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Der kritische Punkt

Die Stärke des Frankens ist Ausdruck der Stärke der Schweizer Volkswirtschaft. Sie widerspiegelt zugleich die Schwäche von Euro und Dollar. Die Schuldenwirtschaft der EU-Staaten und der USA beginnt ihren Tribut zu fordern. Soll sich die Schweiz den schwachen Ländern anpassen? Oder doch lieber auf ihre Stärken setzen?

Wer im Ausland einkauft, dem kommt der starke Franken gerade recht. In der exportabhängigen Wirtschaft indes steigt die Nervosität. Wer seine Produkte und Dienstleistungen nun im Vergleich zum Vorjahr mit heftigem Preisaufschlag ins Ausland verkaufen muss, stöhnt unter der geschmälerten Wettbewerbsfähigkeit. Günstig war die Schweiz noch nie, aber jetzt, so scheint es, ist ein kritischer Punkt erreicht.
Der Franken beinahe auf Parität mit dem Euro – wer hätte das gedacht? Zur Zeit der Euro-Bargeldeinführung 2002 waren für einen Euro 1.47 Franken zu bezahlen. Dann wertete die Gemeinschaftswährung mehrere Jahre auf; die Schweizer Exporteure hatten Rückenwind. Der Höhepunkt der Kursentwicklung war der Oktober 2007, als für einen Euro 1.68 Franken bezahlt werden mussten. Seither allerdings ging es für den Euro bergab. Die Schweizerische Nationalbank (SNB) intervenierte Ende 2009, indem sie am Devisenmarkt Euro aufkaufte und den Wechselkurs künstlich über der Marke von 1.50 Franken je Euro zu halten versuchte. Doch von Dauer war die Wirkung nicht. In fast gerader Linie bewegte sich der Kurs seit Anfang 2010 auf die Parität zu – unter Ignorierung der verschiedenen SNB-Interventionen. Gegenüber dem Dollar sieht die Entwicklung ähnlich aus: Anfang des Jahres 2007 bekam man für einen Franken 0.80 Dollar, heute sind es gut 1.30 Dollar.

Der Franken sei überbewertet, lautet die Klage. Was heisst das eigentlich – überbewertet? Ein Wechselkurs ist ein Preis: der in der einen Währung denominierte Preis, der für eine Einheit einer anderen Währung zu zahlen ist. Ein Preis ergibt sich aus Angebot und Nachfrage. Im Fall einer Währung indes richten sich Angebot und Nachfrage auf zwei unterschiedliche Verwendungsrichtungen: den realwirtschaftlichen Umtausch und die finanzwirtschaftliche Anlage. Das eine kann dem anderen entsprechen, wenn die Finanzwirtschaft nicht mit Blasen oder sonstigen Verzerrungen zu kämpfen hat. Eine solche natürliche Harmonie ist derzeit nicht gegeben. Der Kurs, der sich an den Devisenmärkten entwickelt, spiegelt vor allem die Wertschätzung und Nachfrage der Anleger, die im Franken händeringend einen sicheren Hafen suchen. In bezug auf die reale Kaufkraft, wie auch immer man sie genau berechnet, ist der Wechselkurs längst nicht mehr angemessen.

Die SNB hat, um ein Signal zu senden, die Zinsen gesenkt und die Geldmenge ausgeweitet. Dass sie damit die Immobilienblase im Land weiter anheizt, nimmt sie in Kauf – und das ist schon heikel genug. Doch zur Beruhigung der Wirtschaft wird dem Vernehmen nach sogar eine vorübergehende Bindung des Frankens an den Euro erwogen. Vorbild hierfür wäre die Bindung des Frankens an die D-Mark 1978, mit der damals ebenfalls der Überbewertung entgegengewirkt werden sollte. Die mit den Stützungskäufen verbundene Aufblähung der Frankengeldmenge mündete damals vorhersehbar in Inflation von bis zu 8 Prozent.

Durch Interventionen am Geld- oder Devisenmarkt eine auf der Wirtschaft lastende Überbewertung abzuwehren, muss immer ein Versuch mit schwer kalkulierbaren Folgen bleiben. Es ist eine Verzweiflungstat einer Notenbank, die sich in der Globalisierung nicht abschotten kann. Ein gesunder, die Gegebenheiten an den Finanzmärkten wie auch in der Realwirtschaft ausgewogen spiegelnder Wechselkurs lässt sich aber nicht bürokratisch durch Interventionen herstellen, sondern er kommt im freien Spiel von Angebot und Nachfrage an den Märkten zustande – oder eben nicht. Dass diese Ausgewogenheit derzeit ausfällt, hat einen simplen Grund: die Fluchtgedanken der Anleger. Das Kapital ist ein scheues Reh, und wo es sich nicht sicher fühlt, ist es auch schon weg. In der Schweiz fühlt es sich sicher.

An den Finanzmärkten zählen die Zukunftsaussichten. Wer sein Geld anlegt, will es wiedersehen, mit Rendite. Und die Aussicht darauf ist nicht eben rosig im Fall jener Währungsräume, in denen eine lange ungebremste Staatsverschuldung mittlerweile die Handlungsfähigkeit der Regierungen, die Bedienung von Schulden, die Stabilität des Geldes und das Wirtschaften insgesamt bedroht. Da ist es kein Wunder, wenn Anlagen in Franken an Attraktivität gewinnen – ganz wie das Gold und die Immobilien. Die seit 2003 bestehende Schuldenbremse in der Schweiz greift; die Verschuldung liegt erst bei der Hälfte des Bruttoinlandsprodukts; die Folgen der Finanz- und Wirtschaftskrise scheinen einigermassen im Griff zu sein. Die Währung ist stabil und wäre es auch dann, wenn woanders nicht die grosse Schwäche ausgebrochen wäre. Und doch ist die Schweiz keine Insel der Seligen und kann es nicht sein. So wie die Touristen jene Berge bevölkern, deren Einsamkeit sie schätzen, erodieren die Anleger jetzt die Wirtschaftskraft gerade jenes Landes, dessen Solidität ihnen ein
Hafen ist.

Die Lage im Rest der Welt ist dramatisch. Die globale Finanz- und Wirtschaftskrise ist, wie zu erwarten war, in eine Staatsschuldenkrise eingemündet. Staatsverschuldung ist zwar nicht immer von Übel. Wie Privatleute müssen auch Staaten Kredite aufnehmen (können), um langfristige Projekte des Gemeinwesens zu finanzieren und im Notfall zu helfen. Doch hier wurde der Bogen überspannt – nicht erst heute, sondern seit Jahrzehnten. Wegen der hohen Schulden zweifeln nunmehr die Anleger nicht nur an der Bonität Griechenlands, Portugals, Spaniens und Irlands, sondern auch Italien und Frankreich sind schon in die Gefahrenzone gerückt. Deutschland steht als Wirtschaft zwar solide da und ist kein Ziel der Spekulation – was es aber nicht hindert, das Maastricht-Kriterium für den Schuldenstand von 60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts um satte 20 Prozentpunkte zu verfehlen.

Die Sorgen sind berechtigt. Der bailout ist schier zum Regelfall geworden – nicht nur im Bankgewerbe, sondern auch und erst recht zwischen Staaten. Die Gemeinschaft hat Hilfspakete von unvorstellbaren Volumina geschnürt – aber irgendwann ist nicht mehr genug Geld für alle da. Breite Rettungsschirme und bald auch Eurobonds: derlei bedeutet die Zementierung des moral hazard. In Europa ist die Ära der Transferunion nun eingeläutet, und das bringt neue politische Spannungen mit sich. Bricht am Ende der Euroraum doch wieder auseinander? Und was dann? Die wirtschaftlichen wie auch politischen Friktionen, die davon ausgelöst würden, möchte man sich lieber nicht ausmalen. Dabei ist klar: die Gemeinschaftswährung war von Anfang an ein halsbrecherisches Unterfangen.

Selbst die USA standen kurz davor, ihre Schulden nicht mehr bedienen zu können. Vordergründig lag der Engpass nur an einer politisch gesetzten Verschuldungsgrenze. Doch wichtiger als das Überschreiten dieser Grenze ist der Trend. Der Schuldenstand, im Jahr 2000 noch unter 60 Prozent und vor Ausbruch der Krise 2007 erst bei etwa 65 Prozent, durchbricht in diesem Jahr die 100-Prozent-Marke. Im Vergleich mit Europa (2011 wird Griechenland bei etwa 150 Prozent landen, Portugal bei 90 Prozent; für Deutschland zeichnen sich gut 80 Prozent ab) tönt das unproblematisch, doch der Trend ist gefährlich: erst Mitte 2008 durchbrach der amerikanische Schuldenstand die 40-Prozent-Marke; seither zeigt die Kurve steil aufwärts. Die Bedienung der Schulden nähert sich einer Last von 10 Prozent des Bruttoinlandsproduktes und droht irreversibel zu werden.

Es gilt freilich zwei Quellen der Staatsverschuldung zu unterscheiden. Da ist einerseits die Bankenrettung und die expansive Fiskal- und Geldpolitik zur Krisenbekämpfung wie in Amerika, Irland und auch Deutschland. In den USA kommen noch die Lasten der Kriegsfinanzierung hinzu. Und da ist andererseits der grobe Schlendrian wie in den europäischen Südstaaten, allen voran Griechenland, wo der immense Zinsvorteil aus der Währungsunion eine Blase nährte und nicht investiv, sondern vor allem konsumtiv genutzt wurde. Hierfür darf man kein Verständnis haben. Die Entwicklung war absehbar und hätte verhindert werden können: mit umfassenderen, strikteren und im Detail verifizierten Aufnahmekriterien für die Währungsunion, mit Respekt vor dem Stabilitätspakt – oder gleich mit dem Verzicht auf den Euro. Doch die Verantwortlichen wollten nicht sehen, dass die politische Räson langfristig die ökonomische Vernunft nicht ignorieren kann.

Rettungsaktionen und Stützungsmassnahmen sind im Rahmen einer Versicherungsfunktion des Staates legitim – wenn sie zeitlich beschränkt sind. Doch hier sind die Grenzen des Zuträglichen und Erträglichen überschritten worden. Die Ursünde wurde sogar schon zuvor begangen. Musste man sich denn über die Jahrzehnte so tief verschulden, dass die Folgen einer Intervention in einer echten Notsituation nur dramatisch werden konnten? Die Tragweite der politökonomischen Erkenntnis, dass eine antizyklische Fiskalpolitik nicht funktioniert, weil für Politiker, die auf Wiederwahl schielen, auch im Aufschwung kein Anreiz zum Sparen besteht, könnte kaum deutlicher demonstriert werden.

Die Schweizer Wirtschaft zahlt heute für das Fehlverhalten anderer Länder. Es ist eine ungerechte Bürde. Sie liesse sich kurzfristig nur abstreifen, wenn die Schweiz begänne, ebenso unsolide zu wirtschaften wie die Nachbarn – was eine prinzipienfeste, langfristig denkende Politik aber verhüten möge. Also heisst es abwarten, durchhalten und die «Produktivitätspeitsche» des erhöhten Wettbewerbsdrucks nutzen. Eine Rückkehr zu einem gesunden Kurs des Frankens indes ist nur möglich, wenn die Anleger keine Fluchtgedanken mehr hegen müssen. Die Verantwortung hierfür liegt in den hochverschuldeten Staaten der EU und in Amerika, dort muss etwas geschehen. Sowieso. Bei aller Verantwortungslosigkeit der Politik gibt es immerhin eine verlässliche Kraft, die in diese Richtung drängt: die Finanzmärkte.

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