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Diagnose: Liebeswahn

Roger Monnerats Helden verfallen dem Fundamentalismus der Liebessuche

An dem ehrgeizigen Plan, die Liebe als eine Wissenschaft zu betreiben, sind schon viele gescheitert. Und doch gibt es noch immer Fundamentalisten der Seelenkunde, die sich nicht damit abfinden wollen, dass es in der Sphäre der erotischen Attraktionskräfte keine zuverlässigen Messwerte gibt und die betroffenen Subjekte sich stattdessen auf einem Terrain wirrer, ungeordneter Ambivalenzen verlieren.

Ein solcher Fundamentalist der Liebessuche ist sicherlich der Mediziner Rottmann, der mit Abstand unheimlichste Held in den neuen Erzählungen des Basler Schriftstellers Roger Monnerat. Rottmann hat in der stärksten Geschichte des Buches eine experimentelle Versuchsanordnung ersonnen, um endlich «einen wissenschaftlich nachgewiesenen Orgasmus bei einer Frau zu bewerkstelligen». Als die Prozeduren zur empirischen Verifikation des Orgasmusgeheimnisses misslingen, versucht sich der fanatische Liebessucher auf anderen Gebieten, die nicht weniger monströs anmuten. Er hat im Entree seiner Dachwohnung einen komatösen Hasen an eine Herz-Lungen-Maschine angeschlossen und lauert bei dem kreuzförmig festgeschnallten Tier auf eine Erektion. Der Erzähler lässt offen, ob es sich bei dem gekreuzigten Hasen nur um eine sadistische Phantasie Rottmanns, um eine Installation oder tatsächlich um einen perversen Tierversuch handelt. Das Grauen angesichts dieses Schreckenstableaus wird jedenfalls durch den Hinweis des Erzählers, dass solche Kreuzigungsszenen zu den zentralen Motiven moderner Kunst gehören, noch gesteigert.

In den sieben Erzählungen Monnerats, die schon im Titel die «Konturen des Unglücks» anvisieren, verkörpert die Gestalt Rottmanns zweifellos den Extremfall eines misslingenden Lebens, ist der Protagonist doch vollständig seinen ins Psychopathische reichenden Zwanghaftigkeiten verfallen. Aber auch die übrigen Helden Monnerats, der Starkstromelektriker Hellstein, die Anwältin Pina, schliesslich auch der Ich-Erzähler selbst, geraten in das Kraftfeld eines sanften Liebeswahns – und sehen oft keinen anderen Ausweg als Gewalt.

Die unglückliche Anna Bertoli (In «Die Liebeskonkurrenz») erschiesst ihren Ehemann und bezichtigt sich zusätzlich der Schuld am Herzversagen ihres ersten Partners. In «Der Freileiter» entschliesst sich Hellstein, der auf Hochspannungsmasten lebensgefährliche Reparaturen durchführt, zur Selbstzerstörung. Nachdem er von seiner Frau verlassen worden ist, denkt er über verschiedene Spielarten des Suizids nach. Sich vom Strom verbrennen zu lassen, bleibt ihm versagt. Hellstein bleibt nur die mehr oder weniger unfreiwillige Selbstverstümmelung; nach dem Attentat eines Rivalen landet er mit zerschmetterter Wirbelsäule im Rollstuhl. Andere, wie der Chef eines pharmazeutischen Unternehmens (in «Die Unglaubwürdigkeit des Peter Guzman») oder der rätselhafte Einzelgänger Gunnar Engström («Das Eisen») planen erfolgreich das perfekte Verbrechen – der Faszination des professionellen Kriminellen Gunnar verfallen dabei gleich mehrere Frauen.

Für die Figuren Monnerats ist die Liebe noch immer die ursprünglichste und undurchdringlichste Sphäre des Lebens, und seine Helden verlieren unweigerlich den Boden unter den Füssen, wenn sie die rettende Distanz aufgeben und sich mitten in ein Liebesabenteuer stürzen.

Ausgangspunkt aller Erzählungen ist die Einsicht, dass «die romantische Liebe […] heute keine gesetzliche und ökonomische Basis mehr» hat, wie Monnerat eine seiner Figuren sagen lässt. Die Kunstfertigkeit, mit der diese Einsicht in Motive, Plots und Suspense-Effekte umgesetzt wird, weist indes gewisse Schwankungen auf. Wenn Monnerat, der frühere Aktivist der Neuen Linken und «Wochenzeitungs»-Redaktor, seine Figuren zu sehr auf ein kollektives «Wir» und eine versunkene sozialistische Vergangenheit einschwört – wie etwa in der Beizen-Seligkeit der Erzählung «Das Eisen» – dann wird die Geschichte rasch sentimental. Insofern registriert man dankbar die Erzählung «Le petit Jésus», die gerade diese linke Cliquen-Seligkeit zertrümmert. Hier wird ein friedliebender Journalist brutal aus seinem pazifistischen Selbstverständnis herausgeprügelt, als er für einen alten Jugendfreund einen Auftrag übernimmt. Der Reporter soll eine gewisse Marie Dupont aufspüren und versteht es zunächst, diese Spurensicherung zu einem erotischen Amüsement zu nutzen. Dann aber wird er konfrontiert mit der Heimtücke eines Mechanikers, der den verirrten Detektiv ausraubt und schwer misshandelt. Mit zerbrochener Nase und zerschnittenen Füssen schleppt sich der jämmerliche Gutmensch, der von seinem Peiniger als «Le petit Jésus» verspottet wird, zu einem abgelegenen Anwesen – um dort eine Frau vorzufinden, die offenbar mit der gesuchten Marie Dupont identisch ist. Aber ob sich nun dieses kleine Marienwunder vollzogen hat oder nicht, lässt der listige Geschichtenerzähler Monnerat offen – und schickt uns damit ins Ungewisse. Man hält als Leser den Atem an – wie in den zwei anderen ausserordentlichen Erzählungen dieses Buches («Der Freileiter», «Der Hase im Koma»), die uns schockhaft verdeutlichen, dass die Liebe ohne die Präsenz des Schreckens nicht zu haben ist.

Roger Monnerat, «Konturen des Unglücks und eine schöne Geschichte». Zürich: bilgerverlag, 2006.

Michael Braun, geboren 1958, lebt als Literaturkritiker in Heidelberg.

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