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«Sein Glücke ist ihm ein ieder selbst»

Wohnen, gesunde Lebensmittel, Bankeinlagen, Taktfahrplan: Die Existenz in Mitteleuropa ist rundum versichert. Und der Hunger nach Garantien bleibt ungestillt. Doch sind die Menschen dadurch wirklich unabhängiger geworden?

«Sein Glücke ist ihm ein ieder selbst»
Beat Kappeler, photographiert von Thomas Burla.

Drei kleine Schlaglichter auf den Weg des Bürgerseins in den letzten 50 Jahren: zuerst Reihen von Arbeiterhäuschen, aus patronaler Sorge, von Arbeiterfamilien sorgfältig als Eigentum ausgestaltet durch individuelle Gärtchen, Schöpfe, später Garagen; dann wurden ab 1968 die WC-Türen in Wohngemeinschaften abgehängt, denn «alles Private ist politisch» oder auch: «Wer zweimal mit der Gleichen pennt, gehört schon zum Establishment»; und heute, wenn der Komiker Volker Pispers vom notwendigen «Primat des Politischen» raunt, rauscht der Beifall des gesättigten deutschen Publikums. Die Sklaven küssen ihre Ketten.

 

Entweder bürgerlich oder masslos

Das Verhältnis des Bürgers zu seinem Staat ist verrutscht, nicht nur anekdotisch, sondern grundsätzlich. Denn die durchaus modische neue Verfassung der Schweiz aus dem Jahre 1999 garantiert nicht weniger als «die menschenwürdige Existenz», sodann «die Fortsetzung der gewohnten Lebenshaltung» im Alter und die freie Wahl der Verkehrsmittel. Vom Staat de facto garantiert sind auch das Wohnen, gesunde Lebensmittel, Bankeinlagen, Taktfahrplan. Und der Bürger darf nach Belieben aus seinen Verträgen schlüpfen, an der Haustür, im Internet, bei der Miete. Der Grundsatz «Im Zweifel für den Angeklagten» wurde grossflächig aufgehoben, mit der Umkehr der Beweislast zu Lasten der Firmen. Schulen sehen über Lernen und Leistung hinweg, «Kompetenz» zu suggerieren reicht. Um in Wertpapieren richtig anzulegen, muss man nur die Verlautbarungen der Notenbanken-Gremien beobachten; diese bestimmen die Kurse. Dafür bekommen aber die Sparer keine Zinsen mehr, Bargeld wird kontrolliert, teils verboten. Hinwiederum kassiert die Hälfte der europäischen Haushalte Geld vom Staat, dafür zieht dieser die Hälfte der Wertschöpfung von Bürgern und Firmen ein. Grosse westeuropäische Gewerkschaften waren seit 1972 gegen eine Vermögensbildung in Arbeitnehmerhand, sie wollten und bekamen den Massenstaat der Abhängigen.

So verschieden von Leibeigenschaft und Feudalherrschaft sind diese Einrichtungen nicht mehr. Denn im Feudalsystem herrschten nicht Peitschen und Kerker. Vielmehr entstand aus dem Einverständnis der Bauern und Bürger in der spätrömischen Kaiserzeit die Option, unter die Fittiche einer Latifundie zu schlüpfen, um zwar zu arbeiten, doch auch um durchgefüttert und verteidigt zu werden. Und das beginnende Mittelalter im Norden sah wiederum freie Bauern ihre Güter einem Herrn oder einem Kloster übertragen, wenn sie darauf sicher bleiben konnten und verteidigt waren: jeder nach seinem Stande, mit Abgaben und Pflichten zwar, aber auch sicher vor Gewalt.

Die bürgerliche Revolution des Westens ersetzte diese Sicherungen durch allgemeine, abstrakte Rechte – Habeas Corpus gegen Gerichtswillkür, das Stimmrecht, den Grundsatz «no taxation without representation», den Code Civil, das Grundbuch, und die Wende von 1848 brachte freies Gewerbe, die Schulpflicht, ein transparentes, stabiles Geldwesen.

Diese grosse bürgerliche Ordnung setzte auf die entsprechende unabhängige Persönlichkeit. Der Bürger war selbstverantwortlich, fleissig, sparsam, familientreu. Die Wechselfälle des Lebens waren Schicksal, das Individuum, die Familie steuerten und korrigierten es, so gut sie es vermochten. Diese idealtypische Person und Gesellschaft hatten allerdings erste Regeln des Zentralstaates zu gewärtigen, etwa die Wehrpflicht, fehlende gleiche Rechte der Frau, zunehmende Totalität des engen Nationalstaates. Vollends nach 1914 zerbrachen die meisten erwähnten Elemente der bürgerlichen Gesellschaft. Zollgrenzen, Reiseschikanen, Pässe, Zerfall des Geldes, hohe Steuern, Enteignungen, Versicherungspflichten, der Staat als Schlächter ganzer Generationen sind zu nennen.

Kopf und Hand und Macht der Bürgerlichkeit waren immer in Gefahr.

Für den Kopf erläuterte Sigmund Freud die Rolle der Triebe als Bedingung für Kultur und zivilisatorisches Zusammenleben. Zu viel davon brachte viktorianische Neurosen und – gesellschaftlich – dramatische Triebentladung in der Gewalt. Zu wenig Verzicht droht ebenfalls, denn «die Massen … lieben den Triebverzicht nicht». Anything goes, Beliebigkeit kam auf.

Für die Hand, die Wirtschaftsordnung, fand Friedrich A. Hayek in klassischer Lehre die grösstmögliche Freiheit der Akteure als gesellschafts- und wohlstandsstiftend. Ihm antwortete Wilhelm Röpke, dass eine zu freie Ordnung den Keim ihrer Zerstörung in sich trage. Das 19. Jahrhundert mit der Entwürdigung des Arbeiters, das frühe 20. mit seinen grossen Kartellen zeugten davon.

Für die Macht waren Demokratie und Märkte die zwei fundamentalen Schranken. Der Wähler zerstäubte politische Macht, dank Märkten atomisierte der Bürger die wirtschaftliche Macht. Und die beiden Sphären begrenzten ihre Macht gegenseitig – auf Märkten lief der Bürger dem Staat davon, der Staat aber hielt die Märkte offen. Mit dem Vorrang politischer Regeln, mit staatlichen Grossfirmen in Fernsehen, Infrastrukturen, mit Nachfragemanagement durch Budgets und Notenbanken ist diese Balance national und supranational völlig gestört, «le tout politique» regiert.

Bürgerlichkeit braucht also Mass in Kopf und Hand und Macht, in mentalen Einstellungen, bei den Glücksgütern und in der Machtteilung zwischen Staat und Markt. Nicht nur die bürgerliche Gesellschaft, sondern schon die alten Griechen bauten auf das Mass («mäden agan»), die Minnesänger rühmten das Mass (diu mâze). Jede Gesellschaft baut auf dem Mass. Der totale Staat dagegen hebt Gesellschaft auf, beseitigt den Bürger, wie im schrecklichen 20. Jahrhundert in linken und rechten Extremen geschehen. Der Staat kann aber das Mass in allem dann stützen, wenn er nicht Resultate, Ziele, Visionen anstrebt, sondern wenn er Verfahren festlegt. Der Bürger nutzt diese, Gesellschaft stellt sich ein. Der heutige Staat ist aber, nach seiner Katharsis beim Bruch des totalen Staates 1945 und 1989, wieder auf schiefer Ebene. Das sanfte Einverständnis aller, unter die sichere Decke von Ergebnisgerechtigkeit zu schlüpfen statt persönliche Freiräume zu achten, begründet neuen Feudalismus, jenen des Parteienstaats und der supranationalen Harmonisierung.

 

Was ist schiefgelaufen?

Machen wir die Schlaufe zu den eingangs erwähnten Verwerfungen modernster, immer unbürgerlicherer Gesellschaften.

– Soziologie und Psychologie schälten die Verschiedenheit menschlicher Existenz heraus – und sofort wird Sozialtechnologie eingesetzt, um gleiche Lebenslagen herzustellen, in Schule, Pflege, Familie. Die Gesundheitsdefinition der WHO ist die Karikatur davon.1

– Das Ideal der republikanischen Gleichheit wurde gedankenlos auf wirtschaftliche Lagen übertragen – sofort wird hoch besteuert und umverteilt, wie plattester Kommunismus es wollte.

– Die Wechselfälle des Lebens werden durch umfassende und obligatorische Sozialversicherungen korrigiert. Dabei wird heute der Abstand zum sich selbst ernährenden Bürger aufgehoben.

– «Anwaltschaftliches Reden» hat die Politik ergriffen, wird von selbsternannten Verbandsvertretern geübt: Die Mieter/Arbeiter/Konsumenten/ Datenerfassten/Naturinteressen/Umwelt- und Energiebetroffenen können ihre Interessen nicht verfolgen. Der Staat muss es tun, dazu Regeln aufstellen, und den anwaltschaftlichen Verbänden müssen Stakeholder-Rechte übertragen werden.

– Als Folge haben wirtschaftende und unternehmerische Bürger immer weniger Rechte, als diese Gruppen und der Staat sie zusammen haben. Aber auch Arbeitende sind eingeschränkt, wie sie sich einbringen und arbeitend tätig sind. Zurzeit beginnen die Verbände und der Steuerstaat gegen Apps zu wüten, welche Autos, Taxis, Wohnungen, Dienste und Handreichungen unter Freien vermitteln.

– Umfassende Kontroll- und Klagerechte des Staates und dieser Gruppen verleiten die Unternehmenden dazu, sich mit Expertisen, Zertifizierungen, eigener Bürokratie und Handlungsverzicht abzusichern und einzufügen. Was man nicht tut, kann einem nicht vorgeworfen werden. Compliance statt Freiheit.

– Die meisten dieser Reregulierungen haben sich durch übernationale Organisationen dupliziert – in EU, OECD, IWF, G20, Menschenrechtskonvention. Nicht gewählte, durch viele, übereinander gestülpte Gremien ernannte Funktionäre kujonieren die Nationalstaaten, drücken die Freiheiten im Namen der Harmonisierung.

 

Nicht einmal der Vergleich dieser Refeudalisierung mit der geschilderten idealtypischen Bürgerlichkeit zeigt die Verheerung, sondern nur schon die Erinnerung von uns Älteren an den Weg der letzten 50 Jahre. Unsere Generation kämpfte als Junge gegen die viktorianische Lebensfeindlichkeit und gegen die wirtschaftliche Vermachtung durch Kartelle, Allmacht und Intransparenz der Firmen. Aber dieses heutige Gehäuse neuer Hörigkeit (Max Weber) wollten wir nicht. Das Pendel hat sein Mass verloren zwischen Freud’schen Befürchtungen und Hayek/Röpke’scher Diskussion.

 

Was ist zu tun?

In den 1980er und 1990er Jahren haben Britannien, die USA, Kanada, Schweden, Neuseeland und der europäische Osten zu einer gewissen Eindämmung des feudalen Staates und der Verbandsmacht gefunden – vorübergehend, teilweise nur. Bürgerlichkeit kann und muss sich wieder einstellen,

– indem man trotz Psychologie und Soziologie dem Schicksal auch Raum lässt;

– indem republikanische Gleichheit gilt, wirtschaftliche Güter jedoch vornehmlich an Leistung und Familienverband gebunden und als Eigentum geschützt bleiben;

– indem Bürger und Firmen den sozialstaatlichen Einrichtungen und Versicherungspflichten aller Art durch ein Opting-out ausweichen können – unter vollem Risiko;

– indem allfällige Kontrollen, Expertisen in Arbeitswelt, Umwelt, Energie, Tierhaltung nicht von den Kontrollierten zu bezahlen sind, weil ja ein öffentliches Interesse geltend gemacht wird;

– indem Gesetze, Verträge, Pflichten und Rechte aus Zivil- und Handelsrecht eins zu eins gelten und also nicht von einer Seite wegbedungen und entgegen der Unschuldsvermutung definiert werden können;

– indem die allfälligen Steuern den Aufbau von privatem Vermögen begünstigen, nicht hemmen und dieses nie in mehrfachen Kaskaden belangen;

– indem Verbände und Stakeholdergruppen nur einsprechen dürfen, wenn eine interne Urabstimmung der Mitglieder sie dazu ermächtigt;

– indem der Nationalstaat sich entschieden gegen hoheitliche Akte nicht gewählter internationaler Funktionäre und gegen die laufende Kompetenzanmassung solcher Organisationen verwahrt, allenfalls unter Austritt daraus. Denn der Wettbewerb der Lösungen hält Völker frei und innovativ;

– indem die Bürger ihre Kinder in frei gewählte private oder öffentliche obligatorische Schulen senden können, denen der Staat pro Schüler eine Pauschale ausrichtet und ein minimales Curriculum vorgibt;

– indem das Geldwesen auf eine Grundlage gestellt wird, welche Stabilität und Vermögensbildung erlaubt, welche Bargeld voll anerkennt, und auf Banken, welche nicht systemische Risiken durch eigene Geldschöpfung betreiben;

– indem die Parlamentarier durch eine Pauschale bezahlt werden, nicht durch Taggelder, deren Maximierung in Sitzungs- und Hearinghäufung heute die echten Milizionäre am Amte verhindert;

– indem die Parteienstaaten mit ihren Kreuzkompromissen in den parlamentarischen Demokratien mit Abstimmungen der Bürger zu Steuersätzen und Rechtssetzung ergänzt werden;

– indem die Staaten sich föderal organisieren, vor allem in fiskalischer Hinsicht, kulturellen Fragen, lokaler Infrastruktur.

 

Das sind Forderungen an die Verfahrensregeln der Öffentlichkeit – weil diese als Staat und Suprastaat verfasste Öffentlichkeit schon total geworden ist. An den Bürger, die Bürgerin gehen hier keine Appelle, keine Richtlinien. Freie Bürger werden die Resultate dieser geforderten Befreiungen sein. Sie werden an sich arbeiten, Erwartungen erfüllen, Vermögen bilden, Beliebigkeit meiden in ihren Beziehungen, Rollen, Kleidung, Höflichkeitsformen, in Schule, Recht und Staat. Und wenn jemand dies nicht leistet, wird «die Gesellschaft» es für ihn nicht richten. Paul Fleming gab im 17. Jahrhundert der anbrechenden Bürgerlichkeit dies auf den Weg:

«Thu, was gethan muss seyn und eh man dirs gebeut. Sein Unglück und sein Glücke ist ihm ein ieder selbst.»

 


1 «Gesundheit ist ein Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen undsozialen Wohlergehens und nicht nur das Fehlen von Krankheit oder Gebrechen.»

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