Eine historische Nacht

Ein korpulenter Sportreporter kommentiert ein Eishockey-Finalspiel. Doch es wird nicht der Sport sein, der an diesem Abend Geschichte schreibt.

Eine historische Nacht
Illustration von Sascha Düvel.

Der Bus hält, ich springe raus. 105 Kilo landen zitternd auf der Erde. Der Himmel ist grau. Der Bus fährt weiter. Niemand hat mich gesehen.

Bauschutt knirscht unter meinen Füssen. Hier wird immer irgendetwas gebaut. Immer stehen hier irgendwelche Bagger, Lastwagen, Betonmischer rum. Nur Menschen sieht man keine. Postapokalyptische Architektur. Die bauen schon für eine Zeit, wenn es keine Menschen mehr gibt.

Je grauer der Ort, desto mediterraner die Strassennamen. Florenz-Strasse, Rimini-Strasse, Barcelona-Strasse. Tatsächlich sehen die Strassen hier im Güpf-Areal alle gleich aus. Nämlich nach industrieller Leere.

Nach ungefähr zwanzig Schritten, na ja, in meinem Fall sind es wohl ein paar mehr, taucht unverhofft «Harrys Kebab» auf. Hier gibt es den besten Döner der Stadt. Wirklich? Nein. Aber jeder behauptet doch, dass es bei ihm um die Ecke den besten Döner, die beste Pizza, die besten Fritten gibt. Man hat ja keine andere Wahl. Das ist wie mit den Strassennamen. Das wirkliche Leben findet anderswo statt.

Ich bestelle einen Döner und lasse ihn mir in Alufolie einpacken. Zweimal. Denn ich werde ihn erst später essen. Trotz der Folie wird der Döner dann kaum noch warm sein, manche Teile werden bereits vollständig erkaltet sein. Dreimal die Woche ist kalter Döner mein Abendbrot. Ich habe mir auch schon eine Spinat-Pita gekauft, bin damit aber nicht glücklich geworden. Die Spinatfetzen klebten mir danach zwischen den Zähnen und störten mich beim Sprechen. Und sprechen muss ich viel. Ich bin nämlich Sportreporter.

Als ich das Sendehaus betrete – eine ehemalige Chemiefabrik, die sanft renoviert wurde, das heisst, man hat die Wände gestrichen und überall Polstergruppen aus schwarzem Leder und/oder Zimmerpflanzen der Modegattung Monstera reingestellt –, kommt mir als erstes Nadine Zumthor entgegen. Sie moderiert den Fussball-Talk mit dem einprägsamen Namen «Goal», das Flaggschiff des Senders. Ausserdem sitzt sie im Verwaltungsrat, sie ist mir also karrieretechnisch ungefähr zehn Meilen voraus, und so bewegt sie sich auch. Der Schritt frei ausschwingend dynamisch und nicht so urwüchsig stampfend, als wolle er die Erde dafür bestrafen, dass sie sich unter ihm befindet.

«Hopp Odi!», ruft sie mir fröhlich zu.

Sie glaubt offenbar immer noch, dass ich beim Skifahren bin. Kein Wunder. Schliesslich habe ich es ihr selber erzählt. Beim Neujahrsapéro neulich war sie schon leicht angeheitert auf mich zugekommen.

«Sie müssen neu sein. Ich habe Sie hier noch nie gesehen.»

«Stimmt», sagte ich, obwohl ich schon seit vier Jahren für den Laden arbeite.

«Und wo sind Sie?»

«Beim Skifahren», sagte ich.

Skifahren klingt so gut. Klingt so einfach. Es ist der Stolz unseres Landes. Unsere Vergangenheit und Zukunft. Es klingt ein bisschen wie das Geräusch von Nadine Zumthors Absätzen, wenn sie dynamisch an mir vorbeischreitet.

Die Wahrheit ist, dass mich hier kaum einer kennt, denn meine Arbeit beginnt dann, wenn alle anderen längst zu Hause sind. Wenn all die Odis und Suters und Zurbriggens im Bett liegen und von den Erfolgen des Tages träumen, setze ich meine 105 Kilo hinters Mikrofon und kommentiere die Spiele der nordamerikanischen Eishockeyliga, auch bekannt als NHL.

Am Ende eines langen grauen Korridors voller Polstergruppen und Zimmerpflanzen nehme ich die Treppe in den ersten Stock. Bereits bevor ich mich an den Aufstieg mache, fange ich zu keuchen an. Früher war es Ehrensache, dass Sportreporter unsportlich waren. Heute sehen sie alle so aus, als könnten sie selber den Triathlon laufen, den sie kommentieren. Es gehe um Glaubwürdigkeit, hat man mir gesagt. Die Zuschauer trauen einem athletischen Körper mehr Sachverstand zu. Dabei geht es bei unserer Arbeit gar nicht darum, etwas zu wissen. Es geht darum, den Akt des Zuschauens zur höchsten Daseinsform zu erheben. Und der wahre Sportreporter hat einen Körper, der ganz…