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Schlummernde Vulkane

Damit eine Protestbewegung zündet, braucht es nicht nur ein drängendes Problem, sondern auch die passende Gelegenheit. Meist baut die scheinbar spontane Eruption auf sehr unspontaner Vorbereitung auf.

Schlummernde Vulkane
Jochen Roose, fotografiert von Jörg Klamm.

Die Geschichte des Kampfes zwischen David und Goliath ist immer wieder aufs neue faszinierend. Und so fasziniert auch die Geschichte von Greta Thunberg die Welt. Da weigert sich eine schwedische Schülerin, zur Schule zu gehen, und setzt sich stattdessen mit einem Schild vor das Parlament in Stockholm, um für besseren Klimaschutz zu demonstrieren. Nur ein Jahr später finden in vielen Ländern Demonstrationen von Schülerinnen und Schülern unter dem Titel «Fridays for Future» statt. Greta Thunberg ist zu einer Art Ikone geworden, bewundert und umjubelt, aber auch kritisiert und gehasst. Mit einem Pappschild hat sie eine länderübergreifende Klimaschutzbewegung ins Leben gerufen. Es ist das aktuelle Beispiel für die eruptive Kraft sozialer Bewegungen. So scheint es zumindest. Wenn wir genauer hinsehen, ergibt sich ein etwas anderes Bild. Bewegungen werden zwar oft recht überraschend sichtbar, doch es gibt immer eine längere Vorgeschichte. Die spontane Eruption von Protest baut auf sehr viel unspontaner Vorbereitung auf.

Protest als Organisationsproblem

Protest ist zunächst eine Organisationaufgabe. Wie sonst sollten Menschen wissen, wann sie wo demonstrieren oder eine Petition unterschreiben sollen? Proteste und Bewegungen bauen also auf einer organisatorischen Infrastruktur auf. Friedhelm Neidhardt beschrieb soziale Bewegungen als «mobilisierte Netzwerke von Netzwerken». Es braucht Ressourcen, um solche Netzwerke aufzubauen und am Leben zu erhalten, und Menschen, die sich langfristig engagieren, um mehr oder minder formal verfasste Gruppen und Organisationen zu gründen. So entstehen lose Verbindungen. Über die Zeit können sich daraus starke Strukturen bilden, die eine erhebliche Zahl von Freiwilligen einbinden und nennenswerte Ressourcen zusammenbringen. Ihre Aktivitäten können lange Zeit auf einen lokalen Rahmen beschränkt und der breiten Öffentlichkeit nicht bewusst sein. Kommt es dann aber zu einem Anlass, zu einer Gelegenheit, lassen sich über diese Netzwerke viele Menschen mobilisieren, die wiederum weitere neu einbinden. Grosse Proteste entstehen keineswegs «aus dem Nichts». Das gilt auch für «Fridays for Future». Bevor Greta Thunberg sich zum ersten Mal vor das schwedische Parlament gesetzt hat, hat sich in der Klimabewegung über Jahrzehnte viel bewegt. Eine Vielzahl von Organisationen hat sich mit Klimawandel beschäftigt und zu Protesten aufgerufen. Treffen haben stattgefunden, Vereinbarungen wurden ausgehandelt, von den einen gelobt, von den anderen kritisiert. Die Vorgeschichte reicht sogar noch deutlich weiter zurück. Schon lange bevor vom Klimawandel die Rede war, hat die Naturschutz- und Umweltbewegung mobilisiert. Bevor eine Bewegung als Bewegung sichtbar wird, hat ein langer Prozess der Vernetzung stattgefunden.

«Grosse Proteste entstehen keineswegs ‹aus dem Nichts›.»

Mit der Verbreitung von Internet und sozialen Netzwerken haben sich die Möglichkeiten der Vernetzung verändert. Nicht nur ist Kommunikation schneller und billiger geworden, es ist auch leichter möglich, Gleichgesinnte zu finden und Kontakt zu ihnen aufzunehmen. Heute ist es sehr viel einfacher, eine Infrastruktur für Protestmobilisierung zu finanzieren und sich über grosse Distanzen zu vernetzen. Doch diese Vereinfachung ist ein zweischneidiges Schwert, denn sie führt auch zu einer Inflationierung von Protestmobilisierern. Nicht nur, dass immer irgendwer irgendwo mit irgendetwas unzufrieden ist, es können auch alle (oder zumindest sehr viele) Menschen ihr Anliegen in die Welt hinausposaunen, Gleichgesinnte kontaktieren und auf die Dringlichkeit genau dieses einen Anliegens, so speziell es auch sein mag, mit Nachdruck aufmerksam machen. Ein Blick auf einschlägige Webseiten für Petitionen mag dieses Argument illustrieren. Umgekehrt muss sich nun jedes Protestanliegen in einer immer grösseren Konkurrenz von Protestthemen behaupten. Dies gilt für die Mobilisierung von Unterstützern genauso wie für die Ansprache von Adressaten. Beide Seiten werden dann in immer schnellerer Folge von Protestanliegen überhäuft.

Informieren und Überzeugen

Um in dieser Konkurrenzsituation zu bestehen, sind gute Argumente umso wichtiger. Es braucht eine Position und deren Unterfütterung, die viele Menschen überzeugt. Aber was sind «gute» Argumente und was überzeugt viele? Ausgangspunkt einer Bewegung ist immer ein Problem. Doch Probleme gibt es nicht als solche in der Welt. Ein Problem ist die Abweichung des Ist-Zustandes von einem Soll-Zustand – entsprechend muss die Bewegung darlegen, wie die Situation faktisch ist. Ein Schlüssel ist dabei eine wissenschaftliche Absicherung der Argumente. Nicht in jedem Fall ist das möglich. Manche Befunde sind uneindeutig, manche Zusammenhänge lassen sich nicht schlüssig nachweisen. Auch Alltagsplausibilität kann ein Ersatz für wissenschaftlich abgesicherte Evidenz sein.

«Es gibt die Vorstellung eines authentischen, plötzlichen Aufbegehrens des Volkswillens, der einem Vulkan gleich lange vor Unzufriedenheit brodelt und sich dann mit einem Mal Bahn bricht.»

Hinsichtlich der Frage, was als Tatsache akzeptiert wird, hat sich in den letzten Jahren viel verändert. Vor allem rechtspopulistische Parteien und Bewegungen untergraben gezielt die Glaubwürdigkeit der Wissenschaft und stellen den Wahrheitsanspruch wissenschaftlicher Erkenntnisse in Frage. Ähnliches gilt für die Massenmedien als Verbreitungsorgane geprüfter und damit wahrer Information. Expertise und Wissenschaftlichkeit als Goldstandard für den Beleg von Tatsachen werden systematisch angegriffen. Der Vorwurf der «Lügenpresse» stellt ganz grundsätzlich die Glaubwürdigkeit von Zeitungen und Massenmedien in Frage. Stattdessen dienen ungeprüfte Einzelbeispiele, oft verbreitet über soziale Netzwerke, als Beleg und Wahrheitstest – wenn es denn überhaupt eines Beleges bedarf und den Unterstützern nicht schon der Verweis genügt, man «wisse» es ja. Kritik am Nachweismonopol der Wissenschaft ist aber keineswegs ein neues Phänomen. Die Umweltbewegung stellt beispielsweise bereits seit den 1970er Jahren die alleinige Deutungshoheit der Naturwissenschaften insbesondere in bezug auf Risikotechnologien wie Atomenergie oder Gentechnik in Frage. Die Antwort dieser Bewegung war damals aber nicht (oder nicht dauerhaft) der Verzicht auf Expertise, sondern der Aufbau von Gegenexpertise. Sie entwickelte den Anspruch, selbst fachlich sprechfähig zu werden und die interpretatorischen Spielräume innerhalb des wissenschaftlichen Prozesses zu beleuchten. In welchem Masse die aktuellen rechtspopulistischen Mobilisierungen einen ähnlichen Weg beschreiten werden, ist noch offen.

Mit der Feststellung von Tatsachen ist es für eine Bewegung aber noch nicht getan. Eine Situation, so gut sie auch belegt sein mag, wird erst dann zum Problem, wenn sie zentrale Werte verletzt. Soziale Ungleichheit etwa ist nur dann problematisch, wenn sie gegen eine gesellschaftlich erwartete Gleichheit verstösst, die Rodung eines Waldes ist es nur dann, wenn sie als die Zerstörung bewahrenswerter Natur betrachtet wird. Eine Bewegung erhält umso mehr Stosskraft, je wichtiger die verletzten Werte für einen möglichst grossen Teil der Bevölkerung sind. Wenn sie imstande ist, glaubhaft darzulegen, warum die Situation gegen eine zentrale gesellschaftliche Norm verstösst, können Empörung und Widerspruch entstehen. Ist der Wert selbst dagegen nicht genügend verankert, wird auch eine Abweichung keinen nennenswerten Widerspruch hervorrufen. Wenn beispielsweise der Erhalt einer gänzlich unverfälschten Schriftsprache kein wichtiger Wert ist, hat es auch die Mobilisierung gegen eine Rechtschreibreform schwer.

Bewegungen sind in dieser Hinsicht allerdings erfinderisch. Sie können neue, zuvor wenig verbreitete Werte mit anderen in Beziehung setzen, um ihre Sichtweise anschlussfähig zu machen. Mag die Unverfälschtheit einer Schriftsprache auch wenig wichtig erscheinen, der Schutz historischer Kulturgüter könnte es durchaus, und wenn es gelingt, die Schriftsprache als ein solches Kulturgut zu verstehen, könnte das Anliegen Gehör finden – oder auch nicht. Letztlich ist oft schwer vorherzusagen, was in einem bestimmten Moment überzeugt und was als unrealistisch oder irrelevant abgetan wird. Die Frage, welche Werte und Argumente in einer Gesellschaft plausibel erscheinen und «Resonanz» erzeugen, weist über die bewussten Werte und Normen einer Gesellschaft hinaus. Darum hat sich die Bewegungsforschung auf die Suche nach den Tiefenstrukturen des Denkens gemacht und will herausfinden, was für absolut offensichtlich und was für ganz und gar irrsinnig gehalten wird. Die Selbstverständlichkeiten sind weit schwerer zu fassen als die formulierbaren Überzeugungen. Dieses Interesse ist nicht nur ein akademisches, sondern zum Teil auch ein Anliegen der Bewegungen selbst. Beispielsweise haben Bewegungen rund um Geschlechterfragen – wie die Frauenbewegung, Homosexuellenbewegung und solche für die Anerkennung und Emanzipation anderer sexueller Orientierungen – in einem langen Prozess der Mobilisierung und Argumentation die Sichtweise der Gesellschaft grundlegend verändert. Was vor hundert Jahren offensichtliche Gegebenheit war, ist heute Gegenstand höchst kontroverser Debatten.

Gelegenheiten und Zufälle

Was allerdings Menschen letztlich überzeugt und wie Protestakteure anderen die Wichtigkeit ihres Anliegens nahelegen können, ist damit keineswegs geklärt. Wir beobachten oft, dass die Ideen und Argumente einer Bewegung über längere Zeit im Raum stehen, ohne dass viel geschieht, und auf einmal an Durchschlagskraft gewinnen, breit mobilisieren und ernst genommen werden. Diese Kippmomente stehen im Zusammenhang mit Gelegenheiten, die die Erfolgsaussichten einer Mobilisierung deutlich verändern. Wenn sich etwa das politische Gefüge verschiebt und Personen mit Sympathien für das Anliegen einer Bewegung in einflussreiche Positionen gelangen, kann ihr das Auftrieb geben. Unvorhergesehene Ereignisse wie Naturkatastrophen oder auch der Reaktorunfall von Fukushima können Sichtweisen untermauern oder einen weitgehenden Konsens aufbrechen. Gelegenheiten können sich aber auch in öffentlichen Debatten ergeben, wenn neue Argumente ins Feld geführt werden und eine alternative Sichtweise plausibel machen.

«Bewegungen leben auch von ihrem Mythos.»

Unter welchen Bedingungen sich etwas verschiebt oder welches Ereignis einer Bewegung sprunghaft Auftrieb verleihen kann, lässt sich kaum vorhersagen. Und damit auch nicht, wann welche Bewegung in der öffentlichen Debatte auftaucht – sicher ist nur, dass mehrere Voraussetzungen zusammentreffen müssen. Es gibt immer einen Vorlauf, der erst mit dem Erstarken der Bewegung ins Blickfeld kommt. Schon lange vorher sind Netzwerke entstanden und wurde argumentativ eine Sichtweise vorbereitet.

Spontaneität und Planung

Das macht den immer wiederkehrenden Streit darüber, ob eine Bewegung neu oder alt ist, verständlich. Bewegungen stellen sich gerne als neu dar. Es gibt die Vorstellung eines authentischen, plötzlichen Aufbegehrens des Volkswillens, der einem Vulkan gleich lange vor Unzufriedenheit brodelt und sich mit einem Mal Bahn bricht. Diese Authentizität des Leids, das zu lange ertragen wurde und nun ungestüm herausbricht, verleiht Bewegungen Überzeugungskraft und wird deshalb gerne gepflegt. Bewegungen leben auch von ihrem Mythos. Und so basieren die «Fridays for Future»-Demonstrationen eben auch auf der Geschichte, die eine schwedische Schülerin schrieb – die moderne Variante des Kampfes von David gegen Goliath.

Und genauso regelmässig bemühen sich die jeweiligen Gegner, die lange Vorbereitungsphase und Infrastruktur hinter einem Protest darzulegen. Es soll gewissermassen entlarvt werden, wie viel Vorbereitung hinter dem Protest steckt, welche bekannten Akteure ihn von langer Hand geplant haben und «steuern». Beide Darstellungen sind gleichermassen richtig wie müssig: Proteste sind organisiert und drücken dennoch ein persönliches Anliegen aus, denn ohne Überzeugung lassen nur wenige Menschen mobilisieren. Ob Proteste eruptiv und spontan oder von langer Hand geplant sind, ist aber gar nicht entscheidend, sondern wie gross die Unterstützung wirklich ist und welche Bedeutung ihre Ziele für die Gesellschaft haben. Und da ist dann das politische System mit seinen Institutionen und Verfahren gefragt.

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