Die Herrschaftsordnung Ihres Vertrauens
Stärken und Schwächen von Nationalstaaten gegenüber einem supranationalen Staatenbund.
Der Schweizer Philosoph und Aufklärer Johann Georg Zimmermann meinte im 18. Jahrhundert sinngemäss, so wie der Esel seinen Stall habe, so gehe es dem Bürger mit der Nation. Nun sind beide, Esel und Zimmermann, kluge Wesen. Doch wohin führt uns diese Klugheit?
Im 19. Jahrhundert war der nationalstaatliche Rahmen zu gross ausgelegt für die bestehenden Gemeinschaften, er musste erst ausgefüllt werden. Mit den Worten von Eugen Weber1: Bauern mussten erst zu Franzosen werden, durch eine national orientierte Erziehung ebenso wie durch Strassen- und Eisenbahnbau. Der Staat war der proaktive, der nach vorn gerichtete Rahmen. Nach dem Zweiten Weltkrieg kam der Nationalstaat vor allem in den letzten fünfzig Jahren unter Druck: durch multinationale Unternehmen und Nichtregierungsorganisationen, durch internationale Bündnisse und überstaatliche Vereinigungen sowie durch den Abbau von Hemmnissen für Handel, Ideen- und Personenverkehr. Der Nationalstaat hat Wettbewerber erhalten und erwies bzw. erweist sich als relativ schwach. Er wirkt nun für viele nicht mehr vorwärts-, sondern rückwärtsgewandt und ist in die Defensive geraten.
Von Heimatgefühl, der engen regionalen Bindung an Familie, Landschaft und vertraute Kultur, über Nationalbewusstsein, also das Gefühl der Zugehörigkeit zu einer grösseren kulturellen und sprachlichen Gemeinschaft, bis zum Nationalstaat, also der Idee, dass kulturelle Gemeinsamkeiten und historisches Schicksal einer breiten Bevölkerungsgruppe sich in einem Staat mit eigenen Institutionen, eigener Identität und Werten finden sollten, existiert ein breites Kontinuum. Der Staat, auch der Nationalstaat, ist durch die Dreiheit von Territorium, Grenzen und institutionalisierter Staatsgewalt gekennzeichnet. Minderheiten werden in einem solchen Nationalstaat von der Mehrheit höchstens geduldet, sind aber selten gleichberechtigt. Staatsgebilde, Territorium und kulturell und sprachlich relativ einheitliche Bevölkerung sollen möglichst eine Einheit bilden. Häufig sind in den Nachbarländern aber Landsleute anzutreffen. Im 19. und 20. Jahrhundert war dabei oft von Irredenta, unerlösten Gebieten, die Rede, die notfalls mit Gewalt einverleibt werden sollten.
Im Nationalismus schliesslich tritt das «Wir» der eigenen Kultur und Erfahrungen mit verabsolutiertem Geltungsanspruch gegenüber anderen Nationen und Gruppen auf. Aus der Überbetonung des «Wir» mit positiven Eigenschaften folgen die überwiegend negativen Abgrenzungen vom «Sie». Im Extrem: die Ausgrenzung der anders Aussehenden, Sprechenden, der Andersgläubigen, andere Sitten und Gebräuche Habenden.
Nationalbewusstsein und Nationalstaat
Allgemein kann man drei grundlegende Erklärungen für die Herausbildung von Nationalbewusstsein und, in der Folge, Nationalstaaten unterscheiden:
1. Die sogenannten primordialen Erklärungen gehen davon aus, dass kulturelle und landsmannschaftliche Bindungen schon mit der Geburt weitergegeben werden, gewissermassen als Grundausstattung menschlicher Existenz. Eine solche Sicht landet dann mitunter bei rassischen bzw. rassistischen Erklärungen bis hin zur Behauptung der Überlegenheit bestimmter Ethnien.
2. Die zweite Erklärung sieht in Eltern, Lehrern, Intellektuellen und Ideologen die Ursache für die «Erfindung der Gemeinschaft»2 und Abgrenzung von anderen «Communities». Im Gefolge der Französischen Revolution von 1789 lassen sich hierfür europaweit Belege in grosser Zahl anführen. Eine solche Strategie der Prägung kultureller Identitäten ist nicht auf bestimmte Perioden beschränkt, sondern kann – wie momentan in den USA und in zahlreichen europäischen Staaten zu beobachten – jederzeit gewählt und forciert werden. Ob sie Erfolg hat, ist eine zweite Frage.
3. Die dritte Erklärung arbeitet mit Massendaten über das Verhalten der Menschen und analysiert die Formen und Häufigkeit ihrer Kontakte. Diese von Karl Deutsch formulierte Theorie sozialer Kommunikation3ist überaus erfolgreich und wertneutral. Sie zählt im Kern Art und Intensität der Kontakte von Menschen innerhalb eines Staates (Kulturkreises) und zwischen diesen aus. Deutsch kommt zum Schluss, dass mit zunehmender Modernisierung (im Sinne von sozialer Kommunikation, das heisst durch Kontaktverdichtungen jedweder Art) die Spannungen bei und zwischen ursprünglich kulturell heterogenen Bevölkerungen zunehmen, Integration nur im Falle anfänglich homogener Bevölkerungen zu erwarten ist. Bei heterogenen Ursprungsbevölkerungen erklärt sich die Verschärfung der Spannungen ja gerade aus den im vorstehenden Absatz beschriebenen Mechanismen.
«Es wäre unverzeihlich, die Stärken des Nationalstaates als Sicherheitsreserve mit leichtfertigen überstaatlichen Regelungen zu verspielen.»
Neuere Ansätze berücksichtigen auch mehrfache Identitäten, je nach örtlichem Bezugsrahmen. So kann man eine bayrische und zugleich eine europäische Identität haben. Bei Migranten zwischen Staaten ist dies häufig über mehrere Generationen der Fall. Dem Migranten als «Marginalperson» aus früherer Forschung und dem berühmten Exkurs von Georg Simmel (1908)4 über den «Fremden» steht heute die Mehrfachidentität als Massenphänomen gegenüber.
Grundlegende Herausforderungen für jeden Staat
Nationalstaaten sehen sich heute in mindestens vier Bereichen ernsthaft herausgefordert. Dies betrifft die Durchsetzung des staatlichen Gewaltmonopols, die grundlegende Infragestellung des gesellschaftlichen Ordnungsrahmens, den Schutz der Grenzen nach aussen und die Stabilität der internationalen Ordnung. Dabei berührt die Frage des Schutzes der Grenzen auch gleichzeitig die innerstaatliche Ordnung.
Verzichtet man zunächst auf den Blick auf Veränderungen der internationalen Ordnung, so lässt sich der maximale Kontrast innerstaatlicher und internationaler Herausforderungen an zwei Typen von Konflikten leicht veranschaulichen: Demonstrationen und Protest bedrohen im allgemeinen weder das Gewaltmonopol noch die Gesellschaftsordnung, noch die Staatsgrenzen; internationale revolutionäre Bewegungen dagegen alle drei.
Der Fall wird dramatischer, wenn die eigenen Grenzen nicht geschützt werden (können), das Gewaltmonopol nicht durchgesetzt werden kann und in der Folge sich die internationale Ordnung ändert. Dass Angela Merkel angesichts der Migrationswelle im Jahre 2015 erklärte, die deutschen Grenzen seien nicht zu schützen, und damit den britischen EU-Gegnern Auftrieb gab, illustriert die explosive Wirkung der Verzahnung beider Konfliktfaktoren. Aus dieser Sicht ist die Lage Deutschlands und Europas wesentlich bedrohlicher als gemeinhin vermutet.
Der Soziologe Charles Tilly hat 1990 die Trias von Gewaltmonopol, Gesellschaftsordnung und Grenzen in den Vordergrund seiner Analyse der europäischen Staatenwerdung im 17. Jahrhundert gerückt, nämlich in der Verzahnung von Schutz der Grenzen, allgemeinem Militärdienst und allgemeiner Besteuerung.5 Es ist bestürzend zu sehen, wie wenig davon bei deutschen Historikern und in der Öffentlichkeit angekommen ist, zumal frühere ihrer Kollegen ähnliche Analysen vorgelegt haben. Die Geschichte wiederholt sich bekanntlich nicht, doch finden sich die hier aufgezeigten drei Komponenten in den Europaplänen von Frankreichs Präsident Macron wieder. In der deutschen Reaktion auf seine Vorschläge ist immer nur die (drohende) Übernahme von Gemeinschaftsschulden gesehen worden. Das Potenzial für eine Festigung europäischer Identität, das im Einsatz von militärischen Ressourcen zum Schutz gemeinsamer Grenzen liegt, und die dafür erforderliche klare und ausnahmslose EU-weite Besteuerung können eine enorme Schubkraft entfalten, wenn das momentan noch vorherrschende, unbedarfte geopolitische Denken erst einmal durch den nötigen Realismus ersetzt wird.
Nationalstaat vs. Staatenbund
Deutet dieser Realismus also weg vom Nationalstaat und hin zum Staatenbund? Die folgende Tabelle zeigt – in stark vereinfachter Form – relative Stärken und Schwächen von Nationalstaaten gegenüber einem supranationalen Staatenbund auf:
Im Kern lautet der Befund: Nationalstaaten haben Vorteile bei der Organisierung des staatlichen Gewaltapparates und der Institutionen, da sie weniger komplex, mit geringeren Transaktionskosten verbunden und mit höherem Vertrauen ausgestattet sind. Sie verpassen aber mögliche Handels- und Wissensvorteile und können somit hinter offenere Staaten zurückfallen. Eine Abwehrhaltung steht gegen die Chancen des offenen Austausches von Ideen, Gütern und Personen, der aber auch Gefahren der Unterwanderung und Fehlanpassung mit sich bringt. Auch die historisch tendenziell höhere Kriegsgefahr bei Nationalstaaten ist zu erwähnen.
Der Nationalstaat – Auslaufmodell oder Zukunftsvision? Hier geht es nicht um ein Entweder-oder, sondern um ein Mehr oder Weniger, also eine Perspektive des Kontinuums. Als Bezugsrahmen staatlicher Gewalt wird der Nationalstaat als Rückzugs- und Schutzposition an Bedeutung gewinnen, wenn internationale Sicherheitsäquivalente nicht existieren oder nicht funktionieren. Andererseits kann sich ein Nationalstaat leicht verschätzen angesichts des Ausmasses internationaler Herausforderungen und auf einmal allein nicht mehr verteidigungsfähig sein.
«Angst allein ist meist kein guter Ratgeber, die Vertreibung und Verfolgung elitärer und anderer Minderheiten eine noch schlechtere Antwort.»
Es wäre unverzeihlich, die Stärken des Nationalstaates als Sicherheitsreserve mit leichtfertigen überstaatlichen Regelungen zu verspielen. Genauso töricht wäre es aber umgekehrt, auf die Vorteile internationalen Austausches und internationaler Solidarität zu verzichten. Ungarn beispielsweise hat über Jahrhunderte gegen externe Grossmächte (Türkei, Habsburg, Sowjetunion) für seinen eigenen Nationalstaat gekämpft und diesen Kampf nach beiden Weltkriegen mit dem grössten relativen Territorialverlust und der Zurücklassung grosser ungarischer Minderheiten in den Nachbarstaaten bezahlt. Dies zu erkennen, weckt ein gewisses Verständnis für die Furcht der Ungarn vor erneuter Überfremdung und externer Abhängigkeit. Aber Angst allein ist meist kein guter Ratgeber, die Vertreibung und Verfolgung elitärer und anderer Minderheiten eine noch schlechtere Antwort.
Aus dieser Sicht ergeben sich erstaunliche Parallelen zu Deutschland, das wegen seiner wirtschaftlichen Kraft als Einzelstaat zu gross ist, um in Europa keine Furcht auszulösen, und nach den historischen Katastrophen zwingend der europäischen und weitergehenden Einhegung bedarf. Die Vorstellung, mit den Mitteln des Nationalstaates allein zukünftige Wanderungsbewegungen und Bedrohungen steuern zu können, ist vermutlich genauso wenig realistisch wie eine naive Weltsicht, die Bedrohungen nicht sieht und das Ausmass der Leistungsfähigkeit einer Gesellschaft und eines Staates im internationalen Wettbewerb leichtfertig unterschätzt. Dass unter den Bedingungen massiven Zustroms von Migranten theoretische Konstruktionen nicht nur seitens der politischen Rechten, sondern auch in und sogar links der Mitte wiederbelebt werden, wie man sie bei Rainer M. Lepsius in seiner Schrift «Extremer Nationalismus»6 findet, ist verblüffend. Lepsius analysiert die Herausforderungen durch den Nationalsozialismus, sieht im Staat den spezifischen Geltungs- und Legitimationsrahmen und unterscheidet Form und Ausmass der Anlehnung an den Staat und der Beschwörung der jeweiligen Schutzbedürfnisse je nach gesellschaftlicher Lage und kultureller Minderheit. So bauen etwa die Mittelschichten mit ihrer Vorstellung als tragende Gesellschaftsschichten auf den Staat als Ordnungsrahmen. Dieser soll Schutz gegenüber gesellschaftlichem Abstieg wie auch Geltung in der Gesellschaft garantieren. Die Staatsgläubigkeit der Sozialdemokratie mit ihren speziellen Milieufaktoren und historischen Prägungen ist ein zweites Beispiel.
Gewaltmonopol auf Staatsebene ist unverzichtbar
«Ultima ratio regis» stand auf den Kanonen von Ludwig XIV. Wer sich der Verfügungsmacht über die notwendigen staatlichen Gewaltmittel beraubt oder diese Mittel im Ernstfall zur Verteidigung und Abschreckung nicht gebraucht, kann nicht als Realist gelten und beschwört damit noch weniger kontrollierbare Gefahren.
Prominente Wissenschafter setzen allerdings auf mehr als «Kanonen» und sehen unterschiedliche Dilemmata. So verweist Brendan Simms in einem grossen historischen Rückblick auf einen sehr erfolgreichen supranationalen Staatenbund, den Zusammenschluss von Schottland und England zum Vereinigten Königreich im Jahr 1707: Beide Teile verzichteten auf ein eigenständiges Gewaltmonopol, dies aber bei garantierter Handels-, Religions- und Meinungsfreiheit. Simms kontrastiert dies mit der wenig erfolgreichen supranationalen Institutionenbildung im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation7. Das Vereinigte Königreich habe also sehr wohl über den nationalen Tellerrand schauen können, dabei aber zugleich auch seine über Jahrhunderte errungenen Freiheiten gegenüber Bevormundungen von ausserhalb des Landes zu schützen gewusst und damit in tausend Jahren des Konflikts und der Kooperation eine Sonderstellung erworben. Europa, das war lange und wird auch «Britain’s Europe» bleiben: In seiner ökonomischen Bedeutung entspräche der Brexit einem Austritt der volkswirtschaftlich schwächsten 18 Mitglieder der Europäischen Union.
Dani Rodrik stellt Demokratie in das wechselseitige Spannungsverhältnis von Globalisierung und nationaler Souveränität und rät zu pragmatischen und empirisch abgesicherten Schritten statt grosser theoretischer Entwürfe8. Die demokratische Herrschaft könne durch beides, Globalisierung und nationale Entwicklungen, unter Druck geraten. Gerade die grosse Exportabhängigkeit einer Volkswirtschaft setze einen starken und breit legitimierten Staat voraus, der wirtschaftliche Krisenfaktoren abfangen könne, indem er Benachteiligte vorübergehend besonders schütze. Wolfgang Streeck schliesslich diagnostiziert die Gefahr eines Zusammenbruchs gewachsener wohlfahrtsstaatlicher Lösungen unter dem Ansturm von Zuwanderern mit Ansprüchen auf staatliche Transfers9. Trotz jetzt schon vorhandener Überforderung der staatlichen Ressourcen plädiert er, scharf an der Grenze zu linksdogmatischer Kapitalismuskritik, für eine noch stärkere Rolle staatlicher Steuerungsinstanzen.
Kern all dieser Betrachtungen bleibt das Ziel einer wirtschaftlich effizienten Herrschaftsordnung, die das Vertrauen der Bürger geniesst – von Bürgern, die sich auch untereinander vertrauen und dadurch leistungs- und anpassungsfähige Institutionen schaffen. Dieses Ziel gilt für die Überlebensfähigkeit von Nationalstaaten ebenso wie für die eines supranationalen Staatenbunds.
Eugen Weber: Peasants into Frenchmen. The Modernization of Rural France, 1870–1914. Stanford: Stanford University Press, 1976. ↩
Benedict Anderson: Imagined Communities: Reflections on the Origin and Spread of Nationalism. New York: Knopf Doubleday, 1983. ↩
Karl Deutsch: Nationalism and Social Communication: An Inquiry into the Foundations of Nationality. 2. Auflage. Cambridge, Mass.: MIT Press, 1966. ↩
Georg Simmel: Soziologie: Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung. Berlin: Duncker & Humblot, 1908. ↩
Charles Tilly: Coercion, Capital, and European States. London: Basil Blackwell, 1990. ↩
Rainer M. Lepsius: Extremer Nationalismus. Stuttgart: Kohlhammer (1966). ↩
Brendan Simms: Britain’s Europe. A Thousand Years of Conflict and Cooperation. London: Penguin Books, 2017. ↩
Dani Rodrik: Das Globalisierungs-Paradox: Die Demokratie und die Zukunft der Weltwirtschaft. München: Beck, 2011. ↩
Wolfgang Streeck: Between Charity and Justice: Remarks on the Social Construction of Immigration Policy in Rich Democracies. Culture, Practice & Europeanization, 2018, Vol. 3, No. 2, S. 3–22. ↩