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Die Bundesstaatsgründung war nicht der grosse Bruch
Daniel Speich Chassé, zvg.

Die Bundesstaatsgründung war nicht der grosse Bruch

Auch nach 1848 blieben die Kantone die Hauptakteure. Der Bund war bis zum Ersten Weltkrieg für die Modernisierung der Schweiz wenig relevant.

Die Bundesstaatsgründung von 1848 hat die Schweiz nachhaltig geprägt. Aber aus der Perspektive der Kantone stellte die Gründung des Schweizerischen Bundesstaats keinen wesentlichen Einschnitt dar.1 Es handelte sich mehr um eine feine Anpassung der Zusammenarbeit zwischen souveränen Körperschaften. Diese fiel zufällig in das Jahr 1848 der bürgerlichen Revolutionen in Europa. Deshalb strahlte der Verfassungsakt weit aus. Aber was genau entstand damals im Erfahrungshorizont der Eid­genossenschaft, der auf das 14. Jahrhundert zurückreicht? Und wie modernisierungstauglich war das neue Konstrukt?

Das Jahr 1848 ist zum Angelpunkt von unterschiedlichen teleologischen, das heisst auf ein historisches Ziel ausgerichteten Narrationen gemacht worden. Drei Erzählstrategien lassen sich unterscheiden. Die erste hat versucht, 1848 im Rückgriff auf das Mittelalter unsichtbar zu machen. Das Gründungsdatum des modernen Staatswesens liege um das Jahr 1300, nicht 1848. Die zweite Erzählstrategie verstand 1848 als eine bürgerliche Revolution und machte das Datum zur europaweit einzigartigen Vollendung der bürgerlichen Dynamik gegen den Feudalismus. Und die dritte Deutungsweise mass die Errungenschaften von 1848 an der späteren Ausgestaltung eines modernen Wohlfahrtsstaates, die im Vergleich zu den europäischen Nachbarnationen lange eher schwach blieb.

«Die Ausgaben des Bundes blieben zunächst bescheiden, stiegen ab den 1870er-Jahren allmählich und begannen ab circa 1914 rasch zu wachsen.»

Als die moderne Schweizer Geschichtsschreibung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstand, blickte sie nicht auf 1848, sondern erfand 1291 als Gründungsdatum der Schweizerischen Eidgenossenschaft. Der Rückblick auf eine imaginierte Vergangenheit war damals wichtig für das moderne Projekt der Nationalstaatsgründung. So konnte den tiefen inneren Brüchen eine Einheitsvision gegenübergestellt werden.

1848 sandten liberale Beobachter aus Deutschland, Grossbritannien, Frankreich und den USA euphorische Glückwünsche an die Adresse der Eidgenossenschaft. Die Schweiz wurde zum Asylland von politisch verfolgten Liberalen aus allen umliegenden Ländern.

1848 und die Geschichte der Kantone

Aber im internationalen Vergleich zeigt der Blick auf die Inklusionspotenziale der Schweizer Staatlichkeit kein sonderlich gutes Bild. Die politisch-rechtliche Programmatik der bürgerlichen Revolution von 1848, wonach alle Menschen frei und gleich zu behandeln seien, wurde ihren eigenen Ansprüchen erst 1990, das heisst erst nach 142 Jahren gerecht, als das Bundesgericht auch die Appenzeller Frauen in den politischen Körper hineinzwang. Andere Bevölkerungsgruppen wie etwa die Fahrenden blieben ebenfalls lange diskriminiert. Die 1848 geschaffene Bundesbehörde war zunächst stark freiheitsorientiert. Im 20. Jahrhundert wirkte sie dann mit Sozialwerken wie der AHV auf die Modernisierung der sozialpolitischen Gesetzgebung in den Kantonen hin und förderte so landesweit auch die Gleichheit der Menschen.

Wenn heute die Verfassung von 1848 gefeiert wird, ist zu fragen, inwiefern mit dem damals gegründeten Bundesstaat eine nationale Modernisierungsmaschine entstand, die das Land insgesamt vorwärtsbrachte. Auch ist zu fragen, ob es einen nationalen politischen Kollektivakteur gab, der die Bundesstaatsgründung als sein ureigenes Projekt erkämpfte. Und was war die Bedeutung der neuen politischen Ebene für die Gemeinden und die Kantone?

In den Bereichen der Verkehrsinfrastruktur und der Bildung ging die Modernisierung der Schweiz nach 1848 zunächst ganz klar von den Kantonen aus und nicht vom neuen Bundesstaat. Das gilt auch für die Bereitstellung von Energie und im Bankenwesen.

Die Gesamtausgaben des jungen Bundesstaats lagen bis 1857 unter dem Budget des Kantons Bern, der teure Strassen ins Land legte und schon 1834 sowohl eine neue Universität als auch eine Kantonalbank aufzubauen begonnen hatte. Die Einnahmen des Bundes beschränkten sich bis zum Ersten Weltkrieg auf die Aussenzölle. Seine Ausgaben blieben zunächst bescheiden, stiegen ab den 1870er-Jahren allmählich und begannen ab circa 1914 rasch zu wachsen. Mit 60 Prozent war dabei die Landesverteidigung stets der wichtigste Posten. Der Bund war bis zum Ersten Weltkrieg keine wichtige Modernisierungsagentur in der Schweiz.

«Der Bund war bis zum Ersten Weltkrieg keine wichtige

Modernisierungsagentur in der Schweiz.»

Die Verfassung von 1848 kann als das Produkt einer «Schweiz des Freisinns» gesehen werden, d.h. als der erfolgreiche Aufbau von neuen Staatsstrukturen durch eine Wirtschaftselite, für die der Zürcher Alfred Escher exem­plarisch steht. Zu fragen ist aber, warum diese Player nach 1848 keine gestaltungsfreudigeren Bundesbehörden schufen, sondern den Kantonen in allen innenpolitisch wichtigen Politikfeldern die Macht überliessen. Bemerkenswert ist ferner, dass die Partei der Katholisch-Konservativen dem neuen Staatsprojekt nicht mehr Widerstand entgegenbrachte. Die neuen eidgenössischen Räte scheinen die Entscheidungsträger in den unterlegenen Gebieten kaum gestört zu haben. Der kurze Bürgerkrieg von 1847/48 erzeugte mittel- und langfristig jedenfalls nur geringe Friktionen im nationalen Politikleben.

Vermutlich waren die Entscheidungen in den neuen Bundesbehörden aus der Perspektive der souveränen eidgenössischen Stände nach 1848 zunächst gar nicht so wichtig. Viel wichtiger war für Akteure wie Escher der Nutzen, den er für seinen Kanton Zürich aus der neuen Bundesebene der Politik für seine regionalen und persönlichen Anliegen ziehen konnte. Weder seine Eisenbahn- noch seine Bankenpolitik waren auf das nationale Interesse ausgerichtet, sondern stets von Zürich aus gedacht. Freilich ergab sich im Mehrebenensystem mit der Zeit eine gewisse Konvergenz. Oder anders gesagt: Was für Zürich gut schien, diente auch der Schweiz – und umgekehrt.

«Vermutlich waren die Entscheidungen in den neuen Bundesbehörden aus der Perspektive der souveränen eidgenössischen Stände nach 1848 zunächst gar nicht so wichtig.»

Kantonale Handlungslogik

«Ce qui est stupéfiant durant les années 1840, c’est de voir à quel point les enjeux nationaux sont utilisés pour conquérir le pouvoir dans les cantons.»2 Dieser Beobachtung des Genfer Historikers François Walter ist zuzustimmen. Die kantonale Handlungslogik hat die Schweizer Geschichte weit über das Gründungsdatum der modernen Eidgenossenschaft hinaus geprägt.

Der Einschnitt von 1848 ist wie die Einschnitte von 1798, 1803 und 1815 als eine Revision der interkantonalen Verbindlichkeiten zu lesen. Diese Zäsuren waren jeweils grundsätzliche Änderungen der Art und Weise, in der die Kantone untereinander kommunizieren. Viel mehr gibt das Datum 1848 nicht her. Die moderne Schweiz entstand erst viel später schrittweise im Nachvollzug ihrer vermeintlichen Gründung gemäss dem internationalen Wandel in Sachen «Good Governance». Dabei blieben die Kantone erstaunlich lange die entscheidenden Akteure.

  1. François Walter: «La création de la Suisse moderne (1830–1930)». ­Histoire de la Suisse, Band 4, Neuenburg 2010, S. 30.

  2. Dieser Beitrag fasst Überlegungen aus der folgenden Publikation ­zusammen: Daniel Speich Chassé: «Die Schweizer Bundesstaatsgründung von 1848: ein überschätz-ter Bruch?», Schweizerische Zeitschrift für ­Geschichte (3), 2012, S. 405–423.

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