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Manifesta

What people do for money

Manifesta

Die Wanderbiennale Manifesta gilt inzwischen neben der Biennale in Venedig und der documenta in Kassel als eine der bedeutendsten europäischen Kunstveranstaltungen. Die elfte Durchführung macht diesen Sommer Zürich zum Zentrum der zeitgenössischen Kunst: Noch bis zum 18. September sind rund 250 Werke von 130 Künstlerinnen und Künstlern zu sehen, die thematisch um den Sinn und Stellenwert der Arbeit für unser Leben kreisen.

Johannes M. Hedinger hat die vielteilige, über die ganze Stadt verteilte Show besucht, sprach mit einem der beteiligten Künstler – und weiss, welche Arbeiten man nicht verpassen sollte. Kunstwissenschafter Jörg Scheller liefert eine historische Einbettung und die kritische Hintergrundanalyse zum 5-Millionen-Kunstevent.


Guillaume Bijl: «Dog Salon Bobby» (2016)

WHAT PEOPLE DO FOR MONEY – Hinein ins soziale Gewebe Zürichs

Vor 20 Jahren mit EU-Geldern gegründet, um junge Kunst in strukturschwache Regionen zu bringen, diskutiert die elfte Ausführung der Manifesta in Zürich zwei Schweizer Grundwerte: Arbeit und Geld. Verantwortlich für das Thema und die Künstlerauswahl zeichnet erstmals nicht ein professioneller Kurator, sondern der deutsche Künstler Christian Jankowski. Unter dem Motto «What People Do for Money: Some Joint Ventures» versammelt er rund 250 Arbeiten von 130 Künstlern. Im Zentrum stehen 30 berufsbezogene Neuproduktionen, sogenannte «Joint Ventures» zwischen internationalen Künstlern und Berufstätigen aus der Stadt Zürich. Wie lief das ab?

 

Zu Beginn der Projekte erhielt jeder geladene Künstler eine vom Institut für Soziologie der Universität Zürich zusammengestellte Liste mit rund 1000 Berufen, die in der Stadt heute ausgeübt werden. Für die Künstler galt es zunächst, einen dieser Berufe auszuwählen, der Manifesta oblag es, den passenden «Gastgeber» zu finden – darunter einen Pfarrer, eine Prostituierte, eine Zahnärztin, einen Wetterfrosch, die Polizei, einen Hundesalon

oder die Kläranlage Werdhölzli. Aus den folgenden Begegnungen und Gesprächen entstand dann die neue, oft gemeinsame Arbeit. Alle 30 «Joint Ventures» manifestieren sich an drei verschiedenen Schauplätzen in der Stadt: in Kunstinstitutionen, bei den verschiedenen «Gastgebern» sowie im «Pavillon of Reflections», einer auf dem Zürichsee schwimmenden Plattform, die speziell für die Manifesta 11 gebaut wurde. Hier wird jedes Projekt in filmischer Form reflektiert.

An den Hauptausstellungsorten im Löwenbräukunst-Komplex (Kunsthalle, Migros-Museum für Gegenwartskunst, LUMA Foundation) und im Helmhaus wird eine Sammelausstellung zum Thema Arbeit gezeigt. -Ausserdem wird das Cabaret Voltaire im Niederdorf während der 100 Tage dauernden Ausstellung als Bühne für «Joint Venture»-Performances bespielt, und Dutzende von Parallelprogrammen komplettieren den Manifesta-Sommer.

Begleitet wird das Ganze von einem ausführlichen Katalog, gestaltet von Ruedi Baur von Intégral und spannenden Texten, unter anderen von Historikern wie Jakob Tanner oder vom russischen Schriftsteller Mikhail Shishkin. Die Texte zu den Neuproduktionen wurden dabei konsequenterweise nicht von Kunsthistorikern, sondern von den Gastgebern des jeweiligen «Joint Venture» geschrieben.

Grossausstellungen wie die Manifesta neigen oft dazu, einen monströsen theoretischen Überbau vor sich herzuschieben und politisch-moralisch zu posieren. Darauf verzichtete Christian Jankowski glücklicherweise vollkommen. Lieber installiert er ein niederschwelliges Konzept, eine schlanke Leitfrage und eine neue Form von Auftragskunst: «In den Joint Ventures setzen sich Künstler mit einem anderen Beruf auseinander, und die Hosts erleben ihren Beruf neu durch die Augen des Künstlers.»

Bislang ist wohl noch keiner der vergangenen zehn Manifesta-Ausgaben eine derartige Durchdringung ins soziale Gewebe der Stadt geglückt wie in Zürich, das seinerseits die Chance wittert, sich im Tandem mit dem 100-Jahr-Dada-Jubiläum als internationale Kunstmetropole zu inszenieren.

Web: m11.manifesta.org/ und www.m11parallelevents.ch/ 


Vom Satelliten Klärwerk Werdhölzli ins Hauptquartier gekarrt – Mike Bouchet: «The Zurich Load» (2016)

SOME JOINT VENTURES – Satelliten in der Stadt

 

Herzstück der aktuellen Manifesta – und die kreative Eigenleistung von Jankowski – sind die 30 «Joint Ventures» zwischen einem Künstler und einer Zürcher Berufsgattung. Aber: welche sind auch besonders interessant?

 

Evgeny Antufiev: Eternal Garden

Host: Martin Rüsch (Pfarrer Grossmünster)

«Switzerland is a place where very few things begin, but many things end», meinte F. Scott Fitzgerald einmal. Diesen Satz ernst nehmend, machte sich der russische Künstler Evgeny Antufiev auf die Suche nach den letzten Stationen berühmter Leute in der Schweiz. So begab er sich etwa auf die Spuren von Vladimir Nabokov, der seine letzten 16 Jahre hier verbrachte und Schmetterlinge sammelte. Ein Teil dieser Sammlung ist nun in der Wasserkirche beim Helmhaus zu sehen, inklusive eines ins Gigantische vergrösserten Falters im Kirchenchor vor den Giacometti-Fenstern.

Orte: Wasserkirche und Helmhaus (beide: Limmatquai 31)

 

Andrea Éva Gyo´´ri: Vibrationshighway

Host: Maggie Tapert (Sexpertin), Dr. Dania Schiftan (Sexualtherapeutin)

Die ungarische Künstlerin Andrea Éva Gyo´´ri hat bei der Sexualtherapeutin Dania Schiftan Kurse zum weiblichen Orgasmus besucht. Anschliessend hat sie in privaten Treffen mit Geschlechtsgenossinnen Feldforschung betrieben und die Frauen bei der Selbstbefriedigung porträtiert. Die grossformatigen Bilder machen Vorschläge für eine Visualisierung des weiblichen Orgasmus. Im Löwenbräukunst ist eine ganze Wand diesen erotischen Zeichnungen gewidmet – kein Pardon: ein echter Höhepunkt!

Orte: Risqué (Kappelerstr. 15) und Löwenbräukunst (Limmatstr. 270)

 

John Arnold: Imbissy

Host: Fabian Spiquel (Sternekoch Maison Manesse)

In «Imbissy» – ein Wortspiel aus «embassy» (Botschaft) und «Imbiss» – hat der Amerikaner John Arnold die Menüs von Schweizer Staatsbanketten -erforscht und bietet zusammen mit dem Sternekoch Fabian Spiquel nun einige dieser historischen Speisen in verschiedenen Imbissbuden der Stadt an. Ziel ist eine Verquickung von Vergangenem und Neuem zu einer «alternativen Form von Diplomatie» (Arnold). Staatsdinner trifft auf Street Food – Bon appétit!

Orte: Palestine Grill, Riviera Imbiss, Colombia Linda, Friends Corner, Mesob Restaurant, Phuket Asia Center, Yalla Habibi und Helmhaus (Limmatquai 31)

 

Mike Bouchet: The Zurich Load

Host: Philipp Sigg (Ingenieur, Klärwerk Werdhölzli)

Alle, die am 24.3.2016 in Zürich eine Toilette benutzt haben, sind wohl, ohne es zu wissen, Teil des jüngsten Werks von Mike Bouchet geworden: In Zusammenarbeit mit der Wasseraufbereitungsanlage Werdhölzli hat der US-Künstler die 80 Tonnen der täglichen Klärschlammproduktion der Stadt zu knapp 400 Kilo schweren Würfeln gepresst und damit eine minimalistische Skulptur von der Grösse eines Schwimmbeckens geschaffen. Zu sehen und zu riechen ist sie im Löwenbräukunst-Komplex. Ein eigens entwickelter Geruchsstoff soll den Besuch erträglich machen – was aber zumindest am Eröffnungstag noch nicht wirklich funktioniert hat. Geld stinkt nicht, Kunst in diesem Falle schon.

Orte: Klärwerk Werdhölzli (Bändlistrasse 108) und Löwenbräukunst (Limmatstrasse 270)

 

Ausserdem: «Is Michel Houellebecq OK?»

Der französische Schriftsteller und Kettenraucher Michel Houellebecq hat sich zur Vorsorge in eine Zürcher Privatklinik begeben. Die morbid-schönen CT- und MRI-Bilder hängen nun als Kunst im Helmhaus, die Kostenaufstellung seiner Untersuchung gibt es ausgedruckt in der Klinik.

Orte: Klinik Hirslanden (Witellikerstrasse 40) und Helmhaus (Limmatquai 31)


Matthias Wermke und Mischa Leinkauf: Aktion «White American Flags» (2014). Installation mit Dokfilm: SYMBOLIC THREATS (2015)

SITES UNDER CONSTRUCTION – Historische Ausstellung

 

Neben den 30 Neuproduktionen versammelt Christian Jankowski zusammen mit seiner Co-Kuratorin Francesca Gavin unter dem Titel «Historical Exhibition: Sites under Construction» weitere rund 200 bereits bestehende Werke zu menschlicher Arbeit und Beruf. Ein besonderes Augenmerk gilt hier den konkreten Arbeitsbedingungen der Künstler selbst. Die an einem durchlässigen Gestellsystem (Conen Sigl Architekten) präsentierten historischen und zeitgenössischen Positionen werden dabei in elf thematische Kapitel unterteilt und halten neben Bekanntem viele Entdeckungen bereit – für die man sich aber Zeit nehmen muss.

 

Die Rubrik «Porträts von Berufen» fragt danach, wie Berufe dargestellt werden, neben bekannten Klassikern wie August Sanders «Werktätigenporträts» treffen wir hier auch auf Gianni Mottis sagenumwobene Seife «Mani Pulite» (2005), die aus dem abgesaugten Fett von Silvio Berlusconi entstanden sein soll.

Das Kapitel «Selbstporträts und Eigenwerbung» beleuchtet Überschneidungen und Unterschiede in der Eigenwerbung von Unternehmen und Individuen, und es werden Strategien beleuchtet, wie sich Künstler selbst zu Markte tragen. Zwischen Kunststars wie Chris Burden und Mel Bochner verstecken sich auch immer wieder Nichtkunstwerke, wie etwa das witzige Wahlkampagnenvideo des polnischen Politikers J¸edrzej Wijas, der sein Programm als Heavy Metal Clip vorträgt.

Das Kapitel «Arbeitswelten» zeigt den Arbeitsplatz als Produktionsort, wo Ideen eine Form erhalten. Die Kuratoren lassen auch hier die Welten aufeinanderprallen, indem sie Kunstmarktliebling Andreas Gursky neben Mark Lombardi (und seine feinen Diagramme von Verschwörungsnetzwerken zwischen Politik und Finanzaristokratie) positionieren.

Auch den «Berufen in der Kunstwelt» ist ein eigener Ausstellungsraum gewidmet. Er zeigt, dass der Künstler lediglich eine Stelle in einer komplexen Hierarchie einnimmt, die von der Ausstellungsaufsicht bis zum Kurator, vom Künstlerpraktikanten bis zum «Art Advisor» reicht. Lakonisch bringt dies das Video «How to Curate Your Own Group Exhibition» (1996) von Michael Smith auf den Punkt, oder auch Margrit Jägglis Spiegel-Bild von 1974 («Die Herren Hanhart und von Castelberg, den Ankauf dieses Kunstwerks erwägend»).

Die Sektion «Kunst als zweiter Beruf» thematisiert, wie Menschen mit unterschiedlichen beruflichen Hintergründen (u.a. Medizin, Finanzwesen oder Informatik) mit grossem Erfolg Kunst geschaffen haben. Dieter Meier etwa, den die meisten als Popmusiker kennen, ist hier mit einer frühen Fotoarbeit («Given Names», 1976) vertreten.

Die Gruppe «Berufe in der Performancekunst» versammelt Kunstwerke oder Dokumentationen, die sich mit Machtstrukturen befassen und Momente des Widerstands, der Subversion oder Affirmation zeigen. Besonders gelungen: die Dokumentation zur Aktion «White American Flags» der Deutschen Wermke/Leinkauf, die im Sommer 2014 auf der Brooklyn Bridge in New York unbemerkt die beiden US-Flaggen durch zwei weisse Fahnen ersetzten.

Orte: Löwenbräukunst (Limmatstrasse 270), Mo–So 11–20 Uhr, Do 11–22 Uhr und Helmhaus (Limmatquai 31), Mo–So 11–20 Uhr, Do 11–22 Uhr


Pavillon of Reflections (Arch: Studio Tom Emerson ETH)

PAVILLON OF REFLECTIONS

 

Schon bei der Eröffnung zeichnete sich ab, dass das riesige Holzfloss auf dem Zürichsee die Ikone der Manifesta 11 werden würde. Gebaut wurde es von Studierenden des Studios Tom Emerson an der ETH Zürich, grosszügig unterstützt von den EKZ (CHF 1 Mio., wird gemunkelt). Tagsüber funktioniert das Floss hauptsächlich als Badi, abends kann man an der Bar einen Drink schlürfen und dem Stress der Arbeitswelt entfliehen.

 

Auf der grossen LED-Bildschirmwand wird ab 20 Uhr allabendlich der dritte Teil der «Joint Ventures» gezeigt: eine Serie von experimentellen Filmen («Art Docs»), die Einblick in die Produktion, Präsentation und Interpretation der 30 Neuproduktionen gibt. Dafür hat Kurator Jankowski Zürcher Schüler als sogenannte «Art Detectives» angeheuert, die Entstehung der Werke zu begleiten und die Künstler wie auch ihre Gastgeber zum Werk zu befragen. Produziert wurden die Clips von Filmstudierenden der Zürcher Hochschule der Künste nach einem strengen Set von Regeln, die Jankowski eigens von Jean-Luc Godard absegnen liess. Man schaut hier für einmal nicht den Profis zu, wie sie sich der Kunst nähern, sie betrachten und analysieren, sondern jungen Menschen, die lernen und gleichzeitig vermitteln – Rezeption und Reflexion überlappen sich. Den Namen trägt der Pavillon also auch bei Regenwetter zu Recht.

Der «Pavillon of Reflections» ist auch Schauplatz eines weiteren prominenten «Joint Ventures», das gutes Wetter mehr als verdient hat: Der italienische Kunstclown Maurizio Cattelan hat sich die Manifesta ausgesucht, um aus seiner Frührente zurückzukehren, die er sich anlässlich seiner Retrospektive 2011 im New Yorker Guggenheim Museum selbst auferlegt hat. Für sein Comeback hatte er beim Schwimmen eine Vision: Wie Jesus übers Wasser lief, so soll ein Rollstuhl über den Zürichsee fahren. Darin: die bekannte paralympische Sportlerin und mehrfache WM- und EM-Siegerin Edith Wolf-Hunkeler.

Im Paraplegiker-Zentrum Nottwil wurde in der Folge ein rollstuhl-betriebener, tiefgelegter Katamaran gebaut. Über einen Rollenantrieb wird seine Schraube angekurbelt, während die Sportlerin an ihren Rädern dreht und so scheinbar schwerelos über den See gleitet. Wegen des Wellengangs hat das an der Vernissage noch nicht ganz einwandfrei funktioniert – ein Assistent landete im Wasser.

Laut Cattelan soll die Rollstuhl-Metapher an die Beschränkung der Menschen erinnern und gleichzeitig auch an die Möglichkeit, diese zu überwinden. Edith Wolf-Hunkeler hat keinen festen Plan, wann sie das nächste Mal vom Pavillon aus aufbrechen wird, um über den Zürichsee zu fahren. Sie wird ganz spontan wieder auftauchen – ganz wie Witzbold Maurizio Cattelan im Kunstbetrieb.

Ort: Bellevue/Utoquai, Mo–So 8–24 Uhr, Mittwoch bis 17 Uhr,
Filmvorführungen ab 20 Uhr
Eintritt: CHF 6.–, mit Manifesta-Eintrittskarte gratis


Pablo Helguera: aus der Reihe «Artoons» (2008–2016)

ARTOONS – Pablo Helguera und die Soziologie der Kunst

 

Der aus Mexiko stammende Künstler und Vermittler Pablo Helguera lebt in New York, wo er die Abteilung für Erwachsenenbildung am MoMA leitet. Neben seiner künstlerischen Arbeit, die er mit «socially engaged art» umschreibt, zeichnet er seit 8 Jahren regelmässig sogenannte «Artoons», Cartoons im Stil des «New Yorker», allerdings fokussiert auf die Kunstwelt. An der Manifesta 11 sind viele davon zu sehen.

 

Pablo, in deinen Artoons nimmst du regelmässig das Kunstsystem aufs Korn. Wo siehst du Unterschiede der Schweizer Szene im Vergleich zu den USA?

Es ist verblüffend zu sehen, in welchem Ausmass Geld und finanzielle Interessen eine Rolle auf dem Schweizer Kunstplatz spielen. Ich komme zwar aus New York, da ist man einiges gewohnt, aber hier finde ich es noch ausgeprägter. All diese Zollfreilager voller Kunstwerke, die nur auf den richtigen Zeitpunkt warten, verkauft zu werden. Bilder sind hier offenbar zuerst Geldanlagen geworden.

 

Wie sieht denn der amerikanische Stil aus?

Zeig, was du hast! Man nennt auch gern mal ein Museum nach sich und steigert so seinen Marktwert. Der Schweizer macht das eher nicht. Der hohe Stellenwert von Geheimnis und Diskretion ist mir leicht suspekt. Das ist wohl auch kulturell bedingt.

 

Du willst also nicht hierher auswandern?

Nun, du sprichst mit jemandem, der in Mexiko aufgewachsen ist, wo man schlicht glücklich sein musste, wenn man überhaupt einen Job hatte. Und was ich hier kennenlerne – entschuldige, wenn ich das so sage, sind für mich vor allem: Luxusprobleme.

 

Zum Beispiel?

Dass man sich hier konkret Systeme wie das bedingungslose Grundeinkommen vorstellen kann – und dann auch noch darüber abstimmen darf. Das ist aus meiner Warte eigentlich unvorstellbar. Das Wissen darum hat denn auch zu «Bolito Husserl», dem Hauptcharakter meines neuen Comic Strips, geführt. Während der Manifesta erscheint er wöchentlich im MAGAZIN und in der Ausstellung.

 

Kannst du diesen Charakter näher erklären?

Bolito Husserl ist auf der Suche nach einem Job. Er verfügt auch über ein enormes Wissen – findet aber genau deshalb nirgends eine Anstellung. Die fast absurde Überqualifikation von Bolito zeigt die Kehrseite einer gesellschaftlichen Tendenz zu hochspezialisierten Aus- und Weiterbildungen, derweil seine Odyssee von Anläufen und Absagen die Realität des in gewissen Bereichen gesättigten Schweizer Arbeitsmarktes offenbart.

 

Bolito war nicht deine erste Erfindung. Wie kam es zu den Artoons?

Ich bin vor allem an der Soziologie der Kunst interessiert und mache schon lange Cartoons, habe das aber nie als seriöse Kunst betrachtet, auch weil das Kunstpublikum generell einen fürchterlichen Sinn für Humor hat. Die ersten Veröffentlichungen fanden erst auf Facebook statt: Da ich nicht gerne Fotos poste und die Aufmerksamkeitsspanne maximal 3 Sekunden beträgt, fand ich das für die Artoons einen optimalen Präsentationsrahmen. Inzwischen erscheinen sie auch in «The Art Newspaper» und im «Frieze Magazine» – und nun sind sie, wie ich, sogar zur Manifesta eingeladen worden. Das freut mich sehr.

 

Du wirst auf der Manifesta auch einen Workshop leiten, worum geht’s?

Ich werde mit einer Gruppe von Leuten das «Dictator Game» spielen, das kommt aus der experimentellen Ökonomie und kreist um den Begriff der «inequality aversion»: Konkret gebe ich erst zwei Leuten reales Geld. Einem dabei viel mehr als dem anderen, dann schauen wir, ob jemand teilt. Später mache ich dann einen zum Diktator und der kann entscheiden, ob er alles Geld einsackt – oder eben nicht. Mal sehen, wie Zürich sich da schlägt.

Ort: Löwenbräukunst (Limmatstr. 270) sowie im MAGAZIN


Cabaret der Künstler – Zunfthaus Voltaire (Arch: Studio Alex Lehnerer ETH)

CABARET DER KÜNSTLER – ZUNFTHAUS VOLTAIRE

 

Die Manifesta 11 fällt zeitlich mit dem 100-Jahr-Jubiläum des Dadaismus zusammen, der im Cabaret Voltaire an der Spiegelgasse aus der Taufe gehoben wurde, das damals als ein Ort des organisierten Unsinns gegen den Wahnsinn des Ersten Weltkrieges antrat. Für Christian Jankowski lag es auf der Hand, auch diesen geschichtsträchtigen Ort zu bespielen. So wird es für die 100 Tage der Manifesta zum «Cabaret der Künstler – Zunfthaus Voltaire» und zur siebenundzwanzigsten Zunft in Zürich, der ersten Zunft für Künstler überhaupt.

 

Von Mittwoch bis Samstag werden hier allabendlich «Joint Venture»-Performances über die Bühne gehen. Wer sie sehen will, muss selbst einen Entwurf für eine Performance einreichen – und damit zeigen, dass er oder sie künstlerisch tätig ist. Dazu sollte der Bewerber getreu dem Manifesta-Konzept mit einem Berufstätigen aus einer anderen Branche zusammenarbeiten. Die Bewerbung kann direkt im Cabaret des Künstler-Zunfthauses Voltaire abgegeben werden. Im Gegensatz zu traditionellen Zünften, in denen die Herkunft und der Status das Zulassungskriterium darstellen, ist für die Aufnahme in die Zunft der Künstler einzig die Bereitschaft zur Produktion und Partizipation erforderlich. Jeder, der an einer Joint-Venture-Performance teilnimmt, wird automatisch Mitglied der Zunft.

Gründungsmitglieder der Zunft der Künstler sind unter anderen Thomas Hirschhorn, Gianni Motti, Christian Jankowski und Manon. Als Zunftmeister fungiert der Schweizer Künstler Manuel Scheiwiller. Bereits in den ersten Tagen traten eine Reihe von bekannten Künstlern im Cabaret der Künstler auf: Peaches aus Berlin, Gelitin aus Wien oder Kim Gordon aus New York. Ein Programm über die kommenden Auftritte findet sich auf der Manifesta-Website.

Spontane Performer können jeden Mittwoch von 20 bis 24 Uhr oder an den weiteren Programmabenden zwischen 20 und ca. 22 Uhr auftreten. Einzige Bedingung dafür ist das Einhalten der Vorgaben für eine Joint-Venture-Performance, eine Handskizze der Idee (A4/Hochformat) und deren Absegnung durch den Zunftmeister Manuel Scheiwiller vor Ort.

Die radikale Umgestaltung des altehrwürdigen Cabarets Voltaire in ein anonymes Bürogebäude erfolgte übrigens von ETH-Studierenden unter der Leitung von Professor Alex Lehnerer: Von aussen grüsst nun ein überdimensionaler kristalliner Erker, das Innere kriegt nur zu Gesicht, wer performt.

Ort: Spiegelgasse 1

Zunft-Studio und Shop: Mo–Fr 11–19 Uhr, Sa 10–18 Uhr, So 12–17 Uhr

Café und Bar: Mo–Do 11–24 Uhr, Sa 10–02 Uhr, So 12–19 Uhr

Performance-Saal: Mi–Do 20–24 Uhr, Fr–Sa 20–02 Uhr

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