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(7) Der vergessene Mittelstand
Karin Keller-Sutter, www.parlament.ch.

(7) Der vergessene Mittelstand

Freiheit meint nicht Beliebigkeit und verlangt vom einzelnen Verantwortung. Das ist eine politische Botschaft, die sich nicht spielerisch kommunizieren lässt. Warum die Wahlkampagne der FDP versagt hat – und warum eine Rückbesinnung auf die liberalen Grundprinzipien not tut.

«Freiheit kann man nicht kaufen, aber wählen.» Mit diesem Slogan sind die Schweizer Freisinnigen in die eidgenössischen Wahlen 2007 gestiegen. Der Slogan vermittelt in einer Kurzformel, dass die FDP für eine Politik der Freiheit steht – dafür bittet sie die Wähler um ihre Stimme. So weit, so gut. Ich bin einverstanden, auch ich bin Mitglied der FDP und wähle die FDP, weil der Kern ihrer Politik in der Verteidigung der Freiheit liegt. Doch das kann nicht alles sein.

Dass die Kampagnenverantwortlichen Programme auf Botschaften reduzieren, ist ihnen nicht zu verübeln, denn das ist genau das, was viele Freisinnige fordern. Wir sollen kürzer, plakativer und einprägsamer werden. Wer den Slogan jedoch genau analysiert, erkennt, dass darin auch ein Teil der Erklärung für die Wählerverluste in den letzten Jahren liegt. Es wäre nämlich zu einfach und zu billig, den Grund hierfür bei einzelnen freisinnigen Exponenten oder bei den anderen Parteien allein zu suchen. Die eigentlichen Ursachen liegen tiefer.

Wer eine Politik der Freiheit vertritt, muss erklären, was das Ziel solcher Politik ist. Die Antwort darauf scheint einfach: eine Politik der Freiheit will die grösstmöglichen Wahlchancen für alle Menschen in einer Gesellschaft. Und dies ist denn wohl auch das grösste Verdienst der Freisinnigen. Sie haben die Schweiz seit 1848 wesentlich mitgeprägt und mit ihrer Politik dazu beigetragen, dass wir alle viel freier leben als zur Gründerzeit. Doch es gibt eine Kehrseite. Wahlchancen haben nämlich nur dann Sinn, wenn sie in ein Wertesystem eingebettet sind und wenn in einer Gesellschaft verantwortungsvoll mit den Grundwerten umgegangen wird. Oder einfach ausgedrückt: Freiheit bedeutet nicht Beliebigkeit. Wahlmöglichkeiten finden nur dann einen Sinn, wenn gleichzeitig auch tragfähige soziale Bindungen vorhanden sind. Und hier sehe ich eine Kernursache für den Wählerrückgang der FDP.

Was ist passiert? Freiheit und Verantwortung wurden in den letzten Jahren zunehmend getrennt. Möglichst viel Verantwortung beim Staat, möglichst viel Freiheit beim Einzelnen. Viele Menschen in unserem Land haben den Eindruck, die Individualisierung sei zu weit gegangen und daraus sei ein Egoismus entstanden, der mit Verantwortung für sich und andere nichts mehr zu tun habe. Die Debatte über die teils exorbitanten Managergehälter ist ein Symbol für das, was in der Bevölkerung als exzessive Ausübung der Freiheit empfunden wird. Die Linke hat den Steilpass dankend aufgenommen und alles, was mit Leistung zu tun hat, in die Abzockerecke gedrängt. Die FDP hat es versäumt, den Menschen zu erklären, dass Freiheit nur gepaart mit Verantwortung möglich ist und dass Anstand und Moral sich nicht staatlich verordnen lassen.

Der beschleunigte und intensivierte internationale Wettbewerb hat paradoxerweise zum Rückgang des Freisinns beigetragen. Die Menschen profitieren zwar alle von mehr Wohlstand und Mobilität. Gleichzeitig sind sie jedoch angesichts der unaufhaltsamen Veränderungen verunsichert. Viele Menschen fühlen sich überfordert, haben den Eindruck, den vielfältigen Erwartungen nicht mehr zu genügen.

Die internationale Wirtschaft folgt den Gesetzen der Freiheit. Menschen, Kapital und Waren bewegen sich mit zunehmender Geschwindigkeit nahezu grenzenlos. Es entsteht der Eindruck, als lösten sich alle bisherigen Bindungen auf. Als Gegenreaktion auf den beschleunigten gesellschaftlichen Wandel nimmt das Bedürfnis zu, das eigene und das familiäre Umfeld stabil zu halten. Die Bürger wollen Antworten auf Fragen und Sorgen, die sich in ihrem Alltag stellen: Wie finanziere ich mein Eigenheim, wie bezahle ich Steuern und Krankenkassenprämien, wie sichere ich die Ausbildung meiner Kinder, wie gestalte ich meinen Lebensabend, wie verbinde ich Beruf und Familie?

Auch die Fragen nach Sicherheit und Ordnung im eigenen Quartier oder auf dem Schulweg der Kinder haben hohe Priorität. Wir müssen uns bewusst sein, dass unsere Gesellschaft von denjenigen getragen wird, die sich diese Fragen stellen. Es sind dies die Menschen, die sich täglich am Arbeitsplatz und zu Hause für unseren Wohlstand einsetzen. Eltern, die sich um ihre Kinder kümmern. Unternehmer, die Arbeitsplätze schaffen. Nachbarn, die hinschauen. Sie alle vertreten Tugenden wie Fleiss, Zuverlässigkeit, Leistungsbereitschaft und Verantwortungsbewusstsein.

Das sind die Menschen, um die wir uns als Freisinnige kümmern müssen, der vergessene Mittelstand, der alles trägt und für alles aufkommt. Es ist dieser Mittelstand, der die Umverteilung finanziert. Diese Menschen haben genug vom Diktat der Minderheiten, dem sich der Freisinn aus politischer Korrektheit teils auch angepasst hat. Sie wissen nicht, warum sie für alles und jedes Verständnis haben sollen. Sie verstehen nicht, was verhüllte Frauen mit kultureller Vielfalt zu tun haben, und sie verstehen nicht, warum man am 1. Mai oder auf dem Bundesplatz alles kurz und klein schlagen darf und dafür kaum zur Rechenschaft gezogen wird.

Dabei tun wir so, als ob all das normal sei und begnügen uns mit der Feststellung, dass der Sachschaden ja nicht so gross gewesen sei. Wir Freisinnigen haben immer für die Grundrechte gekämpft, aber was sich gewisse Kreise unter Berufung auf diese Grundrechte herausnehmen, ist schlicht kriminell. Wir gelten als Hüter des Rechtsstaates. Was jedoch unter diesem Titel veranstaltet wird, hat mit Rechtsstaat nicht mehr viel zu tun. Die Beziehungen zwischen den Menschen werden zunehmend verrechtlicht. Und auch die Nächstenliebe wurde verstaatlicht. Als sozial gilt, wer das Geld verteilt, das andere verdienen.

Die letzten Wahlen haben gezeigt, dass die Bürgerinnen und Bürger hier eine Wende erwarten. Die 68er und das antiautoritäre Gedankengut haben ausgedient. Die Bürgerinnen und Bürger wollen wieder Werte und Grenzen. Diese lassen sich nicht allein über kühle Sachthemen vermitteln. Tiefe und einfache Steuern sind gut, denn sie geben den Menschen mehr Handlungsspielraum. Die Menschen erwarten vom Freisinn mehr als das. Sie wollen, dass man ihnen zuhört, sie ernst nimmt, auch dann, wenn es sich um Themen handelt, die man nicht im Wirtschaftsteil der NZZ findet. Und sie dürfen zu Recht von uns erwarten, dass wir nach unseren Grundsätzen leben und Freiheit stets mit Verantwortung verbinden. Diese Menschen erwarten nicht vom Staat, dass er ihnen alle Sorgen abnimmt. Aber sie erwarten vom Staat, dass er ihnen nicht ständig noch mehr aufbürdet und sie in ihrer persönlichen Freiheit einschränkt. Sie wollen nicht noch mehr Umverteilung, Steuern, Verbote und Kontrollen.

Es ist nicht die Aufgabe des Staates, die Bürgerinnen und Bürger zu bevormunden, sie an der Hand zu nehmen und sie durchs Leben zu führen. Die Aufgabe des Staates ist es, für Rahmenbedingungen zu sorgen, damit alle eine faire Startchance bekommen und sich frei entscheiden und entfalten können. Auf diese Kernaufgabe muss sich der Freisinn konzentrieren. Als die Partei, die als Gründerin des modernen Bundesstaates gilt, haben wir die einmalige Chance, Tradition und Moderne miteinander zu verbinden, denn eine Gesellschaft kann nur dann erfolgreich sein, wenn sie zu ihren Traditionen und Grundwerten steht, diese pflegt und auch verteidigt, gleichzeitig aber auch den Wandel ermöglicht.

Dabei müssen wir uns konsequent auf den freien und verantwortungsbewussten Menschen ausrichten. Als Richtschnur gelten dabei die liberalen Grundsätze: Privat kommt vor Staat, Erwirtschaften vor Verteilen und Freiheit vor Gleichheit. Mehr Freiheit hat aber nur dann Sinn, wenn gleichzeitig darauf geachtet wird, dass die sozialen Bindungen in unserer Gesellschaft tragfähig bleiben.

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