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Der Untergang des Abendlandes

China setzt an, den sich selbst aufreibenden Westen zu überholen. Was wird (von) Europa und der transatlantischen Allianz übrig bleiben?

Der Untergang des Abendlandes
Umgekipptes Abendland. Bild: Politische Karte Asiens. Quelle: D. H. Lange: Volksschul-Atlas, Dreihundertste Auflage, George Westermann in Braunschweig, 1899, Public Domain.

Herr Maçães, was hiess es, wenn man bis anhin vom Westen sprach, und was, wenn man vom Osten sprach?
Es gibt viele verschiedene Arten, den «Westen» zu denken, es gab aber sehr lang nur eine, den «Osten» zu denken. Bis anhin war der Osten vor allem dadurch charakterisiert, nicht der Westen zu sein.

Was also war der Westen?
Den Begriff des Westens gibt es schon lange, man verstand ihn bisher als Idee einer bestimmten Zivilisation und Kultur, zurückgehend bis ins antike Griechenland. Wenn wir heute von «Westen» reden, ist der Kontext politischer, meist wird damit die transatlantische Allianz gemeint, die engen Beziehungen zwischen den USA und Europa, die begründet sind in einem ähnlichen Umgang mit Fortschritt und Technologie seit dem Beginn der Moderne. Vor etwa drei Jahrhunderten begannen aufgeklärte Europäer und US-Amerikaner damit, neue, revolutionäre Technologien zu ihrem Vorteil zu nutzen und über Märkte immer grösseren Gesellschaftsgruppen zugänglich zu machen.

Sie meinen den Kapitalismus.
Durchaus. Er sorgte für einen nie dagewesenen Wohlstandszuwachs, der die – dazumal «westliche» – Welt von allen anderen Weltregionen unterschied. Diese Trennung, die zuerst eine ideelle war und dann eine materielle, erklärte sich als westliche Errungenschaft: der Westen war es, der das Geheimnis der modernen Welt entdeckte und dann auch produktiv zu nutzen verstand. Die «Moderne» der Arbeitsteilung und des Rechtsstaats ist auch für die Menschen in Asien, denen ich begegne, eine «westliche» Errungenschaft.

Moderne, arbeitsteilige Marktwirtschaften finden sich heute überall auf der Welt. Manche behaupten, man finde sie mitunter eher in Asien als in Europa.
Die Technologie und unser Umgang damit, auch die Experimentierfreude sind sicher keine europäischen Spezialitäten mehr. Während Asien und der Rest der Welt zwei Jahrhunderte versuchten, aufzuholen, hat sich das Blatt in den letzten drei Jahrzehnten gewendet: Asien, auch andere Teile der Welt, haben aufgeholt. Sie schicken sich an, uns zu überholen. Aber im Westen glauben wir weiterhin nur zu gern, zivilisierter, moderner, besser zu sein. Das stimmt aber nicht mehr. Wir sind nicht nur nicht weiter, der Osten hat – von uns unbemerkt – auch das Spielfeld gewechselt.

Was meinen Sie damit?
China und andere Teile der Welt eifern dem Westen nicht nur nach, sie nutzen ihren entstehenden Wohlstand auch anders als wir: Die liberale Demokratie westlicher Prägung, von der wir glaubten, sie besässe augenfällige Wettbewerbsvorteile und stelle sich überall dort ein, wo der Wohlstand wächst, wird diesem Anspruch nicht gerecht. Asien hat aufgeholt, aber seine Kulturen haben sich unseren nicht angeglichen. Die Chinesen etwa sind, bisher jedenfalls, nicht konvertiert. Ich glaube, dass einige der Werte, an denen wir uns im Westen heute orientieren – und sei es auch oft nur noch in Sonntagsreden von Politikern –, in der künftigen Weltordnung dramatisch an Relevanz verlieren werden. Das betrifft das Ansehen der liberalen Demokratie ebenso wie die Lehrpläne der Schulen, die Studien unserer Universitäten. All das wird sich stärker an China orientieren müssen.

Wir streichen John Locke und John Stuart Mill, um chinesische Politphilosophie zu studieren, meinen Sie?
Die beiden werden zwar vielleicht nicht von unseren Lehrplänen gestrichen. Die chinesische Politphilosophie aber wird sicher an Einfluss gewinnen.

Nennen Sie mich einen «Eurozentristen», wenn ich finde, dass dieses Ende des westlichen Liberalismus kein Grund zur Freude sein dürfte?
(lacht)
Nein. Aber das ist Chinas Plan und China wird ihn zu einem gewissen Grad durchsetzen, zumindest in seinem immer grösser werdenden Einflussbereich. China wird dem Liberalismus oder dem, was davon übrig ist, zusetzen. Und wir sollten uns Gedanken darüber machen, wie wir damit umgehen wollen. Wenn ich nun von einem Aufschwung des Kontinents «Eurasien» rede, um den wir uns im Westen lange nicht besonders gekümmert haben, so glaube ich zwar, dass die Vorherrschaft des westlichen Modells zu Ende geht. Aber Eurasien wird eine Kombination sein: der Liberalismus wird ergänzt und konkurrenziert werden.

Das passiert ja heute schon: in den letzten anderthalb Jahren haben die Abwehrreflexe gegenüber China in Europa und den USA stark zugenommen. In jedem grösseren Land warnen Wirtschaftsvertreter davor, dass China auf «Einkaufstour» in den erfolgreichen Industrien gehe.
Diese Situation wird sich in den nächsten Jahren deutlich verschärfen. Die Einkäufer sind finanziell enorm potent, weil sie eben nicht rein marktwirtschaftlich oder rein staatswirtschaftlich organisiert sind, sondern die Stärken beider Systeme vereinen. Das macht sie potenter als die Konkurrenz aus dem Westen. Und wenn die Industrien, an denen China Interesse bekundet, dann nach rein marktwirtschaftlichen Überlegungen – Angebot und Nachfrage – über einen Verkauf entscheiden, so kriegt China ab jetzt immer den Zuschlag. Das ist Macht. Enorme Macht.

Es ist also eigentlich ein guter Zeitpunkt für Europa, enger zusammenzurücken, um im Spiel der grossen Blöcke geeint aufzutreten. Dumm nur, dass Brüssel ständig neue Brandherde innerhalb Europas löschen muss, die es selbst mitprovoziert hat. Was wäre zu tun?Das Problem geht weit über Europa hinaus: Alles, was diesen Westen früher zusammenhielt, verschwindet gerade. Ablesbar, da haben Sie recht, wird das auch am Zustand der Europäischen Union. Der Zustand der Beziehungen zwischen der EU und Grossbritannien zeigt dieselben Symptome wie derjenige zwischen der EU und den USA. Grossbritannien will seinen eigenen Weg gehen, aber die Benefits des Marktzugangs behalten, die EU will ihren eigenen Weg gehen, aber die Benefits der militärischen und ökonomischen Schutzmacht USA behalten. Die Nabelschau ersetzt das strategische Bilden von Allianzen früherer Tage, und das auf fast jeder Ebene. So zerbricht der Westen in immer kleinere Einheiten. Was vor Ort im Sinne von Souveränitätsgewinnen durchaus Sinn machen kann, wird im Grossen nun immer mehr zu einer weltweiten Machtprobe. Wenn der Westen aus einer transatlantischen Allianz zuerst in USA und Europa zerfällt, Europa derweil in seine Einzelteile – so wächst die Macht anderer Blöcke an, ohne dass sie dafür überhaupt etwas tun müssten. Russland etwa hat daraus eine eigene Strategie der Schwächung der EU gemacht.

Die Schweiz ist Teil des «Westens» in einem kulturellen, zivilisatorischen Sinne – aber politisch weitgehend unabhängig. Ist das nun ein Vor- oder Nachteil in der neuen Welt, in der Ost und West in ihrer bisherigen Verfasstheit nicht mehr existieren?
Die Schweiz ist aktuell in einer sehr guten Position zwischen den verschiedenen Blöcken, weil sie nie nur über die verschiedenen Verflechtungen jenseits der Politik nachgedacht hat, sondern sie aktiv, aber jenseits klassischer Aussenpolitik vorantrieb. Das Ziel der Schweiz müsste es sein, auch weiterhin keiner zu grossen Rahmenordnung anzugehören, die ihren Handlungsspielraum stark einschränkt, sondern sich lediglich da auf Verträge festzulegen, wo es Sinn macht. Der Schweiz ist es möglich, in gewissen Dingen europäisch zu sein, aber nicht europäisch handeln zu «müssen», wie das EU-Mitgliedsländer tun. Während die EU seit 12 Jahren immer nur davon redet, einen Freihandelsvertrag mit China abzuschliessen, hat die Schweiz längst einen. Was der Schweiz allerdings nicht in die Karten spielt, ist ihre Aussenpolitik …

weil sie nicht existiert?
Ja. Das wird ein Problem werden, denke ich, denn die Schweiz ist nicht das einzige Land, das auf eine Art Vermittler- oder Brückenkopfposition zwischen den Blöcken spekuliert: Grossbritannien ist eine ziemlich starke, aussenpolitisch aktive Konkurrenz. Und manchmal macht es den Anschein, als glaubten die Schweizer, ihr Land bestehe nur aus Zivilgesellschaft und Privatwirtschaft, alles andere sei bestenfalls lästig und laufe schon von allein. In den letzten siebzig Jahren hat das mit geschicktem Trittbrettfahren, notwendigen Allianzen und allerhand Anziehungskraft für westliche Institutionen auf neutralem Gebiet gut funktioniert. Aber WTO, UNO und andere interessieren China nicht, es sind westliche Institutionen, und die verlieren bereits heute dramatisch an Relevanz. Wenn es um Machtpolitik geht, ist die Schweiz schlecht aufgestellt. In drei anderen wichtigen Punkten allerdings können andere von ihr lernen.

Die da wären?
Punkt eins: die Nationalstaaten und Staatenbünde der Zukunft müssen wettbewerbsfähiger werden. Wer schlecht wirtschaftet und wenig anzubieten hat, wird das Nachsehen haben. Wer keinen Wettbewerbsgeist hat, ist verloren. Gleichwohl gilt: wer konkurrenzfähig sein will, muss auch kooperationsbereit sein – gerade wenn man, so wie die Schweiz, klein ist und keine eigenen Ressourcen hat. Punkt zwei: wir müssen neugieriger werden, verstehen lernen, was andere Kulturen antreibt. Das haben die Schweizer seit jeher gemacht, denn als Aus- und Einwanderungsland profitierten sie seit jeher von Ideen-Im- und -Export. Dasselbe gilt im Hinblick auf die Technologie: wir müssen ihre Potentiale auch weiterhin entdecken wollen, selbst wenn ein echter oder vermeintlicher Missbrauch sie an bestimmten Stellen diskreditieren sollte. Neue Technologien verschwinden nicht einfach wieder. Sie setzen sich durch, weil sie effizient sind.

Und Punkt drei?
Wir müssen die missionarische Idee eines «richtigen Weges», den gerade wir Europäer zu beschreiten glauben und der sich deshalb durchsetzen soll, aufgeben! Es gilt stattdessen, die künstlichen Grenzen zwischen West und Ost loszuwerden, dann dürfte ein neuer Wettbewerb entstehen, einer der Ideen, Techniken und Technologien. Es wird ein neuer Markt entstehen, wo vorher keiner war. Darauf setze ich mehr Hoffnungen als auf die eurozentristische oder nationalistische Nabelschau. Unsere Nachbarn in der neuen Welt sind Indien, China und Russland – nicht Österreich, England und Schweden.

Wer könnte daran interessiert sein, diese Grenzen aufrechtzuerhalten?
Aktuell am meisten daran interessiert sind die Europäer. Wenn ich mit den Menschen in Russland, Kasachstan oder Indien über ein zusammenwachsendes Eurasien rede, sehe ich Freude und Hoffnung. Und in Europa? Lange Gesichter! Die Europäer sind enttäuscht, als hielten sie sich für von der Geschichte auserwählt. Sie stellen nun fest: so speziell sind wir Portugiesen, Schweizer, Deutsche gar nicht. Leider etwas gar spät, denn um Europa herum hat sich längst eine Art «Feuerring» gebildet, der auch auf diese lang gepflegte Arroganz, die übrigens seit jeher im Begriff «Abendland» mitschwingt, zurückgeht.

Konkreter?
Schauen Sie von Libyen, Italien über Griechenland, die Türkei, Georgien bis zur Ukraine und nach Ostpolen: überall brennt es. Hier sind es Flüchtlingslager, die kaum mehr kontrollierbar sind, dort sind es entstehende Autokratien, hier interveniert Russland, dort stimmen die Stimmbürger von selbst für prorussische Hardliner. Es ist sehr unglücklich, dass die EU den Russen nicht die Stirn bot und bietet und damit ein klares Signal an die Kaukasusländer schickt, die mitunter gern näher an Europa heranrücken würden, sich auch als Europäer fühlen. Diese Länder sind auf sich gestellt – oder an Russland gebunden. Das ist keine gute Ausgangslage für die nähere Zukunft. Unbedingt vermeiden sollten wir einen weiteren Fall Türkei.

Mit Verlaub: die Kriterien für die Aufnahme in die EU hat die Türkei nicht erfüllt. Es ist konsequent und richtig, dass Brüssel nicht dieselben Fehler wie bei der Euro-Einführung begeht und grosszügig über angebliche Details hinwegsieht.
Die Türkei war auf einem guten Weg für den Beitritt zur EU – und wahrscheinlich wären dort weitere Reformprozesse angestossen worden, wenn man ein konkreteres Angebot gemacht hätte. Stattdessen hat sich Brüssel in Sorge um die Folgen eines Beitritts aufgerieben, die Sache unnötig verzögert und am Ende vielleicht mit dafür gesorgt, dass die Türkei sich so entwickelt hat, wie wir es nun beobachten. Die meisten Beobachter sind sich heute einig, dass es aufgrund dieses «Unglücks» so schnell keine Erweiterungspläne mehr geben wird. Das bringt die EU weiter in die Defensive, in Abhängigkeiten – gerade im Hinblick auf die Türkei. Statt Stabilität zu bringen, importiert sie heute eher Instabilitäten.

Warum sollte eine grössere EU – also eine, die von Brüssel aus noch weniger gut bis an die Peripherie schauen und dort trefflich agieren kann – eine bessere EU sein?
Genau aus diesem Grund: die Europäische Union hätte, gesetzt den Fall, die Türkei wäre beigetreten, flexibler und wohl auch föderaler funktionieren müssen. Es hätte Reformen geben müssen, die das ganze System auf die Durchsetzung weniger, bestehender Regeln fokussiert hätten – und den Rest flexibilisiert.

Zum Beispiel?
Sicher wäre die Personenfreizügigkeit neu diskutiert worden. Um in der Türkei ökonomische Stabilität herzustellen, hätte man auch Lehren aus den Eurokrisen ziehen müssen. Das hätte vielleicht sogar Grossbritannien davon abgehalten, auszusteigen: die Briten reagieren ja vor allem allergisch auf bürokratische Bevormundung und ein zu enges Korsett von aussen. Stattdessen hören wir nun wieder von einer «Kernunion», was einer 2-Klassen-Union gleichkäme und die EU zerstören würde. Wer meint, die Probleme nur durch Reaktion, Reduktion und Rückzug zu lösen, wird damit nicht aufhören, bis jedes Gehöft seinen eigenen Staat ausruft. Was meinen Sie: kann das China die Stirn bieten?

Wäre es sinnvoller, Asien ein Angebot zu machen?
Nein, eigentlich macht China Europa ein Angebot, es hat sogar einen Namen: «One Belt, One Road»: Chinas neue Seidenstrasse über den ganzen Kontinent soll 2049 fertiggestellt sein. Das ist die grösste Geschichte des 21. Jahrhunderts! Es geht darin nicht nur um die Infrastruktur, die dieser neue Weg darstellen wird, sondern auch um die physische Reorganisation des Welthandels und der Weltpolitik – mit China als neuem Zentrum.

Welchen Anreiz sollten Bern oder Brüssel haben, sich diesem Zentrum anzudienen?
Diese neue Seidenstrasse hat das Zeug, den «Westen» im wirtschaftlichen Sinne zu ersetzen – also sollte er das Ziel verfolgen, Teil – bzw. das daran angeschlossene westliche Ende – davon zu werden, bevor das passiert. Wenn Sie in der Weltgeschichte nach einem Äquivalent dafür suchen, so ist das nicht der «Marshall-Plan» oder das Prinzip einer sozialen Marktwirtschaft, sondern «der Westen» selbst. Es geht um ein politisches wie ökonomisches Konzept: Während in den letzten 200 Jahren alle Augen auf Washington gerichtet waren, wird man ab 2050 nach Beijing schauen – jedenfalls aus den allermeisten Staaten dieser Welt. Auch die Verhältnisse auf unserem Kontinent werden sich umkehren. Europa wird dann wieder die kleine Halbinsel am nordwestlichen Rand des grössten Kontinents der Welt sein.


Bruno Maçães
ist Politikwissenschafter und Autor. Er ist Senior Advisor bei Flint Global in London und Senior Fellow am Hudson Institute in Washington. Er war portugiesischer Staatssekretär für europäische Angelegenheiten. Von ihm zuletzt erschienen: «The Dawn of Eurasia» (Penguin, 2018).

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