Wir brauchen Ihre Unterstützung — Jetzt Mitglied werden! Weitere Infos

Auf dem Weg zur Selbstzerstörung?

Die zweite Säule steht von allen Seiten unter Druck. Schafft sie sich selbst ab, während über die Art ihrer Reform verhandelt wird? Eine öffentliche Diskussion, Oktober 2016, Zürich.

Auf dem Weg zur Selbstzerstörung?

Guten Abend, meine Damen und Herren. Wie Sie wissen, beschert uns dieser Herbst zwei politische Grossereignisse: Die amerikanischen Präsidentenwahlen und die Schweizer Vorsorgereform. Beides scheint den Menschen nicht so richtig Freude zu machen. Wir versuchen heute, bezüglich der Vorsorge etwas Licht ins Dunkel zu bringen; für die USA sind wir nicht zuständig. Nun. Im Moment ist die Situation so: beide Räte ringen hart um einen Kompromiss. Man ist sich einig über Rentenalter 65 für beide Geschlechter, flexibel ab 62 und bis 68. Beim BVG soll der Umwandlungssatz sinken, die hohen Beitragssätze für ältere Arbeitnehmer ebenfalls. Wo man sich nicht einig ist: wie dies kompensiert werden soll.


Die Bitte zunächst an Sie, Frau Bianchi. Können Sie kurz abstecken, wie aus Ihrer Sicht die Fronten liegen?


Bianchi: Guten Abend, liebe Zuhörer, liebe Zuhörerinnen. Nachdem der Bundesrat das grosse Paket in den Ständerat geschickt hat, hat dieser – wohlwissentlich, dass die Sache vors Volk muss – die Vorlage in eine mehrheitsfähige Variante zusammengeschustert. Er hat sich für eine Stärkung der AHV ausgesprochen. Die Sache ist dann rübergegangen zum Nationalrat, und der hat total überbissen. Er hat nicht nur die Aspekte beschlossen, die Frau Kühni erwähnt hat, sondern er hat sich auch ausgesprochen für ein Rentenalter 67, getarnt hinter einem Interventionsmechanismus, als Finanzierungsmassnahme für die AHV. Er hat sich ebenfalls für eine massive Vergrösserung des Sparprozesses in der zweiten Säule ausgesprochen – und das während einer Zeit der Negativzinsen in der kapitalgedeckten Vorsorge. Logischerweise ist bei so einer durchgedrehten Politik kein mehrheitsfähiger Konsens zu haben. Nun liegt es wieder am Ständerat, die Sache auszubügeln. Wir warten ab, letztlich entscheidet das Volk.

 

Der Rat hat «überbissen», sagen Sie. Damit ist die Position schon bezogen. Herr Pedergnana, wie würden Sie die Situation skizzieren?


Pedergnana: Es ist schon so, wie Frau Bianchi gesagt hat. Ein Gesamtpaket hat es immer sehr schwer in der Schweiz, wenn es nicht ausgewogen ist. Und durch die Vorgehensweise der nationalrätlichen Kommission ist die Ausgewogenheit nicht mehr unbedingt gegeben. Der Ständerat ist tendenziell die Kammer, die etwas näher bei den Leuten steht. Wir müssen das zur Kenntnis nehmen. Selbst wenn bei Nationalratswahlen ganz klar die einen Gewinner sind, kann schon ein dreiviertel Jahr später bei einer Vorlage überraschenderweise die andere Seite gewinnen. Das heisst: wenn in der Schweiz etwas nicht ausbalanciert ist, ist es gefährdet. Aber mir macht etwas ganz anderes Sorgen. Wir haben in der Schweiz kein Thema Altersarmut mehr. Das müssen wir einmal festhalten. Und das muss uns dazu führen, den Blick etwas weiter in die Zukunft zu werfen. Wenn ich zwei Kinder habe im Alter von 20 Jahren, was will ich denen als Perspektive mitgeben?

 

Dazu kommen wir. Ich will gerne noch genauer klären, wer aktuell welche Interessen vertritt. Frau Bianchi, es waren im Nationalrat vor allem FDP und GLP, die sich kurzfristig mit diesen Vorschlägen eingeschaltet haben. Was wollen die?


Bianchi: Grundsätzlich wollen sie das Rentenniveau stabilisieren, und das ist schon mal nicht schlecht. Noch vor sechs Jahren, als man den Mindestumwandlungssatz von 6,8 auf 6,4 Prozent senken wollte, war von diesem Commitment nichts zu spüren. Da hat ein Lerneffekt stattgefunden. Der sieht bei FDP, GLP und auch SVP aber so aus, dass man die Einbussen komplett über die berufliche Vorsorge finanzieren will, indem man den Koordinationsabzug streicht. Das führt natürlich dazu, dass das BVG-pflichtige Einkommen und entsprechend die Beitragslast viel grösser ist. Das trifft vor allem Leute mit tiefen Einkommen. Und natürlich auch bestimmte Branchen, die Niedriglohnsegmente in unserer Wirtschaft. Es erstaunt darum nicht, dass der Gewerbeverband ausgerufen hat, eine solche Lösung könne er gar nicht finanzieren. Auch für unsere Gewerkschaftsmitglieder ist das keine gute Lösung: zu teuer, zu wenig Ertrag, in einem Zinsumfeld, wo wir uns nächstes Jahr glücklich schätzen, dass wir ein Prozent Verzinsung haben. Viel effizienter wäre heute die Kompensationslösung über eine Verbesserung der AHV-Renten, wie sie der Ständerat gefordert hat. Da geht es darum, dass die AHV mit der Lohnentwicklung Schritt halten soll. Andererseits geht es um eine Anhebung des Eheplafonds, weil die Erwerbsbeteiligung der Frauen stark zugenommen hat und das stärker rentenbildend sein muss. Unter dem Strich profitieren die Leute mehr davon, und es ist auch gesamtwirtschaftlich die günstigere Version. Das zuständige Bundesamt veranschlagt die Lösung des Nationalrates auf 4,5 Milliarden im Jahr 2030, die Ständeratslösung auf unter 3 Milliarden. Die Unterschiede sind frappant.

 

Ich will da gleich anknüpfen. Zunächst möchte ich kurz sicherstellen, dass für alle im Publikum klar ist, wovon die Rede ist. Heute werden von jedem Einkommen 24 000 Franken als Sockel weggerechnet, die man nicht im BVG versichert. Dieser Koordinationsabzug soll jetzt wegfallen; alle müssen also von Franken null an einzahlen. Und zwar nicht mehr wie bisher ab 25, sondern schon ab 21 Jahren.


Pedergnana: Das ist übrigens, wenn wir schon dabei sind, eine frauenfreundliche Lösung, weil Frauen in ihrer Erwerbsbiographie öfter mehrere Teilzeitstellen haben. Wenn ich an einem Ort 20 und am anderen 30 Prozent arbeite, profitiere ich davon, dass der Koordinationsabzug wegfällt, weil ich dann auf der BVG-Seite versichert bin. Da sind wir uns wohl einig. Es ist tendenziell frauenfreundlich.

 

Bianchi: Das mag früher so gewesen sein. Früher war die Abschaffung des Koordinationsabzugs wirklich eine nötige Sache. Mittlerweile haben über 60 Prozent der Pensionskassen in der Schweiz eine andere Koordinationsabzugslösung gewählt als das, was sie nach Gesetz müssten. Früher lohnte es sich auch mehr für Frauen, einzuzahlen in die Pensionskassen, weil es schön verzinst wurde. Heute ist es für eine Frau, die im Jahr 30 000 Franken verdient, nicht besonders attraktiv, viermal so viel einzuzahlen, nämlich 135 statt 33 Franken pro Monat, und dann letztlich eine mickrige Rente davon zu kriegen. Und bei der Thematik der Mehrfachanstellungen braucht es nicht unbedingt den Gesetzgeber, der die Regulierungskeule schwingt. Ich plädiere in dieser Frage für Autonomie bei den PK. Sehr viele haben jetzt schon teilzeitfreundliche Regelungen getroffen.

 

Publikumsvotum 1: Frau Bianchi, zu der Rechnung, die Sie mit dem Zinssatz immer anstellen, bei dem sich das BVG angeblich nicht lohne. Ich habe lieber 3 Prozent statt 5 Prozent Zins, wenn die Inflation dafür 0 statt 8 Prozent ist. Man muss eine Lösung finden, die verschiedene Einflussfaktoren berücksichtigt und die dann auch standhält. Sonst stehen Sie komplett im Abseits, wenn plötzlich die Inflation kommt.

 

Bianchi: Der Herr spricht die Thematik Realzins/Nominalzins an. Mag durchaus sein, dass wir real mit 1 Prozent gar nicht so schlecht kutschieren. Aber mein didaktisches Know-how reicht nicht aus, um einem normalen Versicherten zu erklären, dass die Verzinsung zwar nur 1 Prozent betrage, real aber besser als früher sei. Die Leute wollen, dass ihr Altersguthaben so stark wie möglich steigt, weil sie sich in 20 Jahren eine Rente daraus finanzieren müssen. An das denken die Leute, nicht an nominal/real. Das ist zu abstrakt.

 

Pedergnana: Ich glaube nicht, dass das zu abstrakt ist. Darin liegt die Pflicht, die Leute offen und ehrlich aufzuklären. Es ist eine ökonomische Errungenschaft, dass wir heute in einer Niedrigzinssituation sind, das müssen wir uns immer wieder klarmachen. Ich möchte nicht zurückkehren in eine Welt, in der wir wieder 10 Prozent Inflationsrate in Europa haben. Wir müssen jetzt aber schon noch über etwas Grundsätzliches reden – und zwar über Luxus im Alter. Ich zähle da ja auch bald dazu. Es ist ungeheuer schön, was wir uns leisten, während man nur 30 km nördlich darum kämpft, den Mindestlohn auf 8,84 Euro anzuheben. Damit läge man mit einem Jahr Erwerbsarbeit immer noch 20 Prozent unter der Schweizer AHV-Mindestrente. Das ist schon eine Situation des Altersreichtums, der wir uns stellen müssen. Wir verdanken sie übrigens auch den Sammelstiftungen. Pensionskassen, die in der Lage waren, eine reale, satte Rendite zu erzielen in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten. Dass jetzt der Zinseszinseffekt nicht mehr so gewaltig ausfällt, darüber können wir uns auch unterhalten, aber das müssen wir einfach festhalten.

 

Bianchi: Der grosse Bekämpfer der Altersarmut waren die Ergänzungsleistungen. Das ist das System, das die Altersarmut in diesem Land ziemlich breit ausgemerzt hat. Aber unser Altersvorsorgesystem zielt ja nicht darauf, die Leute vor der Bettelexistenz zu schützen. Es ist auf ein Rentenniveau fokussiert, auf die Fortführung des gewohnten Lebens. Alle, die ein Leben lang gearbeitet haben, sollen in der Schweiz ein anständiges Leben im Alter führen können. Das schaffen wir heute in der grossen Masse. Ich mache mir aber grosse Sorgen um die Zukunft, wenn ich schaue, wie die Situation in den Pensionskassen aussieht.

 

Was macht Ihnen Sorgen?


Bianchi: Mir macht Sorgen, dass die PK gefangen sind in einem System, in dem sie die technischen Zinsen immer weiter runterbringen müssen und dementsprechend auch die Umwandlungssätze. Die Realität ist heute ein Umwandlungssatz unter 5 Prozent, in vielen Kassen. Da ist die Decke langsam erreicht, was den Ausgleich über stärkeres Sparen angeht. Wir haben Kassen, da müssen die Leute und die Arbeitgeber fast 30 Prozent ihres Lohnes reinbuttern. Wir können dort nicht mehr so viel schrauben an den Beiträgen.

 

Pedergnana: Da bin ich mir eben nicht ganz so sicher. Deshalb möchte ich mit Ihnen eine kurze Rechnung machen. Frau Bianchi, Sie haben vorhin gesagt, es gehe um Beitragslast. Ich rede von Beiträgen. Es ist keine Last. Ich rechne auch vor, weshalb. Ein Tag hat 24 Stunden, eine Woche 168 h, ein Jahr 8730 h, und ein Leben von 82 Jahren hat 716 000 Stunden. Dank gewerkschaftlicher Errungenschaften – maximale Wochenarbeitszeit, vorgeschriebene Pausen, Ferien, Weiterbildung – haben wir etwa 1700 Stunden pro Jahr effektive Arbeitszeit, und das ist grosszügig gerechnet. Wenn ich in meinem Leben Militärdienst und dieses und jenes mache, dann arbeite ich etwa während 40 Jahren in meinem Leben. 40mal 1700 Stunden sind genau 68 000 Stunden. Und diese 68 000 Erwerbsstunden leistet ein Mann oder eine Frau bei rund 716 000 Lebensstunden. Das sind 9 Prozent! Und in diesen 9 Prozent muss ich nun alles finanzieren, was man in mich investiert hat an Ausbildung, Weiterbildung, Ferien und Sozialversicherungen. Da muss mir gar niemand kommen mit Beitragslast. Es ist eine riesige Errungenschaft, dass wir nur noch 9 Prozent unserer Lebenszeit arbeiten müssen. Aber nun muss ich in dieser Zeit eben ungeheuer produktiv sein und von dieser Produktivität etwas abgeben für mich selbst und meine Umgebung. Wir sind Teil einer Gesellschaft.

 

Ich finde es spannend zu sehen, wie sich die Argumente verschoben haben. Als ich noch kaum geboren war, sprachen Bürgerliche stets von Zwangssparen und wehrten sich gegen das BVG. Und jetzt kommt von derselben Seite plötzlich der Ruf, man müsse das ausbauen. Woher kommt der Sinneswandel?


Pedergnana: Umlageverfahren wie die AHV basieren auf dem Vertrauen, dass Politiker sinnvoll langfristig denken können. Wir sind uns einig, dass sie das nicht schaffen. Deshalb kann ein Umlageverfahren sehr gefährlich sein, weil der Staat nicht eine Bilanz führt, sondern nur eine Ausgaben- und Einnahmenrechnung. Insofern sind die Lasten der Zukunft einfach versteckt. Mit dem Kapitaldeckungsverfahren hingegen zahle ich auf mein eigenes Vorsorgekonto ein. Ich trage etwas bei, von dem meine Familie auch profitieren wird. Das ist ein Gedanke, der sehr viel höher zu halten ist als ein reines Umlageverfahren.

 

Bianchi: Genau dieses Argument wurde auch im Nationalrat vorgebracht. Wenn das so ist, frage ich mich, wieso kaum einer weiss, wie viel Geld er in seiner PK zusammengespart hat? Die Leute wissen das nicht. Das ist ein falsches Bild, zu glauben, man spare wie bei einem Sparbuch. Erstens ist man in einem beruflichen Vorsorgesystem in einem Kollektiv mit Solidarität, und das ist auch richtig so. Zweitens muss das Geld in eine Rente umgewandelt werden. Wenn diese immer tiefer ausfällt, und das ist heute so, dann sinkt auch das Vertrauen in das System.

 

Pedergnana: Noch einmal, grundsätzlich: wir dürfen nicht immer so viel Angst haben. Ich kenne Leute, die schlafen im Bett umgekehrt, damit ein allfälliger Einbrecher zuerst ihre Füsse würgen würde. Es steht nicht schlimm um die Schweiz. Umso mehr geht es jetzt darum, etwas ökonomisch Sinnvolles auf die Beine zu stellen. Wir müssen eine Brücke bauen. Auch eine x-te AHV-Initiative nützt nichts, wir können den AHV-Ausbau vergessen. Jetzt gibt es aber ein paar sinnvolle Dinge, die sich diskutieren lassen: den Koordinationsabzug abzuschaffen, das Rentenalter ein bisschen zu erhöhen, allenfalls eine Schuldenbremse ins Gesamtpaket hineinzuverpacken, auch wenn ich das nicht befürworte. Aber wenn wir nichts lösen, haben wir in der AHV ein gigantisches Defizit.

 

Publikumsvotum 2: Frau Bianchi, ich weiss nicht, in welchen Kreisen Sie verkehren, in denen die Leute nicht genau wissen, was sie in der PK angespart haben. Die meisten, die einen Lohnausweis bekommen, sehen dort den Betrag und Ende Jahr die Abrechnung. Es steht nicht nur drin, was sie haben, sondern auch, was sie erwarten können, wenn sie pensioniert werden.

 

Bianchi: Ich glaube, wenn man diesen Test machen würde, würden ihn nicht sehr viele bestehen.

 

Ich kann da mit einer Zahl aushelfen. Die Hochschule Luzern hat dazu erst kürzlich eine Umfrage gemacht: 19 Prozent der Befragten kennen ihre projizierten Altersleistungen nicht. Was allerdings eher schockierend ist: dass 45 Prozent nicht wissen, dass AHV und BVG ein unterschiedliches System haben. 47 Prozent wissen nicht, was der Umwandlungssatz ist.

 

Publikumsvotum 3: Bei der AHV hat man ja auch keine Ahnung. Da sind keine Zahlen bekannt.

 

Bianchi: Die AHV-Ausgaben sind sehr klar. Und ich bin hier übrigens eindeutig bei Herrn Pedergnana. Wir kennen die Ausgaben der AHV, und wir wissen, dass wir handeln müssen. Es ist keine gute Sache, sich nicht für eine Zusatzfinanzierung der AHV auszusprechen.

 

Ich dachte, Sie wollten sich jetzt für die Schuldenbremse aussprechen, die Herr Pedergnana erwähnt hat.


Bianchi: Nein, das nicht. Es braucht keine Schuldenbremse für die AHV.

Publikumsvotum 4: Das Problem ist doch die Unberechenbarkeit der Zinsen in der Pensionskasse. Die AHV lässt sich einfach ausrechnen. Bei der PK hingegen wissen wir nie, wie sich die Sache entwickelt, weil das auch vom Kapitalmarkt abhängt.

 

Da kommen wir zu einem wichtigen Thema: der Zinsentwicklung. Ich möchte jetzt gern von der Reform weg und spezifisch über die Pensionskassen sprechen. Wir haben inzwischen eine Situation mit Negativzinsen. Wie können PK überhaupt noch erwirtschaften, was sie erwirtschaften sollen?


Bianchi: Die Herausforderung ist gross für alle, die Verantwortung in einer PK übernehmen müssen. Das ist ein Knochenjob, und man kann es niemandem recht machen. Die Zinssituation und die Situation auf den Obligationenmärkten sind bekannt. Nun gibt es PK, die handeln – aber nicht wirklich im Interesse der Versicherten. Wir beobachten im Überobligatorium einen klaren Trend der Risikoverlagerung hin zum Versicherten. Man sagt, es gebe keine Rente mehr, sondern nur noch das Kapital. Man sagt, die Versicherten dürften selber eine Anlagestrategie bestimmen. Das Risiko tragen sie dann allerdings auch selber.

 

Wohin sollte man die Risiken sonst verlagern?


Bianchi: Der Mehrwert der beruflichen Vorsorge gegenüber der dritten Säule ist ja gerade, dass man Risiken im Kollektiv trägt. Für mich ist die Sache klar. Wenn die Pensionskassen weitermachen mit der Risikoverlagerung zum Versicherten, dann entscheiden sich diese, gleich ganz privat in der dritten Säule vorzusorgen. Was ist dann der Mehrwert in der beruflichen Vorsorge? Da brauchen Sie gar keine Gewerkschaften mehr, die kritisch sind und die zweite Säule abgeschafft haben wollen. Dann schafft sich die zweite Säule selbst ab.

 

Pedergnana: Sie sehen jetzt langsam, warum manche Leute umgekehrt im Bett liegen. Wenn die Rendite der Vergangenheit das Mass aller Dinge wäre, wären Archivare die reichsten Leute. Wir müssen zukunftsorientiert sein. Eine Wirtschaft, die um nominell 2 bis 3 Prozent wächst, gibt genügend her, um auch 2 bis 3 Prozent nominelle Rendite zu erzielen. Wer das nicht kann als Asset Manager, und das ist die Verantwortung der Stiftungsräte, der gehört ausgewechselt. Das erste ist ja übrigens oft nicht, dass das Risiko auf Versicherte abgewälzt wird, sondern dass man sich auf irgendeinen PK-Experten abstützt, und der kommt dann mit einem Bericht, der die Kopie von vor 20 Jahren ist. Der schaut nicht in die Zukunft. Wir müssen uns daran gewöhnen, zukunftsorientiert unsere Anlagen dahingehend zu lenken, dass wir es in einer nominell 2 bis 3 Prozent wachsenden Wirtschaft schaffen, einen Zins und Zinseszins zu erzeugen.

 

Bianchi: Aber letztlich ist die berufliche Vorsorge nicht nur ein Anlagevehikel, sondern auch eine Sozialversicherung, die lebenslang eine garantierte Rente auszahlen muss. Das ist der Mehrwert der beruflichen Vorsorge. Die Risiken, die eine PK eingehen kann, bedürfen einer Regulierung. In den letzten zwei, drei Jahren haben die PK ihren Aktienanteil sehr stark hochgefahren. Das ist klug, denn wo soll man sonst sein Geld anlegen? Nur sind jetzt im Schnitt über 30 Prozent unserer Pensionskassengelder in Aktien angelegt.

 

Pedergnana: Hoffentlich auch. Es sollten mehr sein.

 

Bianchi: Mehr Risiken zu tragen…

 

Pedergnana: Es ist eben nicht mehr Risiko. Wer heute in langfristige Staatsanleihen investiert, der sitzt auf dem grösseren Risiko. Das haben nur viele noch nicht begriffen. Sehen Sie, in der Verkehrspolitik haben wir uns in den letzten Jahren endlich etwas verändert. Früher standen in der Schweiz überall Rotlichter. An jeder Kreuzung haben sich drei Viertel der Leute geärgert, weil sie Rot gesehen haben – nur einer hatte Grün und kam voran. Heute haben wir mehr Kreisel, mehr Selbstverantwortung, und alles ist etwas flüssiger geworden. Wir müssen doch nicht die gesamte Wirtschaft und jedes Sozialversicherungswerk überregulieren, so dass drei von vier Leuten nur noch Rot sehen! Dann haben 3 von 4 Leuten auch kein Vertrauen in ein solches System. Wenn wir aber einen Kreisfluss haben und der BVG-Kreisel sich vernetzt mit der Realwirtschaft und die Realwirtschaft ihrerseits die Erträge erzeugt für die berufliche Vorsorge, dann ist sogar die AHV wieder besser finanzierbar. Weil in einer solchen Wirtschaft, die immer über genügend Kapital verfügt, eben auch Wachstum möglich ist. Darum müssen wir zu etwas mehr Kreiselproduktivität kommen mit der Eigenverantwortung in der Vorsorge.

 

Frau Bianchi, wie sehen Sie das?


Bianchi: Die Erhöhung der Aktienquote ist keine falsche Konzeption heute. Man muss aber bereit sein, diese Risiken im Kollektiv zu tragen. Heute schiebt man sie zunehmend auf den einzelnen Versicherten rüber. Und wenn das die Lösung der beruflichen Vorsorge ist, dann sind wir in der dritten Säule. Und dann, wie gesagt, schafft sich die zweite Säule selbst ab.

 

Darüber, welche Anlagestrategien Pensionskassen verfolgen dürfen, wollen oder sollen, werden wir in den nächsten Jahren garantiert viele Debatten führen. Für heute schliessen wir die Runde. Vielen Dank, Frau Bianchi, Herr Pedergnana, für das Gespräch.


Beim vorliegenden Transkript handelt es sich um eine gekürzte Fassung des öffentlichen Podiums «Zeitenwende: BVG. Welche Reformen sind jetzt nötig?» Die Veranstaltung, die der Schweizer Monat zusammen mit der Valitas-Sammelstiftung BVG organisiert hat, fand am 27. Oktober 2016 im Zunfthaus zur Waag in Zürich statt.


Doris Bianchi
ist promovierte Juristin und stellvertretende Sekretariatsleiterin des Schweizerischen Gewerkschaftsbunds, mit Schwerpunkt Sozialpolitik und Sozialversicherungen.


Maurice Pedergnana
ist Chefökonom der Zugerberg Finanz AG und Professor für Ökonomie an der Hochschule Luzern.


Olivia Kühni
ist stv. Chefredaktorin dieser Zeitschrift.

»
Abonnieren Sie unsere
kostenlosen Newsletter!