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Völkerrecht – mit Vorbehalt

Das Völkerrecht hilft den kleinen Staaten. Oder besser: half. Denn inzwischen droht es selbst zu einem Machtfaktor zu werden. Eine Replik auf die Ausführungen der Völkerrechtsprofessorin Anne Peters.*

Die Politik der Europäischen Union leide, so der deutsche Staatsrechtslehrer und Altbundespräsident Roman Herzog, «in besorgniserregender Weise unter einem Demokratiedefizit und einer faktischen Aufhebung der Gewaltenteilung». Die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes ist nach Herzog «EU-interessenorientiert und nicht überparteilich». Das sind harte Worte aus einem Land, das sich sonst gern als EU-Musterknabe präsentiert, das aber kürzlich im Bundestag unter dem Druck des Verfassungsgerichts den Auto-matismus einer direkten Übernahme von EU-Recht ins nationale Recht immerhin etwas relativiert hat.

Wer in der Schweiz mit ähnlich kritischen Worten auf das Subsidiaritätsprinzip und auf die Konflikte zwischen kommunalem, kantonalem, nationalem und internationalem Recht hinweist, wird schnell einmal des rückwärtsgewandten Traditionalismus und des nationalen Isolationismus bezichtigt und im Umfeld der Schweizerischen Volkspartei (SVP) angesiedelt. Die zahlreichen persönlichen Reaktionen, die ich mit meinem im Auftrag der SVP verfassten, aber unabhängigen Gutachten zum Völkerrecht auslöste, betrafen denn auch in der Regel nicht den Inhalt des Gutachtens selbst; sie haderten vielmehr allgemein mit den aussen- und innenpolitischen Positionen der Auftraggeberin. Offenbar wird es in diesem Land immer schwieriger, grundsätzliche Fragen ausserhalb der parteipolitischen Querelen abzuhandeln.

Erfreulicherweise hat sich die Basler Völkerrechtlerin Anne Peters in qualifizierter Weise mit einer Auswahl aus meinen 20 Thesen zum Thema «Soll das Völkerrecht Landesrecht brechen?» kritisch auseinandergesetzt. Sie bezweifelt mit guten Gründen, dass die Frage nach einem allgemeinen Vorrang des Völkerrechts generell zu befriedigenden Antworten führe und plädiert in den nach ihrer Meinung «seltenen Konfliktfällen» für mehr Pluralismus, Flexibilität und Harmonisierung. Das mag überall dort einleuchten, wo es nur um unterschiedliche Rechtsauffassungen geht. Wo aber internationale Macht auf nationales Recht prallt, ist es in der Regel der Mächtigere, der definiert, was Harmonie bedeutet. Dass (Völker-)Recht vor (Völker-)Macht geht, ist seit je die Hoffnung der Kleineren, weniger Mächtigen gewesen, eine Hoffnung, die sich aber im Moment, wo sich Konflikte häufen, leider bisher selten genug erfüllt hat.

Das internationale Recht hat seine Legitimation von Anfang an auf die These gestützt, dass es insgesamt weniger willkürlich und weniger interessengebunden sei als das nationale. Diese These muss angesichts jüngerer Entwicklungen bestritten werden. Je mehr die Globalisierung voranschreitet, desto brisanter wird die Koalition mächtiger Regierungen mit einflussreichen globalen Sonderinteressen. Und desto prekärer wird die Lage der Kleinen, deren Vorstellungen über die jeweils ins Gewicht fallenden Menschenrechte zunehmend von dem abweichen, was Staaten mit dreistelligen Millionenzahlen bevorzugen. Eine zusätzliche Demokratisierung würde diese Trends eher noch beschleunigen. Das von Völkerrechtlern im Hinblick auf mehr Internationalisierung gern beanspruchte Argument «Recht geht vor Macht» dürfte daher zunehmend in umgekehrter Perspektive aktuell werden: nationales Recht geht vor internationaler Macht.

Ob man mit solchen Warnungen vor den Konsequenzen einer Weltdemokratie nach dem Prinzip «one person one vote» bereits eine «Verteufelung» betreibt, überlasse ich dem Urteil jener, die sich wie Anne Peters über den Ausbau «internationaler parlamentarischer Versammlungen mit starken Kompetenzen» Gedanken machen. Dass man sich vor den Mehrheitsentscheiden solcher Gremien «aus gewissen Vertragspflichten punktuell ausklinken kann», ist für mich nur ein schwacher Trost: Eigenständigkeit wird so zur begründungspflichtigen Ausnahme, die als Nische in einem internationalen Netzwerk keineswegs wohlwollender Mehrheiten dauernd unter Druck steht.

Mit dem letzten Satz von Anne Peters’ Beiträgen zur Debatte gehe ich jedoch restlos einig. «Der letzte Bezugspunkt politischer Legitimation auch des Völkerrechts sind nicht Staaten, sondern ist der einzelne Mensch und dessen Wohlergehen, so wie er es selber als letzte Autorität über seine Bedürfnisse und Wünsche definiert.» Nur würde ich den Satz als Prämisse und nicht als Schlussfolgerung verwenden.

* Die in Basel lehrende Völkerrechtsprofessorin Anne Peters hat sich in den Ausgaben 970 und 971 mit Robert Nefs Gutachten «Soll Völkerrecht Landesrecht brechen?» befasst. Das Gutachten kann unter www.schweizermonatshefte.ch bestellt oder heruntergeladen werden.

Robert Nef, geboren 1942, ist Jurist und war bis 2008 Mitherausgeber der «Schweizer Monatshefte».

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