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Das Meer in der Stadt

Eine photographische Reise an einen Ort unserer Sehnsucht

Das Meer in der Stadt
(c) Giorgio von Arb

Jeder Gedanke ans Meer zieht uns an wie die tiefste Stelle der Badewanne das Wasser, öffnet neue Räume, spült verschüttete frei. Durch kleine Meerzeichen erst wird uns dieses Land grösser, in dem uns oft so kalt ist und so grau. Zwischen Kulissen leben wir eine bittere und peinliche Sehnsucht nach dem unendlichen Meer in oft so bleichen, kleinen Bildchen, die uns menschlicher erscheinen lassen, betrügbarer aber auch. Dieses Meer hier in der Stadt entblösst so viele von uns als kleine Triebtäter, Nichteingezogene in unseren neuen Quartieren, Nichtangefreundete mit unseren neuen Maschinen, Nichtzufriedengestellte von unseren neuen Helden.

Das gebändigte Wasser um uns herum taugt gar als Ersatz für das abgerückte Meer, die brackigen Pfützen, die lahmen Wasserarme, die fragwürdigen Untiefen, die eckigen Chlorbäder. Wir küssen entzückt die Glassärge der Konservierungskünstler, reiben uns die Hände warm an der rauhen Haut der ausgestopften Tiefseemythen. Gerätefrei verleiben wir uns das Feinste vom Meer ein, den grossen Rest werfen wir vor die Hunde.

Noch mehr als in den nachgebauten Städten am Meer bleibt das Meer in den Städten von unseren Sinnen ausgesperrt, ein in unsere Köpfe gezwängtes hellblaues Vexierbild. Dabei verbarrikadieren wir uns selbst am Meer hinter Schutzfaktoren und Sonnenbrillen, stülpen uns Stadtmusik über die unerhörten Wellen, schaffen an den lauteren Rändern des Meeres Bedingungen, dank denen wir von ihm möglichst nicht an seine Bedingungslosigkeit erinnert werden und an unsere Angst davor.

Wie alles Unermessliche bewältigen wir scheinbar auch das Meer mit unserer Grossmut, stellen überheblich immer etwas dazwischen: Die Gedanken an die Zukunft oder das Surfbrett, Gummisandalen, die veraltete Zeitung aus der Heimat, unsere posterotischen Phantastereien, einen geheizten Süsswasserpool. Mit starker Hand beherrschen wir den Druckausgleich, doch tauchen wir nie allein.

Alles Wissenswerte über das Meer haben wir festgehalten, es in Zahlen und Werte aufgesplittert und in unsere Bibliotheken gepresst. Dulden wir den Wassermann noch in den Sternen, hängt die Meerjungfrau aus rohem Holz geschnitzt über dem Tresen.

So füllen wir das Meer mit unseren Schuldscheinen, auf seinem Grund suchen wir uns schon vertrautes Land. Dann packen wir das Meer in unseren Koffer auf die lange Rückkehr in die Stadt und nageln es uns an die Bretter vor dem Kopf.

Unsere Beziehung zum Meer ist allerorts Ausdruck unseres Unvermögens, an dem Ort zu sein, an dem wir sind.

Wir nennen es Meer, so wie wir anderes Freiheit nennen oder Liebe.

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