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Eine Frage der Ehre

Die Menschheitsgeschichte ist eine Armutsgeschichte. Erst vor 200 Jahren änderte sich das. Warum eigentlich? Wirtschaftshistorikerin Deirdre McCloskey über die entscheidende Ablösung des Kriegers durch den Erfinder.

Eine Frage der Ehre

Frau McCloskey, wir sitzen in einem Weimarer Restaurant, umgeben von modernster Technologie, die unser Leben erleichtert. Weshalb sind wir in den entwickelten Industrieländern heute so reich und wohlhabend?

Bevor ich Ihnen erkläre, warum es so ist, wie es ist, sollten wir uns vergegenwärtigen, was eigentlich passiert ist. Wir alle stammen von furchtbar armen Leuten ab. Das durchschnittliche Welteinkommen eines Menschen stieg seit der Erfindung der Sprache bis etwa 1800 nach Angus Maddisons Berechnungen von einem auf drei Dollar pro Tag – das ist bloss eine Verdreifachung innerhalb von Jahrtausenden. Jetzt liegt das tägliche Einkommen in Ländern wie der Schweiz oder den USA bei ungefähr 110, 120 Dollar. Global, also inklusive der ärmsten Länder, ist es in 200 Jahren von 3 Dollar auf etwa 30 Dollar gestiegen, was eine Verbesserung um Faktor 10 ist! Das ist einzigartig in der Geschichte der Menschheit.


Eine einfache Erklärung hierfür wäre: die Menschen begannen, intensiver untereinander zu handeln.

Klingt gut, ist aber falsch. Der alte Mittelmeerraum war eine enorme Freihandelszone, ebenso das alte China. Der Indische Ozean war während eines Jahrtausends ein enormer Warenumschlagplatz: man findet chinesische Porzellantassen in «Gross­simbabwe», einem früheren afrikanischen Königreich. Die Händler hatten 6000 Meilen überquert, das ist enorm! Kurz: der Handel kann es nicht sein, da es ihn schon vor 1800 gab.


Waren es die neu gewährten Eigentumsrechte?

Der Nobelpreisträger Douglass North wäre in diesem Punkt Ihrer Meinung: «Eigentumsrechte. Ah, Eigentumsrechte! Einst sehr dürftig, wurden die Eigentumsrechte im späten 17. Jahrhundert plötzlich gut.» – Das ist Quatsch! Eigentumsrechte sind Folge des Prozesses, nicht aber dessen Ursprung.


Von politisch linker Seite erklärt man Reichtum gern mit Kolonialisierung und Versklavung.

Sklaverei? Das klingt nach einem Ansatz – nur: Sklaverei hat es auch schon immer gegeben. Alle nun von Ihnen vorgetragenen, populären Ansätze erklären das Phänomen des exponentiell anwachsenden Wohlstandes ab 1800 nicht. Fundamentaler ist: Innovation und Ideen. Ideen von neuen Organisationen, Ideen, um Dinge auf neue Arten und Weisen zu tun, Ideen für neue Maschinen.


Mit Verlaub: das klingt nun nicht besonders fundamental. Ideen hat der Mensch ebenfalls schon immer gehabt.

Stimmt. Aber nicht in dem Ausmass, wie wir es seit 200 Jahren kennen. Hätten wir dieses Interview vor 30 Jahren geführt, hätten Sie eine grosse Maschine mitgebracht. Die hätten Sie ans Stromnetz anschliessen müssen, dann wäre das Gespräch auf Kassette aufgenommen worden, die Bänder hätten sich verwickelt… jetzt haben Sie dieses kleine Ding. Wie lange läuft das?


Das Diktiergerät? Etwa 24 Stunden lang.

Sehen Sie! Vor 30 Jahren hätten Sie vielleicht genug Band für eine Stunde gehabt, und auch der Kellner hätte deutlich länger gebraucht, müsste er unseren Espresso weiterhin mit der antiquierten Kanne aufbrühen statt mit der neuen Maschine. Der Grund für unseren Wohlstand ist, wie Alfred North Whitehead, der grosse englische Philosoph, gesagt hat: die Erfindung der Erfindung! Ab 1800 ändert sich der gesellschaftliche Status des «Bürgers». Zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit war es möglich, als Händler, Handwerker oder Erfinder zu Ehre zu kommen. Zuvor kam Ehre allein vom Schlachtfeld, vom Gerichtshof oder von der Kirche. Punkt. Die entdeckte Freiheit und die entdeckte Würde der Bürger änderten das fundamental.


Wie können Sie das nachweisen?

Der Bedeutungswandel lässt sich am besten in der Literatur aufzeigen. Die einzige Ehre in den Werken William Shakespeares kommt vom Schlachtfeld. Wenn man ein Wörterbuch aus Shakespeares Zeiten konsultiert oder den Text anschaut, dann findet man, dass «ehrlich» «ehrenvoll» oder «ehrenhaft» bedeutet. Zu Jane Austens Zeit, ein paar hundert Jahre später, gebührt Ehre dem Ehrlichen.Bemerkenswerterweise passierte in den germanischen und in den romanischen Sprachen dasselbe.1 Ich habe diesen Wandel in meinen Büchern en détail analysiert.


Gibt es eine Auslöserinnovation, die Sie gefunden haben? Einen Erfinder, der geehrt wurde, weil er seine Erfindung gemacht hatte?

James Watt ist ein sehr schönes Beispiel. James Watt ist der Erfinder des separaten Kondensators für die Dampfmaschine, der es erlaubte, viel effizienter viel mehr Energie aus demselben Rohstoff zu gewinnen. Er stirbt um 1825, und da entstand die Initiative, eine Statue von Watt in Westminster Abbey zu errichten – also dort, wo die Könige und Dichter waren. Einige Leute beklagten sich und fragten: Was, ein Erfinder in der Westminster Abbey? Die meisten Leute aber sagten: ja, weshalb kein Erfinder? Kann man sich eine ehrenvollere Sache vorstellen, als das Leben von Millionen und Milliarden von Leuten einfacher zu machen? Die Statue kam zuletzt in der St. Paul’s Cathedral zu stehen, was fast so gut ist. Um 1600 wäre kein Erfinder auf diese Weise geehrt worden.


Es geht also um die soziale Anerkennung einer Leistung, die allen dient.

Genau. Überall findet man ab etwa 1800 das Modell des Bürgers, der die Dinge führt und dafür gewürdigt wird. In Holland hatte diese Entwicklung begonnen. Echte Kraft entfaltete sie, als sie sich – durch Handel und Emigration – auf ein wirklich grosses Land ausbreitete, nämlich Grossbritannien, mit Schottland und den Kolonien in der Neuen Welt. Ein perfektes Beispiel für diesen historischen Umbruch ist auch Benjamin Franklin, einer der Gründerväter der USA. Er beginnt als armer Junge, träumt aber davon, ein Gentleman zu sein. Und er schafft das, was kurze Zeit vorher undenkbar war: er arbeitet sich hoch, kann schliesslich teure Kleidung tragen und hört bereits mit 41 zu arbeiten auf – denn er kann es sich leisten. Er lebt in einer Gesellschaft, die solche Emporkömmlinge bewundert. Und die es ihnen erlaubt, den Reichtum auch auszuleben, wann immer sie wollen. Dies zeigt sich in einem Sinneswandel hin zu bürgerlichen Tugenden: Vorsicht, Mässigung, Gerechtigkeit, Mut, Liebe, Vertrauen und Hoffnung. Aus diesen Tugenden entstand eine Wertschätzung der Innovation, die zum Glück unserer Vorfahren wurde.


Technikskeptiker wie Günther Anders meinten, dass es keine Originale mehr gebe, die Qualität der Innovationen abnehme und nur noch das Bestehende verbessert werde.

Das ist totaler Unsinn. Was ist denn beispielsweise mit dem Internet?


Der PC, das Internet – aber was folgt?

Wenn wir so klug wären, zu wissen, was einzelne Innovationen künftig werden könnten, so wären wir reich. Es gibt keinen Grund anzunehmen, dass unsere besten Tage hinter uns liegen. Weshalb sollte man das annehmen?


Es gibt Preistheorien, wie jene des amerikanischen Census Bureau, die nahelegen, dass das Pro-Kopf-Realeinkommen der normalen Personen in den USA in den letzten 30 Jahren nicht wirklich gestiegen sei.

Die Theorien vom stagnierenden Realeinkommen sind falsch. Die Kommission unter der Leitung des Stanford-Ökonomen Michael Boskin kam in den 1990ern zum Schluss, dass die existierenden Lebenskostenindizes der USA Qualitätsverbesserungen nicht adäquat zu messen vermögen. Die Warenqualität wird besser, was die Stillstand-Theoretiker geflissentlich ignorieren. Eine Frage, die das illustriert: wissen Sie, wie man an einem Auto einen Reifenwechsel macht?


Ja. Wir sind gesetzlich dazu gezwungen, Sommer- und Winterreifen zu benutzen.

Was Sie vermutlich nicht mehr wissen: In den 1960ern und 1970ern platzten die Reifen dauernd, mindestens dreimal jährlich! Das passiert mit einem modernen Auto nie. Warum? Weil die Reifen viel besser geworden sind. Und zwar für alle, auch für die ganz normalen Leute wie du und ich. Ich will damit nicht sagen, dass es in unseren Gesellschaften keine Gleichheitsprobleme gibt, um die wir uns sorgen müssen. Aber es stimmt nicht, dass die Menge dessen, was sich der durchschnittliche Mensch kaufen kann, nicht zugenommen hat. Die Warenqualität wird besser, die Lebensdauer von Produkten ist im Schnitt sehr viel länger geworden, die Konsumenten leben übrigens auch immer länger, dies lässt sich jedoch nur schwer in die jeweiligen Indizes miteinberechnen. Und wir
sagen deshalb weiterhin gerne: Früher war alles besser! Dabei ist das völliger Unsinn.


Einverstanden, doch Sie müssen umgekehrt zugestehen, dass wir uns trotz extremer Wohlstandsmehrung noch immer mit den alten, fossilen Brennstoffen herumschlagen. Wo bleibt hier die Innovation?

Das ist ein vergleichsweise neues Problem. Ich erinnere mich, wie ich 1959 mit 16 zum ersten Mal nach England ging. Da gab es Rauch aus Schloten, so dicht, dass man die eigenen Füsse nicht mehr sehen konnte. Man ging nicht raus, weil man sonst umgekommen wäre. Ein Kollege von mir, der im Zweiten Weltkrieg als Offizier in London stationiert war, hat diese wahnsinnige Geschichte erlebt: Er ging spätabends in ein Pub, und draussen wurde es so dunstig, dass er beim Verlassen des Pubs die eigenen Füsse nicht mehr sehen konnte. So ist er zurück ins Hotel gekrochen! An den Kreuzungen ist er auf andere kriechende Leute getroffen, mit denen er Richtungsangaben austauschte, um den Weg zu finden. So etwas passiert heute nicht mehr. Deshalb bin ich auch hinsichtlich der Umwelt zuversichtlich. Mit unseren Einkommen steigt auch unsere Umsicht. Die vielgescholtenen Chinesen sind übrigens den Europäern weit voraus: denn die Europäer haben sich erst um die Umwelt zu kümmern begonnen, als sie sehr reich waren, während die Chinesen schon heute, mit nur 20 Dollar Durchschnittseinkommen pro Tag, um sie besorgt sind. Das wollen die endzeitgestimmten Europäer aber einfach nicht wahrhaben.


Am anderen Ende der Welt wird vom «Ende des Kapitalismus» gesprochen.

Oh, gäben Sie mir doch bloss einen Dollar für jedes «Ende des Kapitalismus», das seit dem amerikanischen «Bankrun» von 1857 prophezeit wurde! (lacht) Seit 1800 gab es etwa 40 grössere Wirtschaftskrisen, und rund 10 davon waren so ernst wie die jetzige. Natürlich waren die 1930er schlimmer, aber auch die 1890er waren schrecklich, die 1840er ebenso. Richtig ist: wir erleben die schwerste wirtschaftliche Krise seit dem Zweiten Weltkrieg. Das allein hat aber noch nichts zu bedeuten. Betrachten wir den grösseren historischen Kontext, so haben wir es höchstens mit einem kleinen Knick zu tun, die Einkommen sind davon langfristig nicht betroffen. Nehmen wir ein von der Finanzkrise stark betroffenes Land: in Irland gingen die Einkommen seit 2007 um etwa 6 Prozent zurück. Aber 6 Prozent Rückgang gegenüber Tausenden von Prozenten Wachstum seit 1800 bedeuten nicht das Ende der Welt. In den meisten betroffenen Ländern wird man bis zum Sommer zurück beim früheren Durchschnittseinkommen sein. Auch hier wieder dieser nagende Pessimismus. Die Welt wird stets besser, aber es gibt eben ab und an auch wieder kleinere Rückschläge.


Sagen Sie das mal den Jugendlichen Südeuropas, die einen Job suchen.

Es gibt vor allem in Südeuropa ein Beschäftigungsproblem wegen schlechten Arbeitsgesetzen, staatlich verordneten Mindestlöhnen. Es waren die jungen Spanier, die sich zuerst über die Arbeitslosenraten von über 40 Prozent beklagten. Als ich in Salamanca war, ass ich mit einigen der Studenten, die als «Indignados» die Proteste organisierten. Ich sagte ihnen: an eurer Stelle wäre ich auch dort draussen auf die Barrikaden gestiegen. Viele dieser jungen Leute machen aber einen Fehler und sagen: Lasst uns die Gans töten! Die Gans, die das goldene Ei legt. Damit meinen sie die Marktwirtschaft. Das ist nicht klug.


In schwierigen Zeiten sind einfache Antworten gefragt.

Das stimmt. Aber die Angst ist unbegründet: schaut man sich die Teile unserer Geschichte an, die halbwegs verlässlich dokumentiert sind, so kann man sagen: es ging rauf, rauf, rauf. Und so, das kann ich Ihnen versprechen, wird es dank der Marktwirtschaft auch weitergehen.


Das klingt nach naivem Heilsversprechen. Nach Ihrer Theorie funktioniert der Markt ja nur, weil wir die bürgerlichen Tugenden verinnerlicht haben. Was macht Sie so sicher, dass dem tatsächlich so ist?

Als Steve Jobs kürzlich gestorben ist, hat jeder seinen Tod beklagt, als ob er der König des Universums gewesen wäre. Ich sage Ihnen: das ist ein gutes Zeichen! Es braucht diese positiven Beispiele für die nächste Generation, damit auch sie sich ihrer Möglichkeiten bewusst ist. Anschauungsunterricht liefern auch China und Indien: die Entdeckung der Freiheit und der bürgerlichen Würde ist ein Hauptgrund für den gegenwärtigen wirtschaftlichen Aufbruch der beiden Länder. Meine historische Position wäre sehr viel schwieriger zu verteidigen, wenn nicht die ziemlich offensichtliche Tatsache dafür spräche, dass ein Wechsel in der Wertschätzung der beschriebenen bürgerlichen Ideale die Zunahmen in den Wachstumsraten von China und Indien erklärt.


Und wieso bleibt die Mehrheit der Menschen auf dem afrikanischen Kontinent arm?

Ich glaube, dass unser Jahrhundert das «afrikanische Jahrhundert» sein wird – und nicht das chinesische oder das amerikanische. Wenn Afrika die Innovation bejaht und die Mittelklasse ehrt – nicht die Mittelklasse, die sich durch Soldaten und Bürokraten definiert, nicht jene Mittelklasse, die Dinge von anderen an sich reisst –, nein, vielmehr diejenige, die Dinge schafft, die Geschäfte aufbaut und Sachen erfindet…


…einzig: bürgerliche Tugenden scheinen nicht universal anschlussfähig zu sein. Kann man sie afrikakompatibel machen?

Gute Frage. Max Webers Idee war, dass sich dazu die innere Psychologie der Menschen verändern müsse. Das klingt nach einer sehr schwierigen Aufgabe. Wie ändert man die innere Psychologie der Menschen? Nein, mein Ansatz ist oberflächlicher: Man ändert die Politik und auch das Verhalten der Menschen. Letzteres ist etwas schwieriger. Die Politik lässt sich per Gesetz ändern, aber um das Verhalten zu ändern, müssen die Leute einfach von guten Beispielen lernen. Und das werden sie tun, denn die Afrikaner haben dafür eine viel bessere Ausgangslage als unsere Vorfahren vor 200 Jahren!


Das müssen Sie erklären.

Sie, ich, die Chinesen, die amerikanischen Ureinwohner, die Italiener – wir stammen alle von einer winzig kleinen Gruppe ab: von 1000 subsaharischen Afrikanern. Das sagt uns die Genetik. Nur diese verschwindend kleine Minderheit hat sich irgendwann aus Afrika wegbewegt – in die ganze Welt. Die meisten blieben in Afrika. Es gibt also im subsaharischen Afrika einen reicheren Genpool, mehr genetische Variation als im ganzen Rest der Welt. Das ist nicht irgendeine verrückte Theorie von mir, sondern eine sehr einfache, sehr gut gestützte Beobachtung. Wenn man die DNA von Afrikanern erfasst, findet man all diese anderen Linien: es finden sich etwa sowohl die grössten wie die kleinsten Leute der Welt im subsaharischen Afrika. Das bedeutet, dass die Streuung breiter ist und dass es folglich in 100 Jahren, wenn Afrika das gleiche Durchschnittseinkommen wie Deutschland erreicht hat, dort dank bürgerlichen Tugenden 100 Goethes und Einsteins geben wird.2


Hier in Weimar, wo sowohl Goethe als auch Honecker gewirkt haben, hat man lange nicht viel von bürgerlichen Werten gehalten. Wieso gibt es diese «Brüche» mit der bürgerlichen Gesellschaft?

Ein Grund ist, dass vielen Menschen seit dem 18. Jahrhundert von Professoren beigebracht wurde, in Phasen zu denken. Das europäische Denken ist seit dem 18. Jahrhundert von der Annahme geprägt, dass es gesellschaftliche Stufen oder Stadien gebe. Sogar Adam Smith sagte das. Nehmen wir aber Karl Marx, das ist ein einfacherer Fall: Wenn es die kapitalistische Stufe gibt, dann muss es auch eine andere Stufe geben, auf der sich die Gegensätze aufheben, sagt er, bis am Ende das Paradies der klassenlosen Gesellschaft herrscht. Das ist der Reiz des Utopismus. Er ist das intellektuelle Fundament des europäischen Denkens.


Und es war Ihr eigenes.

Ich begann als Marxistin, richtig. Dann wurde ich so etwas wie Wirtschaftsingenieurin, Ökonomin der Chicagoer Schule und endete als historische Wirtschaftswissenschafterin. Die erste Hälfte meiner Karriere verwandte ich darauf, die Wichtigkeit des Unternehmertums zu dementieren und die Dummheit der Soziologen aufzuzeigen. Ich scheine dazu verdammt zu sein, in der zweiten Hälfte die Wichtigkeit des Unternehmertums zu betonen und die Soziologen als die Weisen darzustellen. 1 minus 1 ergibt 0. Ich habe mich selbst widerlegt.


Das entspricht dem Ethos der Wissenschaft, auch wenn viele Wissen­schafter ihre liebe Mühe damit bekunden.

Wie Keynes sagte, als sich in den 1930er Jahren jemand bei ihm darüber beklagte, dass er sich vom Freihandel ab- und dem Protektionismus zugewandt hatte: «Wenn ich neue Informationen erhalte, ändere ich meine Meinung.»


Wie kamen Sie zum Sozialismus?

Am Anfang stand wohl ein Denkfehler. Leute sagen zum Beispiel: «Ich komme aus einer Familie, in der alles sehr ausgewogen abläuft. Wenn wir essen, teilen wir die Pizza in gleich grosse Stücke auf, jeder ist geliebt, und alles ist wunderbar.» So habe man sich nun auch den Staat vorzustellen, damit es allen Menschen gut gehe. Aufgrund dieses Gedankens werden junge Leute Sozialisten! Deshalb wurde ich Sozialistin, als ich jung war. Weil ich wollte, dass jeder geliebt wird und alle gleich sind.


Wir wollen auch, dass alle geliebt werden. Nur: das Modell Familie ist für die «ausgedehnte Ordnung», für den Staat, untauglich.

Stimmt. Es funktioniert im Kleinen: innerhalb der Familie, innerhalb der Firma, im Büro – ich hoffe, dass es dort Liebe gibt, denn andernfalls gibt es keine Solidarität, man macht keinen guten Job, kurz: man wird ein elendes Leben führen. Fruchtbare menschliche Interaktion fusst auf Respekt und Anerkennung.


Produziert die Marktwirtschaft diese menschlichen Tugenden oder hängt sie von Institutionen ab, die diese Tugenden bereitstellen?

Salopp gesagt: beides. Es gibt Leute, die darauf insistieren, dass, wenn jeder an sich selbst denkt, an alle gedacht ist. Aber die meisten Theoretiker werden eingestehen, dass man noch andere Tugenden braucht, die irgendwo in der Familie, in der Kirche oder in der Schule entstanden sind, um die Marktwirtschaft zu stützen. Es gibt Länder, in denen es als Sklaverei angesehen wird, jemandem in einer Geschäftssituation zu helfen. Das schafft ein Problem. Weil es dann nicht als würdevoll gilt, jemandem zu helfen. Man strebt danach, Lord oder Lady zu sein, und die anderen Leute haben einem zu helfen, und nicht umgekehrt. Im bürgerlichen Leben, im Leben des Handels, gibt es einen Egalitarismus. Denn dieses Leben beruht nicht auf Abhängigkeit, nicht darauf, dass Sie von mir etwas erbetteln oder Sie mich befehligen – sondern auf Tausch…


…und der bringt allen nur das Beste. Hier widersprechen jene, die mit einer anderen Realität konfrontiert sind, vehement.

Ganz unrecht haben sie nicht mit diesem Einwand. Viele meiner Kollegen und auch die meisten liberalen Politiker sind gut darin, die positiven Aspekte freien Handels zu propagieren. Dabei wurde allerdings häufig der Fehler gemacht, die Schattenseiten unter den Tisch zu kehren. Das nimmt man ihnen nun übel. Wir Leute des freien Markts müssen anerkennen, dass es in der Gesellschaft arme Leute gibt. Und wir müssen anerkennen, dass einige Leute kurzfristig unter Innovationen leiden, die aber letztlich allen das Leben verbessern. Der Soziologe Werner Sombart spricht von «kreativer Zerstörung» – und diese destruktive Seite kann man nicht leugnen. Und diese destruktive Seite lässt jene, die kurzfristig von ökonomischen Umbrüchen negativ betroffen sind, glauben, dass das System als Ganzes versage. Hier tut ökonomische Aufklärung not. Ein Beispiel: Einst gab es viele Schmiede, um die Pferde zu behufen. Jetzt gibt es so gut wie keine mehr. Der Kapitalismuskritiker sagt: wie schrecklich, die armen Schmiede!


Der Ökonom sagt: die Leute kommen woanders unter.

So ist es. Und er kann es beweisen: unsere Vorfahren waren ein Haufen von Bauern! Heute sind nur noch wenige Menschen als Bauern tätig. Sind alle anderen arbeitslos? Nein. Eigentlich war die Prämisse in vielen, wahrscheinlich allen Gesellschaften jene, dass es sich beim Leben um ein Nullsummenspiel handelt: wenn jemand reich wird, dann muss es auf Kosten von jemand anderem passieren. Diese Zeiten sind vorbei. Die Nullsummenspiellogik ist aber geblieben. Letztlich geht es um die Frage: In was für einer Gesellschaft wollen wir leben? In einer Gesellschaft, die erfindet, in der es dem durchschnittlichen Menschen viel, viel, viel besser geht – oder in einer, die gesamthaft arm bleibt. Wenn es nur um eine kleine Verbesserung ginge, wenn der Hockeyschläger flacher wäre, dann wäre es ziemlich schwierig, gute Argumente für den freien Markt zu finden. Tatsächlich ist es aber ziemlich einfach.

 

Das Gespräch fand anlässlich eines Treffens des Publizistikkreises der Hayek-Gesellschaft in Weimar statt.

Deirdre McCloskey spricht am 21. März 2012 am Collegium Helveticum in Zürich über «The Cult of Statistical Significance» und am 22. März über «Bourgeois Values/Virtues». Mehr Informationen unter www.collegium.ethz.ch.


 


 

1 Ben Crystal, David Crystal: Shakespeare’s Words: A Glossary and Language Companion. London: Penguin, 2002.

 2 Sarah Tishkoff [u.a.]: The Genetic Structure and History of Africans and African Americans. In: Science 324, 2009. S. 1035–1044. http://www.sciencemag.org/cgi/data/1172257/DC1/1

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