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Urs Faes 1/2 Gespräch

Werkgespräche // Eine Stafette Wie entsteht ein Buch? Meist wissen wir Leser wenig über seine Entstehungsgeschichte, über das, was den Autor während des Schreibens antreibt, worüber er sich freut und woran er leidet.
In den «Werkgesprächen» erzählen Schriftsteller über ihr Schreiben und stellen anschliessend einen Auszug aus einem Text vor, an dem sie gerade arbeiten.
Die «Werkgespräche» werden in dieser Ausgabe mit Urs Faes eröffnet. In der kommenden Ausgabe spricht er, das Staffelholz weitergebend, mit Klaus Merz über dessen schriftstellerische Arbeit.

Urs Faes 1/2 Gespräch

Als ich vor Ihrer Haustür stand und bei Ihrem Namen klingelte, las ich auf einem der anderen Klingelschildchen «Liebesarchiv», den Titel Ihres letzten Romans. Was erwartet einen Besucher an diesem Ort? 

 

Auf dem Estrich unter dem Dach ist das ganze Archiv zu meinen Büchern in Bordeauxkisten gelagert. Verblichene Fotoalben, Stapel von zerlesenen Illustrierten und die verschiedenen Fassungen meiner Romane. Das Archiv entspricht jenen inneren Archiven von Erinnerungen, die im Schreiben manchmal abrufbar werden. Schreiben hat ja mit Erinnern zu tun. Das schreibende Erinnern nimmt Fäden auf und sucht sie im fiktiven Bild, im Text darzustellen.

 

Das Archiv auf dem Estrich hilft, diese Fäden zu finden?

 

In dem Archiv begegne ich mir selber. Erinnerungen sind ja nicht auf Befehl abrufbar, und das Archiv hilft mir, einen Zugang zu ihnen zu finden. Dabei kommt man auch sich selbst auf die Spur, den kleinen und grossen Schummeleien, die man mit der eigenen Geschichte so betreibt. Manchmal helfen Gegenstände – eine alte Eisenbahn, ein Foto, die Erinnerung an einen Geruch –, eine bestimmte Situation und Stimmung zu finden, zu erfinden. Für das Buch «Liebesarchiv» war es das Bild eines kleinen Jungen, der am Fenster steht und auf seinen Vater wartet. Und der später in den Familienarchiven die Geschichte einer geheimen Liebe seines Vaters aufspürt. So wird das Archiv zum Sprungbrett des Erzählens.

 

Nicht nur für das Buch «Liebesarchiv», sondern auch für viele Ihrer früheren Bücher, die ja immer wieder in der Vergangenheit spielen, in der Schweiz der 1940er und 1950er Jahre?

 

Es ist tatsächlich so, dass in meinen Büchern eine Spurensuche in der Vergangenheit unternommen wird. Eine Suche nach dem, was gewesen sein könnte. Das hat damit zu tun, dass mich immer interessiert hat, wie wir zu dem geworden sind, was wir sind, welche Familiengeschichten uns geprägt haben. Schon in «Sommerwende» vor 20 Jahren bin ich einer solchen Familiengeschichte nachgegangen, dem frühen Tod meiner Grossmutter in der Kriegszeit. «Augenblicke im Paradies» hat mit meiner Kindheit in der Schweiz der 50er Jahre zu tun. «Und Ruth», mein Roman von 2001, ist eine Internatsgeschichte aus den 1960er Jahren. Im nachhinein kann ich sagen, dass «Sommerwende», «Augenblicke im Paradies», «Und Ruth» sowie «Liebesarchiv» zusammen eine Tetralogie bilden, die immer wieder von dieser Spurensuche in der Vergangenheit angetrieben wurde. Das schreibende Erinnern war die einzige Möglichkeit für mich, eine belastende, mitunter quälende Familiengeschichte zu bannen.

 

«Nachzeit» lautet der Arbeitstitel des Romans, an dem Sie zur Zeit arbeiten. Seine Handlung spielt in der Gegenwart, in der onkologischen Abteilung eines Krankenhauses. Ist mit der Tetralogie die Erinnerungsarbeit literarisch abgeschlossen?

 

Vergangenheit ist nie abgeschlossen. Ich weiss nicht, ob und wann sie mich wieder einholt. Im Moment jedenfalls ist das nicht der Fall.

 

Wie gelang Ihnen der Sprung aus der Erinnerung der Familiengeschichten in eine Kranken- und Liebesgeschichte der Gegenwart?

 

Ich lebe in der Gegenwart und schreibe aus der Gegenwart heraus, auch wenn ich mich erinnere und die Vergangenheit wieder aufleben lasse wie in der Tetralogie. Doch es kann auch passieren, dass die Gegenwart auf mich derart irritierend wirkt, dass der Druck des Beobachteten und Erfahrenen zum Schreiben drängt. Schreibend versuche ich dann, dem Unbewältigten nachzugehen. Wie ein Kind, das mit einer Zeichnung zu bannen versucht, was es ängstigt, versuche ich eine Sprache zu finden, Bilder, Rhythmus.

 

In «Nachzeit» trifft ein Gesprächstherapeut auf eine Patientin mit Brustkrebs, die er vor vielen Jahren gekannt und geliebt hat. Wo lag die Irritation?

 

Da muss ich weiter ausholen. Vor zwei Jahren wurde ich überraschend vom Chefarzt für Onkologie eines Schweizer Kantonsspitals angerufen. Er wollte jemanden mit einem Blick von aussen die Menschen, die Abläufe, die Situationen in seiner Abteilung betrachten lassen. Ein Schriftsteller sei doch jemand, sagte er zu mir, der gelernt hätte, genau hinzuschauen und hinzuhören auf das, was mit Menschen und zwischen Menschen sich ereigne, und der redend und schreibend das Beobachtete spiegeln und weitergeben könne.

 

Sie haben das Jobangebot angenommen?

 

Ich habe dort während anderthalb Jahren immer wieder einzelne Tage verbracht. Mit weissem Kittel eingekleidet und ohne Auflagen und Einschränkungen. Ich konnte bei bestimmten Patienten, die um ihr Einverständnis gefragt worden waren, bei den Eintritts- und Konsultationsgesprächen dabei sein, auch bei den Ärzterapporten. Meine Beobachtungen habe ich in Berichten festgehalten und an Fortbildungsnachmittagen vorgelegt. Lange Zeit hatte ich nicht die Absicht, ein Buch zu schreiben, in das meine Erfahrungen auf der Station einfliessen würden.

 

Kommen wir zurück auf die Irritation.

 

Ich habe Patientinnen in verschiedenen Phasen ihrer Krankheitsgeschichte besuchen und sprechen können. Diese Gespräche sind mir sehr nahegegangen. Das mag dazu geführt haben, dass der Druck der Beobachtung und der Erfahrung Anlass des Schreibens wurde.

 

Wie entwickeln Sie Ihre Geschichte weiter?

 

Zu meiner Art des Schreibens gehört, dass ich den Erzählfluss lange gleiten, man könnte auch sagen wuchern lasse. Ich verliere mich beim Erzählen, verliere mich in den erinnerten und gefundenen Bildern. Und aus Bruchstücken, aus Fragmenten entwickelt sich langsam ein Text. Es ist ein stetiges Werden, ein Geöffnet- und Offensein. In diesem Erzählen ereignet sich oft Unerwartetes. Ich beginne nicht zu schreiben, weil ich eine bestimmte Botschaft habe oder eine bestimmte Geschichte aus der Vergangenheit erzählen möchte. Am Ende ist eine Geschichte erzählt, mag sein; vielleicht wird dabei auch etwas sichtbar, stellen sich Fragen, ergeben sich Irritationen, die den Leser angehen.

 

Die Wahrscheinlichkeit, dass eine Krebskrankheit tödlich verläuft, ist hoch.

 

Folgt man den Statistiken, ist die Sterblichkeit tatsächlich hoch. Das macht Angst. Noch schlimmer als die Angst – das habe ich in dieser Zeit begriffen – ist die Einsamkeit. In einem Drama von Sophokles gibt es einen griechischen Helden, Philoktet, den hatten seine Gefährten auf einer Insel zurückgelassen, weil der Gestank seiner Wunden nicht mehr zu ertragen war. Dieses Zurückgelassenwerden, die damit verbundene Einsamkeit, waren für Philoktet viel schlimmer als die Wunden. Als nach zehn Jahren Neoptolemos kam, um ihn als Kämpfer gegen Troja zurückzugewinnen, fühlte Philoktet das erstemal, dass seine Schmerzen geringer wurden. In den Gesprächen mit den Patientinnen kam dieses Verlassensein immer wieder zur Sprache, und immer wieder stellten sich ihnen die Fragen: «Werde ich auch als kranker Mensch akzeptiert? Bin ich den anderen noch zumutbar?»

 

Sie haben in Ihrem Manuskript nur selten das Wort «Brustkrebs» oder auch nur «Krebs» verwendet.

 

Das Wort «Krebs» kommt mehrere Male vor, aber nicht sehr häufig. Da stimmt Ihr Eindruck. Es wird ja auch in der Wirklichkeit wenig verwendet. Es ist so vorbelastet, dass es alles erschlägt. Jedes Wort ist ja ein Archiv an Bedeutungen. Bedeutungen, die historisch weit zurückgehen und bestimmte Vorstellungen hervorrufen. Wenn eine Frau mit der Diagnose Brustkrebs nach Hause kommt, dann schauen die Leute sie an wie eine Gezeichnete. Bekannte gehen ihr aus dem Weg, Ehen und Beziehungen brechen auseinander. Das wurde in Gesprächen oft erzählt. Schon die Bezeichnung einer Krankheit kann Ängste hervorrufen. In der Literatur, zum Beispiel bei Thomas Mann, gibt eine Lungenkrankheit den Protagonisten eine Art höhere Weihe, sie ist fast etwas Edles. Krebs hingegen wirkte schon immer abstossend und angsterregend. Das Gespräch darüber fällt schwer. Krebs wird als Krankheit nach wie vor tabuisiert.

 

Da gibt es etwa «Krankheit als Metapher» von Susan Sontag, «Mars» von Fritz Zorn oder «Eine Messerspitze Blau» von Anne Cuneo.

 

Ich kann kein Buch aus der Sicht eines Betroffenen schreiben. Aber ich kann über das schreiben, was Menschen betrifft. In meinen Büchern steht das Versehrtsein der Menschen im Vordergrund, die Einsamkeit, die Sprachlosigkeit, und die Frage nach der Begrenztheit und Endlichkeit unseres Daseins. Literatur erzählt von dem, was Menschen angeht, was ihre Existenz ausmacht. In einer extremen Situation, und eine solche ist die Krankheit, erfahren wir viel von den Menschen, von dem, was ihr Verhalten prägt. Darum ist die Literaturgeschichte voll von Krankengeschichten, von Hiob bis zu Thomas Bernhard. Von der Krankheit schreiben, handelt auch von der Krankheit Schreiben.

 

Wie beugen Sie dem Eindruck vor, auch Sie würden das Tabu akzeptieren, wenn die Personen in Ihrem Buch so auffällig selten das Wort «Krebs» in den Mund nehmen?

 

Ich wollte die Krankheit entmythologisieren, indem ich sie als Krankheit darstelle, als eine, die tödlich verlaufen, aber auch geheilt werden kann. Ich versuchte genau zu sein in der Beschreibung der ärztlichen Diagnose, der verordneten Therapien und des Krankheitsverlaufs. Entscheidend im literarischen Text ist nicht das, was ausgesprochen wird, sondern das, was im Kopf des Lesers entsteht, gerade auch als Begriff. Deshalb muss Literatur genau sein in Nuancen und Details.

 

Ihr Anspruch, den Krebs zu entmythologisieren, ist auch ein aufklärerischer. Betrachten Sie sich als gesellschaftlich engagierten Schriftsteller?

 

Ich glaube nicht, dass ich das bin. Nicht im Sinne der littérature engagée. Doch da ich in meinen Büchern den Prägungen nachgehe, denen jeder Mensch unterworfen ist, werden auch die Umstände sichtbar, die sein Leben bestimmt haben. Indem ich etwa in «Sommerwende» oder in «Augenblicke im Paradies» vom Schicksal einer Familie erzähle, schreibe ich auch über die Situation der Schweiz während des Zweiten Weltkriegs und über die Schweizer Flüchtlingspolitik. Ich wehre mich gegen die Wendung «aufklärerisch». Denn es geht mir in meinem Schreiben nicht darum, die Wirklichkeit zu dokumentieren, zu diskutieren oder zu reflektieren. Sondern ich möchte durch die Genauigkeit des Erzählens, von Figuren und ihren Lebenswegen, etwas sichtbar machen, auch Aspekte der Geschichte, die sie geprägt und bestimmt haben. «Es ist die Geschichte, die uns das Dach über dem Kopf raubt», sagt Uwe Johnson.

 

Kommen wir zurück zu «Nachzeit». Die von Ihnen mehrfach erwähnte Einsamkeit und Sprachlosigkeit angesichts der Diagnose Krebs findet eine Parallele in der früheren Liebesbeziehung der beiden Protagonisten. Auch in ihrer Beziehung gab es Tabus. Sie haben versäumt, über Entscheidendes zu sprechen. Das wird den beiden schmerzlich bewusst, als sie sich im Krankenhaus wiederbegegnen.

 

Wir stossen hier zu einem Motiv des Romans vor, das mich sehr beschäftigt, und das auch in meinen anderen Büchern immer wieder auftaucht: das versäumte, das nicht gelebte Leben. Oft sind es in meinen Geschichten die Männer, die auf Aufschub leben, die erst zu spät realisieren, was sie versäumt haben und dass einmal Versäumtes nicht zurückgeholt werden kann, nie mehr.

 

Dem männlichen Protagonisten in «Nachzeit» wird dieses Leben auf Aufschub in dem Moment bewusst, als er den Namen seiner Geliebten aus der Studienzeit auf der Liste der Neueinweisungen liest. Er ist auch der Ich-Erzähler der Geschichte. Die Frage nach den autobiographischen Bezügen drängt sich förmlich auf. 

 

An dieser Stelle möchte ich auf einen wichtigen handwerklichen Punkt kommen. Die Leute auf den Lesungen fragen mich oft: «Ist die Geschichte wahr?» und meinen damit, ob sie autobiographisch verbürgt sei. Meine Antwort ist dann: «Klar, in allem was wir Menschen tun, ist unsere Biographie enthalten, die Art, wie wir andern begegnen, wie wir uns bewegen und daher auch wie wir Schriftsteller schreiben.» Aber der Prozess des Schreibens ist komplexer. Es geht um die Darstellung des autobiographischen Erinnerten im Fiktiven, und zwar mit ästhetischen Mitteln, das heisst um den Versuch, Bilder für das zu finden, was gewesen sein könnte. Es ist die Aufgabe des Schriftstellers, das Erlebte, das Recherchierte und das Erfundene oder Phantasierte so ins Verhältnis zu setzen, dass im Buch eine neue Welt entsteht. Oft weiss er dann selbst nicht mehr so genau, wo das Erfahrene aufhört und das Fiktive anfängt.

 

Ich nehme an, dass das Publikum Ihrer Lesungen nach dieser Antwort nicht immer Zurückhaltung übt und in der Hoffnung weiterfragt, doch noch Konkreteres zu den autobiographischen Bezügen zu erfahren.

 

So ist es.

 

Wie erklären Sie sich die Hartnäckigkeit?

 

In der Literatur sind Erfahrungen, die alle Menschen angehen, – jetzt brauche ich dieses Wort – aufgehoben und in etwas Neuem aufgegangen. Wenn es uns Schriftstellern gelingt, diese oft schmerzlichen Erfahrungen mit künstlerischen, mit sprachlichen Mitteln zu gestalten, dann können die Leser etwas von sich in einem Buch erkennen. Das geht manchmal so weit, dass jemand nach der Lesung zu mir kommt und sagt, genau diese oder jene Figur in meinem Roman sei er. Ich vermute, die Frage, ob etwas wirklich so und so gewesen und wahr sei, hat hier ihre Wurzeln. Es gibt einen Satz von Walter Benjamin, in dem er sinngemäss sagt, dass das, was den Leser zum Buch ziehe, die Hoffnung sei, sein fröstelndes Leben an einer Krankheit oder an einem Tod zu wärmen, von dem er dort lesen könne.

 

Und doch bleibt der Held ein Fremder und ist sein Leben nicht unseres. Wenn ein Thema literarisch dargestellt wird, dann führt das zu Vieldeutigkeit. Etwas bisher vermeintlich Vertrautes bekommt eine neue, vielleicht befremdliche Perspektive. Bücher können daher verunsichern. Und ich frage mich, ob das Suchen nach dem wahren Kern, nach dem, was wirklich war, damit zusammenhängt, dass der Leser eine Eindeutigkeit zurückgewinnen möchte.

 

Ich denke, es gehört zu einer ernsthaft erzählten Geschichte, diese Offenheit zu wahren. Alles was wir schreiben, ist nur eine Möglichkeit, eine von vielen. Das Leben ist nicht schwarz oder weiss, sondern voller Ambivalenzen. Wir Schreibenden wissen das und sollten nicht so tun, als wären wir im Besitz der einen Wahrheit. In meinen Büchern versuche ich eine Möglichkeit durchzuspielen. Das Erzählte als Möglichkeit führt vor Augen, dass die Realität, die wir leben, auch eine andere hätte sein können. Und das ist nicht immer leicht zu ertragen. Auch nicht für uns Schriftsteller.

 

In der aktuellen Fassung von «Nachzeit» wird die Protagonistin als geheilt entlassen, doch ist damit nicht gesagt, ob der Krebs nicht wieder von neuem wächst. Ebenfalls offen bleibt, ob die beiden wieder als Liebespaar zusammenfinden oder sich ein zweitesmal aus den Augen verlieren. Keine Eindeutigkeit auch hier. 

 

Auch wenn wir alle diesen Wunsch nach einem Happy-End und Klarheit haben, das Leben ist nicht so. Wenn Literatur die Vieldeutigkeit wahrt, dann lässt sie Handlungsmöglichkeiten offen, gerade auch für den Leser. Dann findet der mündige Leser Platz für seine eigenen Erfahrungen, vielleicht auch seine Wünsche. Wenn ein Schriftsteller beginnt, diese Lücken zu füllen, dem Erzählten seinen Willen aufzuzwingen, dann gerät er in die Nähe der Trivialliteratur, bei der der Leser nach fünf Seiten weiss, wer sich findet und wie es ausgeht. Literatur, die an die Wurzeln geht, also «radikal» zu sein versucht, schliesst die Versöhnung zwar nicht aus, bietet sie aber auch nicht an. Ein offener Schluss wirft Fragen auf, lässt Irritation nachklingen. Brecht macht dies in einem Theaterstück dadurch deutlich, dass er einen der Schauspieler auftreten und sagen lässt: «Verehrtes Publikum, jetzt kein Verdruss; wir wissen wohl, das ist kein rechter Schluss. Verehrtes Publikum, los, such dir selbst den Schluss, es muss ein guter da sein, muss, muss, muss!»

 

Warten wir mit dem Suchen doch noch etwas und kommen wir auf den Mittelteil Ihres Manuskripts zu sprechen. Dort wird erzählt, wie sich das frühere Liebespaar das erstemal seit vielen Jahren wieder begegnet. Die beiden sprechen miteinander, ohne sich sehen zu können. Denn der Raum, in dem sie sich befinden, ist durch einen weissen Vorhang in der Mitte in zwei Bereiche geteilt, die jeweils durch eine eigene Tür betreten werden. Auf der einen Seite sitzt die kranke Frau, auf der anderen Seite der Gesprächstherapeut. 

 

Damit kommen wir wieder zur Ausgangssituation dieses Buches, als mir deutlich wurde, wie verlassen und auch ausgeliefert sich die Patientinnen fühlen und wie schwer es ihnen fällt, sich mitzuteilen. Beim Schreiben war daher die Dialogizität, wie es in der medizinischen Fachsprache heisst – ein schreckliches Wort –, zwischen der Kranken und ihrer Umgebung, den sogenannt Gesunden, ein wichtiger Aspekt. Der Gesprächstherapeut, der die Patientin von früher kennt, fragt sich: «Wie finde ich in einer so aussergewöhnlichen Situation in ein Gespräch, das nicht ausgrenzt?»

 

Und als Schlüsselszene dafür haben Sie das Bild mit dem Vorhang geschaffen, hinter dem die Frau sitzt, einsam wie Philoktet auf seiner Insel? 

 

Der durch den Vorhang unterteilte Raum ist keine eigene Erfindung. In Amerika wird das blind meeting eingesetzt, in der Schweiz wird die Einführung diskutiert. Sigmund Freud hatte diese Möglichkeit ursprünglich auch für das therapeutische Gespräch erwogen, sich dann aber für die vom Therapeuten abgeschiedene Couch entschieden, eine analoge Situation. Es geht bei dem blind meeting vor allem darum, dass der Patient selber bestimmen kann, ob und, wenn ja, wann der Vorhang zurückgezogen wird. So gesehen ist Meret, die Frau hinter dem Vorhang, in einer besseren Situation als Philoktet. Sie kann bei geschlossenem Vorhang ihr Ausgeliefertsein, zumindest für die Zeit des blind meeting, aufheben, kein musternder Blick geht in die offene «Wunde». Und sie kann ihre Verlassenheit aufheben, indem sie den Vorhang zurückzieht. Übrigens verraten auch die Blogs der Krebspatienten, wie gross der Wunsch nach anonymem Gespräch ist.

 

Apropos Ausgeliefertsein. Wie ausgeliefert fühlt sich ein Schriftsteller, der eine Geschichte in langen Stunden der Zurückgezogenheit geschrieben und über Jahre mit seinen Figuren und ihrem Schicksal gelebt hat, wenn er dann alles aus der Hand geben muss und das Buch irgendwann in den Buchgeschäften liegen sieht? Wenn also auch das Buch ausgeliefert ist?

 

Es gibt bei mir fast panis

che Momente, wenn es soweit ist. Ich korrigiere bis zur letzten Minute. Inzwischen weiss das mein Verlag und schickt mir den zweiten Lauf der Korrekturfahnen nicht mehr. So werde ich gezwungen, ein Ende zu finden. Ein Text ist für mich nie fertig, er ist immer wieder neu im Werden. Aber als Buch hat er dann seinen eigenen Weg zu gehen, das ist eine Form von Abschied. Zurück bleibt eine Leere.

 

Statt Stolz des Gipfelstürmers Leiden am Horror vacui?

 

Diese Leere ist wirklich eine schwierige Situation. Man ist unterwegs im Schreiben, setzt sich erzählend mit sich und der Welt auseinander, lebt, fühlt mit seinen Figuren, sieht mit ihren Augen, spricht mit ihren Worten, und dann bricht dieser Diskurs plötzlich ab. Während des Schreibens habe ich immer das Gefühl, dass noch etwas fehlt, dass noch etwas ergänzt oder hinzugefügt werden muss. Selbst wenn sich dieses Gefühl – beim Gelingen des Romans – verlieren sollte, tritt der Mangel nach dem Druck eines Buches doch wieder zutage. Deshalb ist der Satz von Beckett im «Namenlosen» so wichtig für mich: «Aber der Diskurs muss weitergehen.»

 

Lesen Sie Ihre Bücher wieder, wenn sie einmal gedruckt sind?

 

Ich habe keines meiner Bücher, wirklich kein einziges, wieder ganz gelesen. Zwar lese ich an den Lesungen stellenweise aus den Büchern vor, aber das ist etwas anderes, als ein Buch von Anfang bis zum Ende konzentriert für sich zu lesen. Auch beim Vorlesen fällt mir mancher Mangel auf, oder eine sprachliche Eigenheit, die mich inzwischen stört. Und bei gewissen inhaltlichen Entscheidungen denke ich dann, dass ich auch eine andere Möglichkeit hätte durchspielen können.

 

Wie weit sind Sie mit Ihrer Arbeit an «Nachzeit»?

 

Die Geschichte, der Ablauf ist ausgelegt. Ich denke, dass ich in den nächsten Monaten fertig werde. Noch versuche ich den Zwang zu unterlaufen, irgendwo beginnen und enden zu müssen. Gerade arbeite ich an den Feinheiten der inneren Verknüpfung, der Kohärenz der Kapitel, kurzum der Ökonomie des Erzählens. Aus dieser Arbeit ergibt sich dann oft die Entscheidung über den Anfang und das Ende. Aber ich arbeite auch an dem, was ich Sinnlichkeit im Text nenne. Die eher reflexiven Stellen müssen in Sinnlichkeit aufgelöst werden. Ich meine damit, dass im Roman als erzählender Form alles mittreiben kann: historische Dokumente, wissenschaftliche Abhandlungen, Wegbeschreibungen. Aber all das sollte nicht referiert, sondern muss in sinnlichen Situationen dargestellt werden. Das ist Arbeit.

 

Das Ausgeliefertsein der Krebspatientinnen war die Irritation, die Sie zum Schreiben führte. Dieses Ausgeliefertsein, so mein Eindruck, wird in Ihrem Buch dadurch verstärkt, dass Sie eine von Männern dominierte Medizin schildern und die Geschichte der Frau aus der Ich-Perspektive eines Mannes erzählen. Ist dies nicht ein riskantes Unterfangen, das dazu führen könnte, dass die Frau sowenig zu Wort kommt wie Philoktet auf seiner Insel?

 

Philoktet erfährt in dem Moment eine Stillung der Wunden und kommt zu Wort, als Neoptolemos die «richtige» Frage stellt. Es ist jene Frage, die Empathie und Anteilnahme zeigt. Denn hier setzt das ein, was heute in der medizinischen Behandlung so wichtig ist: die Wirkung des Gesprächs, das befreit, aktiviert und ebenso zur Heilung beiträgt wie die durch Spitzentechnik ausgeklügelten Programme der Radio-Onkologie. In meinem Buch ist das ein wichtiges Thema. So ist es nur folgerichtig, dass die Patientin hinter dem Vorhang hervortritt und sich als Person einbringt, sich Raum verschafft mit ihren Ängsten und mit ihren Hoffnungen. Dem verdutzten Therapeuten geht es dabei wie manchmal dem Schriftsteller: eine Figur ist da mit ihrem Leben und will nicht geführt, sondern erzählt sein. «Alles andere ist uns schnuppe, Genosse Schriftsteller», ruft eine Figur in Uwe Johnsons «Jahrestagen» dem Autor zu.

 

Ging es Ihnen so mit der Patientin Meret?

 

Ja, wir können mit einer Figur nicht einfach tun, was wir wollen, sonst sucht sie uns heim bis in unsere Träume. Meret sagt: «Ich bin da, ich bin krank, da ist keine Zeit für Schattenspiele hinter dem Vorhang.» Der Therapeut im Buch kapiert: Meret ist eine eigene Persönlichkeit mit ihrer Geschichte, mit ihrer Krankheit. Und der Schriftsteller hinter der Figur des Therapeuten kapiert das auch. Und ist beschämt.

 

Die Figur des Therapeuten ist der Ich-Erzähler. Der Schriftsteller dahinter sind Sie. Sie selbst schämten sich also, als dem Therapeuten ein Licht aufging?

 

Es ist wichtig, immer wieder zu betonen, dass ein Ich-Erzähler ebenfalls eine Figur ist, die der Autor einführt, konstituiert und darstellt. Der Ich-Erzähler ist nicht dieselbe Person wie der Autor, er ist eine Figur wie alle anderen auch. Und ebenso wie alle anderen Figuren, entwickelt er ein Eigenleben. Ich denke, das ist eine Erfahrung, die man als Schreibender immer wieder macht. In einem bestimmten Stadium des Schreibens wirken das Verhalten und die Neigungen der Figuren auf den Erzähler zurück. Sie werden in einem gewissen Sinn zu Partnern.

 

Wie beeinflusste dieses Selbständigwerden der Figuren, Merets und des Therapeuten, die Erzählstruktur von «Nachzeit?

 

Die Figur Meret beanspruchte mehr Raum, als der vom Autor vorgeschobene Ich-Erzähler ihr ursprünglich zu gewähren bereit war. Daher wechselte ich die Erzählform von der Ich- in die Er-Perspektive.

 

Wollen Sie damit sagen, Sie haben die rund 200 Seiten, die ich bisher kenne, von der ersten in die dritte Person umgeschrieben?

 

Ja. Das war meine Arbeit der letzten sechs Wochen.

 

Und was ist mit der Erzählung dabei passiert?

 

Wenn wir uns der Sprache, dem Erzählen überlassen, verändert sich auch das Erzählen. Das ist ein Stück weit auch ein Abenteuer. Es entsteht etwas Neues, in dem auch der Schreibende, der Autor, sich immer wieder selber neu suchen muss.

 

Werke u.a.:
«Liebesarchiv». Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2007; übersetzt ins Bulgarische und Chinesische
«Als hätte die Stille Türen». Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2005
«Und Ruth». Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2001
«Ombra». Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1997
«Sommerwende». Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1989

Auszeichnungen u.a.:
Werkpreis der Schweizerischen Schillerstiftung (2008 und 2001)
Werkjahr der Stadt Zürich (2007)
Literaturpreis des Kantons Solothurn (1999)

Foto: S.-V. Renninger

Urs Faes wurde 1947 in Aarau geboren und verbrachte seine Jugend im aargauischen Suhrental. Er studierte Geschichte an der Universität Zürich und promovierte mit einer Arbeit zum Kolonialismus in Afrika. 

 

Urs Faes lebt als freier Schriftsteller in Zürich und im umbrischen San Feliciano.

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