Schöne, wilde Welt
Die Ökonomie wendet sich von Modellen ab und der Wirklichkeit zu – mit bemerkenswerten Folgen.
«Öffentliche Meinungen über Themen, die dem Verstand schwer zugänglich sind, sind oft richtig, aber selten oder nie die ganze Wahrheit.» – John Stuart Mill
Der Wandel ist dramatisch. So dramatisch, dass ihn Journalisten, Politiker und Bürger in seinem ganzen Ausmass erst zu erahnen beginnen: Die Ökonomie ist auf dem Weg, eine völlig neue Disziplin zu werden. Und was sie herausfindet, so Bloomberg-Kolumnist Noah Smith, «ist teilweise revolutionär». Es wird für viele Leute verändern, wie sie die Welt sehen. «Es ist Zeit, manche unserer fundamentalen Vorstellungen über Ökonomie über Bord zu werfen», schreibt Andy Haldane, Ökonom bei der Bank of England.
Lange Zeit waren Ökonomen eine Art Mathematiker, vernarrt in Reinheit und Eleganz ihrer Modelle. Noch 1983, so zeichnete es Daniel S. Hamermesh von der University of Texas nach, widmeten sich 61,6 Prozent der ökonomischen Publikationen in den prestigeträchtigsten akademischen Fachjournalen der Theorie. Viele davon kamen gar ohne Simulationen aus. Ihre Autoren waren fast ausschliesslich Männer, die Hälfte davon unter 35, die andere zumindest unter 50 Jahre alt. Den grössten Respekt genossen Arbeiten, die möglichst anspruchsvolle Rechnereien beinhalteten, und ebendiese Rechnereien galten als ein Job für junge, fitte Männer, wie die von Hamermesh zitierte Bemerkung eines Kollegen perfekt illustriert: «Empirische Arbeit machst du dann, wenn du Theorie nicht mehr hinkriegst.»
Man darf sich die Ökonomengemeinde von vor zwei Generationen durchaus als einen hie und da leicht wahnsinnigen Haufen blitzgescheiter, mathematikversessener, blutjunger und ehrgeiziger Jungs vorstellen. Dass dabei bei aller Genialität und allem Charme manches auf der Strecke blieb, dürfte niemanden erstaunen. Nicht zuletzt die Frage, was das, was man da tat, eigentlich genau sollte. Und ob die Annahmen, mit denen man seine filigranen Kunstwerke baute, überhaupt stimmten.
«Chaotische Wirklichkeit der Wirtschaft»
Doch die Zeiten haben sich geändert, und zwar drastisch. Bei vielen jüngeren Forschern ist heute eine Haltung zu spüren, die Kritiker früheren Generationen von Ökonomen oft absprachen: Demut angesichts der Wunder der Welt.
«Über weite Strecken des 20. Jahrhunderts war die Ökonomie dominiert von den Vorstellungen, dass Menschen stets rational sind, Märkte effizient und Institutionen optimal gestaltet und dass Marktwirtschaften dazu neigen, sich selber zu korrigieren und ein natürliches optimales Gleichgewicht zu finden», heisst es auf der Webseite des Institute of New Economic Thinking INET der Universität Oxford. «Neues ökonomisches Denken nimmt angesichts der chaotischen Wirklichkeit der Wirtschaft eine realistischere Sichtweise ein.» Wirtschaft habe viel mehr gemein mit komplexen Systemen wie dem Ökosystem, dem menschlichen Gehirn oder dem Internet als mit jenen simplen mechanischen Modellen, die einen Grossteil der traditionellen ökonomischen Theorie dominiert hätten. Darum brauche es eine andere Forschung: mehr Kooperation mit anderen Disziplinen, mehr Geschichtsbewusstsein und vor allem eine starke Neuausrichtung auf Ökonomie als empirische Wissenschaft.
Und tatsächlich: die heutige Generation von Ökonomen wendet sich radikal der Wirklichkeit zu. Sie experimentiert, misst, verwirft, probiert. Sie arbeitet eng zusammen mit Psychologen, Anthropologen, Geographen, mit Computerwissenschaftern und Biologen. Der Anteil der Theoriebeiträge in den von Hamermesh untersuchten Publikationen ist innert weniger Jahrzehnte auf 27,9 Prozent gefallen. Stattdessen machen eigene Feldforschung und Laborexperimente mit 42,4 Prozent den grössten Teil der Publikationen aus. Es publizieren viel mehr verschiedene Autoren, mehr Frauen, mehr Forscher über 50 und mehr Teams statt Einzelpersonen.
Die Folgen sind tatsächlich «teilweise revolutionär». Die jungen – und alten – Wilden haben innerhalb weniger Jahre vieles über den Haufen geworfen, was die Ökonomielehrbücher seit Jahrzehnten als empirisch oft unhinterfragten Gospel lehrten. Und, in manchen Fällen, Wirtschaftsfeinde ebenso empirisch unhinterfragt und leidenschaftlich abstritten.
Mindestlöhne sorgen für mehr Arbeitslosigkeit? Es kommt darauf an. An manchen Orten zu manchen Zeiten lässt sich das beobachten, an anderen nicht. Es hängt selbstverständlich von der Höhe eines Mindestlohns ab, ausserdem aber auch von der generellen Robustheit und Flexibilität des Arbeitsmarktes, dem Qualifikationsniveau der Bevölkerung, der Konjunktur.
Mehr Freihandel ist gut? Es kommt darauf an. Grundsätzlich und langfristig ja, eindeutig, für bestimmte Gruppen und mittelfristig nicht zwingend.
Sozialhilfe macht eine Gesellschaft unproduktiv? Eben: es kommt darauf an. Wenn sie pauschal und zu grosszügig ausbezahlt wird, tendenziell ja, wenn sie beispielsweise an junge Menschen in Ausbildung oder in Notfällen schnell ausbezahlt wird, ist an manchen Orten das Gegenteil der Fall.
Es kommt darauf an. Und letztlich ist der Entscheid, welchen Preis wir lieber bezahlen als einen andern – kostenlos ist nichts –, ein politischer, anstrengender und risikoreicher. Selbstverständlich ist diese Antwort nicht von der Göttlichkeit reiner Mathematik. Aber es ist eine, mit der man hier auf Erden arbeiten kann, ja arbeiten muss.