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Die Erwartungen der Anderen

Vom Zwang der Norm entsprechen zu wollen.

Kürzlich habe ich auf meiner Insel, auf der ich bevorzugt überwintere, Besuch von meiner Mutter erhalten. Sie brauchte aus privaten Gründen eine Auszeit. Und Sansibar ist meines Erachtens der beste Kurort der Welt, gerade weil es eine andere Welt ist.

Als meine Mutter meine in Sansibar lebenden Freunde kennenlernte, prallten gewissermassen auch Welten aufeinander. Da war auf der einen Seite meine über siebzigjährige Mutter, die ein Leben geführt hat, wie es wohl neunzig Prozent der Schweizerinnen und Schweizer führen. Und auf der anderen Seite eine Handvoll Menschen, die wie ich mit der konventionellen Lebensform gebrochen haben, sich um die gesellschaftlichen Erwartungen foutierten, sich für ein einfaches, aber dafür freiheitliches Leben entschieden haben. Bis anhin war ich der Überzeugung: Je älter man wird, desto weniger kümmert man sich darum, was die anderen von einem erwarten und über einen denken. Doch es ist keine Frage des Alters, inwieweit man sich von den gesellschaftlichen Erwartungen befreien kann. Erwartungen, die uns in ein Lebenskorsett zwingen, in dem sich die einen gut aufgehoben fühlen, das für andere aber zu eng und fast nicht zu ertragen ist.

Wie oft im Leben tun wir etwas, weil man es von uns erwartet, weil es jeder tut, weil es sich so gehört – und nicht, weil wir es wirklich wollen? Und, schlimmer noch, umgekehrt: Wie oft tun wir etwas nicht, weil man so etwas nicht tut – obwohl wir es gern tun würden? Und wann erkennen wir, dass viele der gesellschaftlichen Erwartungen vor allem in unserem Kopf festsitzen, weil wir meinen, dass die anderen meinen, dass man das oder dies tun oder lassen sollte? Meine Mutter sagte mir, sie habe in diesen drei Wochen auf Sansibar vieles von uns gelernt. Dass man mehr auf sich selbst achten muss und weniger darauf, was die anderen denken. Wie weit man der Norm entsprechen will – oder ob man sie sprengt und sein eigenes Ding durchzieht –, liegt allein an einem selbst. Es ist ein Entscheid, für den man nie zu alt ist.

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