Demokratie entgrenzen?
Die Globalisierung als Herausforderung der Demokratie Globalisierung als Resultat einer fortschreitenden Liberalisierung des Welthandels stellt die Grundfrage nach dem Verhältnis von Wirtschaft und Politik und bleibt daher im Spannungsfeld von Markt und Demokratie kontrovers.
Die Gruppendiskussion stand im Zeichen einer grundsätzlichen, weil weltanschaulich bedingten Polarität. Wo Thesen aufeinanderprallen, werden Spannungsfelder ausgelegt. Im Zuge der Diskussion haben wir uns in solchen Spannungsfeldern verortet, mitunter auch darin bewegt.
Auf der einen Seite steht eine Wahrnehmung, die der Globalisierung in ihren heutigen Formen wenig Gutes abzugewinnen vermag. Die Märkte sind der Politik enteilt, die Folgen sind gravierend: Die Schere zwischen arm und reich wird grösser, die Ungleichheit in der Verteilung der Lebenschancen hat ein Ausmass erreicht, das durch nichts zu rechtfertigen ist. Die ungehemmte Entgrenzung der Wirtschaft verschärft die Krise einer Demokratie, die schon im Inneren der Staaten viel Gestaltungskraft eingebüsst hat. «Dort, wo heute die grössten Quellen der Macht sind, reicht die Demokratie nicht hin; dort aber, wo die Demokratie noch Einfluss nehmen kann, ist die eigentliche Macht nicht mehr.» Diese Entwicklung ist umsomehr zu bedauern, als gerade die Demokratie als tradiertes Gesamtkunstwerk Wege und Methoden anzubieten hätte, Macht einzubinden, Lebenschancen anzugleichen: «Wo Demokratie funktioniert, hat sie bisher dafür gesorgt, dass Freiheit nicht zum Privileg Privilegierter geworden ist.» Diese und andere Leistungen (Partizipation, Integration, Legitimation) kann sie heute nicht mehr erbringen; «sie gleicht dem Steuerruder eines kleinen Schiffes, das zwar im Wasser liegt, dessen Steuerruder aber nicht mehr bis ins Wasser reicht.»
Die so skizzierte Wahrnehmung mündet zunächst in die bewusste Aufnahme und Bestätigung eines zeitlosen demokratischen Ideals: «Wer von einer Entscheidung betroffen ist, sollte direkt oder indirekt auch Teil der Entscheidfindung sein.» Es ist dies eine normative Zielvorgabe, die zur blossen Utopie verkommt, wenn es nicht gelingt, den Primat der Politik im Verhältnis zur Wirtschaft aufs neue herzustellen – und zwar binnenstaatlich ebenso wie über eine Globalisierung von Demokratie.
Transnationale Verfassung?
Was einst kommunal begann und später auf den territorialen Flächenstaat übertragen wurde, bleibt ja nicht mit Notwendigkeit an diesen Raum gebunden; eine transnationale Verfassung von Demokratie ist also möglich. Sie setzt auch nicht die Errichtung eines Weltstaats voraus, wohl aber den schrittweisen Auf- und Ausbau eines Rechtssystems jenseits staatlicher Grenzen. Europa weist den Weg. Das Strassburger Modell mit der Europäischen Menschenrechtskonvention kann als Vorbild dienen; darüber hinaus wäre eine föderative europäische Verfassung zu begrüssen, die (warum nicht) eigentliche Sachentscheidungsrechte für die Bürgerschaft einschliesst. Am Horizont steht die Vision eines globalen, weltinnenpolitischen Rechtssystems, das Menschen nicht nur in wesentlichen Ansprüchen schützt, sondern neue Wege von Mitgestaltung und Kontrolle erschliesst – auf dass die Früchte der Globalisierung fortan nicht nur jenen zuteil werden, die schon heute als privilegiert anzusehen sind.
In der Wahrnehmung der anderen Seite werden die Vorzeichen naturgemäss anders gesetzt. Wenn Märkte sich von Politik befreien, darf man sich darüber freuen. Globalisierung bedeutet regelmässig mehr Freiheit, mehr Wohlstand, auch mehr Gleichheit dort, wo Grenzen geöffnet und Länder – auch Entwicklungsländer – an Handelsnetze angeschlossen werden.
Zähmung der Demokratie
Natürlich, was sich vollzieht, ist in der Tat eine Verdrängung des nationalen kollektiven Abstimmungs- und Entscheidungssystems durch die Autonomie wirtschaftlicher Tauschprozesse: Der durch Freihandel ermöglichte Standortwettbewerb schränkt den «souveränen» Bereich der Demokratie zunehmend ein. So soll es indessen auch sein. Es wäre sogar zu begrüssen, wenn die Demokratie zuletzt auf jenes Kerngebiet zurückgedrängt würde, für das sie legitimerweise zuständig ist:die Durchsetzung allgemeiner Spielregeln etwa, den Umgang mit Externalitäten, Sicherheitsgarantien und die Festsetzung sozialer Mindeststandards. Mit anderen Worten: Auch und gerade die Demokratie ist ja einzubinden und zu zähmen, nämlich durch politische und wirtschaftliche Menschenrechte. Wo solche Schranken missachtet werden, kann Demokratie selber zur Bedrohung individueller Freiheit werden; das Ausmass kollektiv erzwungener Umverteilung und «Solidarität» in den Wohlfahrtsstaaten Westeuropas legt davon Zeugnis ab.
Markt als «Konsumentendemokratie»
Soll nun, wer von einer Entscheidung betroffen ist, direkt oder indirekt auch Teil der Entscheidungsfindung sein? – Der Anspruch taugt für Märkte nicht. «Ich bin zwar von der Entscheidung des Bäckers betroffen, wenn er diese oder jene Hefe nimmt, aber ich habe kein Bedürfnis, demokratisierend auf seine Backwerkstatt einzuwirken.» Die Konsumentendemokratie des Marktes, die tägliche Volksabstimmung über Güter und Dienstleistungen, ist im Grunde demokratischer als eine politische Demokratie, die die Anliegen selbst grosser Minderheiten vernachlässigen muss. Auf den Märkten kommt jede Nachfrage zum Zug, selbst ein Bedürfnis ausgefallener Art kann sich realisieren. Eine «Demokratisierung» der internationalen Beziehungen, eine spezifisch demokratische Einbindung oder Kontrolle transnationaler Unternehmungen ist weder notwendig, noch gibt es organisatorisch sinnvolle Anknüpfungspunkte dafür. Die wirksameren Kontrolleure bleiben, neben dem internationalen Recht, die nationalen Gesetzbücher, an die jede Organisation örtlich gebunden bleibt; und es bleibt die Kontrolle durch den Wettbewerb selbst.
Kontrolle über das Zentrum
Auch eine «Demokratisierung» der Europäischen Union würde schliesslich kaum je halten, was sie verspricht. Wenn man nicht will, dass sich ein begehrlicher Bundesstaat mit einer begehrlichen Bürokratie über die Vielfalt der europäischen Völker erhebt – und diese Vielfalt ist ja gerade das Europäische an Europa – dann sollte sich «Demokratie» auf die Kontrolle des Zentrums durch die beteiligten Nationalstaaten mit ihren jeweiligen Partizipationsmöglichkeiten beschränken. Schliesslich ist die Europäische Union nur ein Staatenverbund. Weder gibt es ein «europäisches Volk» als Basis kollektiver Entscheidungen noch eine «europäische Öffentlichkeit» – und es fragt sich, ob beides überhaupt zu wünschen wäre.