamander und einem Geleitwort von Lore Jonas, herausgegeben von Christian Wiese, Insel 2003
Ludger Lütkehaus, geboren 1943, ist Professor für Literaturwissenschaft an der Universität Freiburg i. Br.