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Die Cypherpunks hatten recht
Alexis Roussel, zvg.

Die Cypherpunks hatten recht

Der Überwachungskapitalismus hat die digitale Sphäre von den Idealen einer dezentralen, anonymen Beteiligung abgebracht. Glücklicherweise verfügt die Menschheit heute über die Mittel, das zu korrigieren.

 

Heute steckt die Menschheit in einer Falle. Gefangen von technischen Werkzeugen, die politisch befleckt sind. Wie ist es so weit gekommen? In den Jahren 2003 und 2005 war ich im Rahmen meiner ­Tätigkeit für die Vereinten Nationen an der Organisation des Weltgipfels zur Informationsgesellschaft beteiligt. Ich erlebte von innen heraus, wie sich die geopolitischen Kräfte, die wir auch heute sehen, schon früh abzeichneten. Damals stritten die Staaten um die Kontrolle des Internets und brachten die Internet Corporation for Assigned ­Names and Numbers (ICANN) an den Rand ihrer Auflösung. Nach der Beinahezerstörung des Systems zur Verwaltung der Domain-Namen verlagerte sich die Kampfzone auf die Kontrolle über soziale Netzwerke und nun auf die Entwicklung von elektronischen Identitäten, Gesundheits­daten und zentralisierten digitalen Währungen.

Bei diesen Gipfeltreffen fragten sich alle Regierungsvertreter, auch diejenigen aus demokratischen Ländern, wie sie ihre Bürger besser erreichen und kontrollieren könnten. Keiner sah in der digitalen Transformation eine Chance, die eigenen Institutionen neu zu gestalten. Keiner sah darin eine Möglichkeit, den Individuen ein besseres, freieres und informierteres Leben zu ermöglichen. In den USA war der Überwachungskapitalismus bereits in seiner Entstehung: Unternehmen und Behörden entwickelten gemeinsam Instrumente zur Marktkontrolle und Datenauswertung – sie suchten lediglich noch nach einer praktikablen Möglichkeit, diese riesigen Datenmengen zu Geld zu machen. Persönliche Daten wurden zu einer Ware, die als «neues Öl» des 21. Jahrhunderts gehandelt wurde.

Ein dystopischer, noch besorgniserregenderer Techno-­Überwachungsstaat entwickelte sich in China, wo die Kon­trolle durch Überwachung von Anfang an das Ziel war. Es wurden Instrumente entwickelt, die sich auf die massenhafte Sammlung von persönlichen Daten und Metadaten konzentrierten, um die Gesellschaft bewusst in Richtung einer stärkeren zentralen Kontrolle zu lenken. Das frühe Konzept des «Social Scoring» wurde entwickelt. In China werden personenbezogene Daten als Teil des ­Gemeinwohls betrachtet, als etwas, das dem Staat gehört. Er trägt die Verantwortung, die Daten zu verwalten oder zum Wohle der Allgemeinheit zu nutzen. Auch wenn dies einigen Personen schaden könnte, ist es das wert – so lautet diese Argumentation.

Zwischen den USA und China haben sich die Behörden und Eliten unserer europäischen Staaten, die schon lange in einer Identitätskrise stecken, von den Versprechungen des Überwachungskapitalismus blenden lassen. Auch sie versuchen, die Kontrolle über ihr Schicksal zu erlangen. Doch je mehr sie dies versuchten, desto mehr scheint ihnen die Kontrolle zu entgleiten. Die Europäer hofften, den gleichen wirtschaftlichen Aufschwung wie der US-Tech-Sektor zu erreichen. Einige bewunderten jedoch auch die Effizienz der chinesischen Technologie. Bis zum heutigen Tag steckt Europa zwischen diesen verschiedenen Überwachungsuniversen fest. Eines ist klar: Der Import US-amerikanischer und chinesischer Technologien bringt nicht nur eine technologische Abhängigkeit mit sich, sondern auch das damit verbundene politische Modell. Europa läuft Gefahr, die Kontrolle über sein eigenes Schicksal zu verlieren.

Ein neues digitales Leben

In seltener Harmonie haben sich fast alle Menschen die ­digitale Sphäre als Mittel zur Verbindung untereinander zu eigen gemacht, angetrieben von dem tiefen Wunsch zu kommunizieren. Für soziale Tiere wie uns bietet das Internet die Möglichkeit, sich auf Augenhöhe mit anderen auszutauschen. Die Kommunikation ist heute fast völlig un­abhängig von der Entfernung. Wir leben heute bereits stark ein digitales Leben.

Diese digitale Umgebung ist so mächtig, dass sie sich überall ausbreitet – in unseren Familien, in unseren Gemeinschaften, an unseren Arbeitsplätzen. Niemand kann sich dem ganz entziehen. Die Existenz jedes einzelnen wird heute in Datenbanken erfasst, oder mindestens in den ­Adressbüchern seiner Verwandten, wodurch Metadaten für alle seine Handlungen entstehen.

Diese neue Lebensweise entwickelt sich in den Netzen, die für das Web geschaffen wurden. In ihnen sind wir ­völlig transparent. Alles kann aufgezeichnet werden, für immer. Was uns dieses digitale Leben bietet, ist viel bedeutender, als die meisten von uns glauben: Wir sind Menschen im Wandel, die eine neue Form der digitalisierten Gesellschaft aufbauen.

Doch diese idyllische Vision wird durch die Gier des Überwachungskapitalismus verdunkelt, der sich von diesem ungeschützten, transparenten und exponierten digitalen Leben ernährt und es so gefährdet. Durch das Sammeln von Daten und Metadaten, das Erstellen von Profilen und die Nutzung dieses weitreichenden Wissens stellen die neuen Instrumente nicht nur eine Bedrohung für die Privatsphäre dar, sondern auch für die Autonomie des einzelnen wie auch für seine Fähigkeit, informierte und freie Entscheidungen zu treffen.

Das digitale Leben schützen

Weiterhin werden die Gefahren des Überwachungskapitalismus von vielen nicht wahrgenommen: Die schiere Menge der ständig gesammelten Metadaten und deren Verwendung wird drastisch unterschätzt. Doch der einzelne hat kaum eine Wahl. Der Verzicht auf die modernen Kommunikationsmittel würde bedeuten, dass die Menschen von vielen sozialen Interaktionen abgeschnitten wären. Viele sind bereit, den Missbrauch ihrer Privatsphäre in Kauf zu nehmen, solange sie dafür kostenlose Dienste und Vorteile erhalten. Insgesamt herrscht in der politischen Opposition gegen den Überwachungskapitalismus ein grosses Gefühl der Erschöpfung und Entmutigung.

In der frühen Internet-Ära, in den 1990er-Jahren, gab es Bewegungen, die voraussahen, wie unsere webbasierte Gesellschaft aus dem Ruder laufen könnte. Zu ihnen gehörten die Kryptoanarchisten und Cypherpunks der ersten Generation: John Perry Barlow, Eric Hughes, Timothy C. May und viele andere. Unverblümt schlugen diese Autoren und Programmierer die Entstehung der ersten humanistischen politischen Ideologie in der digitalen Sphäre vor. Sie gingen sogar so weit, dass sie die Autorität der Nationalstaaten über die digitale Sphäre völlig ablehnten. Ihre ­Vision ist in Eric Hughes’ «A Cypherpunk’s Manifesto» festgehalten: «Wir, die Cypherpunks, widmen uns dem Aufbau anonymer Systeme. Wir verteidigen unsere Privatsphäre mit Kryptografie, mit anonymen Mail-Weiter­leitungssystemen, mit digitalen Signaturen und mit elek­tronischem Geld.»

In Europa und in den USA gibt es wichtige Bewegungen, die für das Recht des einzelnen auf Privatsphäre kämpfen – in dieser Hinsicht führen sie das geistige Erbe der ursprünglichen Cypherpunks fort. Die Befürworter der digitalen Privatsphäre hatten zwar einige Erfolge, konnten aber bisher weder eine grosse Mehrheit der Bevölkerung noch die Gesetzgeber überzeugen. Auf Argumente gegen die digitale Überwachung reagieren die meisten Menschen nur mit einem Achselzucken und dem ikonischen Satz: «Wer nichts zu verbergen hat, hat auch nichts zu befürchten.» Was die Mehrheit nicht begreift, ist folgendes: Die zunehmende Überwachung der digitalen Sphäre gefährdet nicht nur unsere Privatsphäre – sie bedroht auch unsere Autonomie und die Fähigkeit, Entscheidungen zu treffen. Letztlich steht unsere digitale Integrität auf dem Spiel.

 

«Die Befürworter der digitalen Privatsphäre

hatten zwar einige Erfolge,

konnten aber bisher weder eine grosse Mehrheit

der Bevölkerung noch die Gesetz­geber überzeugen.»

 

Das digitale Leben auskosten

Anstatt sich mit dem vermeintlichen Schicksal als digitale Sklaven abzufinden, gibt es endlich eine starke Alternative: Indem wir uns die Visionen der Cypherpunks zu eigen machen und unser digitales Selbst auf autonome und selbstbewusste Weise gestalten, können wir einen Weg in eine neue Zukunft einschlagen. Diese Zukunft ist nicht nur idea­listisch. Sie bringt auch ein tragfähiges Geschäfts­modell mit sich. Und wir befinden uns bereits auf dem Weg dorthin.

Der Schlüssel zu einer besseren Zukunft liegt in der Kryptografie: Sie ist ein so leistungsfähiges Werkzeug, dass sie bis Ende der 1990er-Jahre streng auf die militärische Nutzung beschränkt wurde. Die Kryptografie ist eine Technologie, die es uns ermöglicht, Daten zu verbergen. Aber sie erlaubt auch, ein gewisses Mass an Sicherheit in dieser digitalen Umgebung zu schaffen, in der unsere mensch­lichen Sinne so leicht ausgetrickst werden können.

Dank einer gelungenen Mischung aus Kryptografie, Netzwerken und Spieltheorie ist es den Ingenieuren gelungen, eine der bisher leistungsfähigsten technischen Innovationen zu entwickeln: Bitcoin. Dies hat die Forschung im Bereich der Kryptografie erweitert und eine neue Wirtschaft entstehen lassen. Wir erleben das Aufkommen der dreifachen Buchführung. Unser gesamtes Finanzsystem wird von Grund auf umgestaltet. Kryptowährungen liefern uns die Wirtschaftsmodelle, auf die unser digitales Selbst gewartet hat. Wir können nun innerhalb eines neuen, vertrauenswürdigen Rahmens handeln, der keine Kontrollen durch Dritte erfordert, um den Wert unserer Transaktionen zu erfassen. Wir können nun den derzeitigen Geschäftsmodellen entkommen, die aus den persönlichen Daten, die wir kostenlos zur Verfügung stellen, einen Wert schöpfen. Wir können Geschäftsmodelle oder Arbeits­formen entwickeln, bei denen wir voll von dem von uns
geschaffenen Wert profitieren können, ohne befürchten zu müssen, dass ihn ein Unternehmen oder eine Behörde abschöpft. Wir können uns neue Arbeits- und Kollabo­rationsmethoden und neue Formen der Zusammenarbeit vorstellen, wie etwa dezentralisierte autonome Organisationen.

Unser bestehendes digitales Leben ist vollständig nachvollziehbar, alle unsere Bewegungen und Verhaltensweisen werden überwacht und monetarisiert. Zahlreiche Gesetze zwingen uns, Identitäten und viele Aspekte unseres Lebens offenzulegen. Mit Hilfe von Gesetzen zur Bekämpfung der Geldwäsche bis hin zu Gesetzen zur Überwachung der Telekommunikation – ganz zu schweigen von den üblichen Verwaltungsverfahren – sammeln private Unternehmen und Regierungen eine unnötig grosse Menge an Daten. Aber wir können uns die gleichen Interaktionen zwischen Menschen heute auch ohne die Extraktion all dieser Daten vorstellen.

Die Kryptografie ist mit dem Menschenrecht auf Anonymität verbunden. Sie ist der Grundstein für eine neue Wirtschaft, die auf Instrumenten wie Kryptowährungen, anonymen Netzwerken und digitalen Signaturen aufbaut. Unser Unternehmen Nym entwickelt das grösste jemals gebaute «Mixnet»: Diese globale Infrastruktur wird es Millionen von Menschen ermöglichen, anonym zu kommunizieren. Viele andere arbeiten an Projekten, die das Finanzwesen, den Austausch von Werten und menschliche Interaktionen neu definieren, und zwar in einer Weise, die das digitale Individuum und seine Autonomie respektiert und die Privatsphäre schützt.

All diese Instrumente sind für die bestehenden Machtstrukturen äusserst störend. Durch die Neudefinition der Konsensmechanismen fühlen sich viele Institutionen zu Recht in ihrer Existenz bedroht. Einige reagieren mit Angst und versuchen, die Nutzung dieser neuen Instrumente einzuschränken. Manche Regulierungsbehörden rechtfertigen das Verbot von Peer-to-Peer-Technologien mit dem Ziel, den einzelnen zu schützen – ohne zu verstehen, dass solche Werkzeuge genau das sind, was Sicherheit vor mächtigen Gegnern bringt.

 

«Durch die Neu­definition der Konsensmechanismen

fühlen sich viele Institutionen zu Recht

in ihrer ­Existenz bedroht.»

 

Wahrung der digitalen Integrität

Es entsteht gerade eine Gesellschaft ohne die Notwendigkeit, persönliche Daten zu sammeln, eine Gesellschaft, in der ein erneuerter Gesellschaftsvertrag es der Menschheit ermöglicht, nicht nur ihr körperliches oder geistiges ­Wohlbefinden, sondern auch ihre digitale Integrität zu schützen. Mit Hilfe der Kryptografie bauen wir anonyme Systeme auf, die eine echte Privatsphäre ermöglichen. Kryptowährungen werden es jedem ermöglichen, den immensen Wert unseres vernetzten, digitalen Ichs zu nutzen. Diese neue digitale Welt wird menschlicher sein, und sie wird die Innovation in ungeahnte Sphären vorantreiben. Die Werkzeuge, die wir dazu brauchen, sind bereits weithin verfügbar. Wir müssen nur lernen, sie als Individuen und als menschliche Spezies zu nutzen. Sobald wir unsere digitale Menschlichkeit akzeptieren, können wir unsere neue digitale Gesellschaft aufbauen. Helfen Sie uns ­dabei.


Aus dem Englischen übersetzt von Daniel Jung.

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