Wir brauchen Ihre Unterstützung — Jetzt Mitglied werden! Weitere Infos
Anton Krättli, illustriert von Pipin Pabisangan.

Der neugierige Kritiker

Anton Krättli war einer der wichtigsten und ­originellsten Schweizer Kritiker des 20. Jahr­hunderts. Sein Wirken und sein Werk sind wie dasjenige eines Literaten zu würdigen.

 

Anton Krättli, dessen 100. Geburtstag am 18. August fällig gewesen wäre, war der wohl profilierteste Redaktor der «Schweizer Monatshefte». Der Aargauer setzte wie einst Heinrich Zschokke (1771–1848) Massstäbe für eine mitbürgerliche Literaturkritik und gehört zusammen mit dem NZZ-Feuilletonchef Werner Weber (1919–2005), «Tat»-Chefredaktor Erwin Jaeckle (1912–1997) und Kritikerlegende Elisabeth Brock-Sulzer (1903–1981) zu den Grossen des hiesigen Feuilletons. Wie kaum ein anderer repräsentierte Krättli, der mit bedeutenden Autoren in direktem Dialog stand, den hochgebildeten, vor­ausschauenden liberalen Bildungsbürger mit humanistischer Fundierung. Anlass genug, sein Lebenswerk zu würdigen.

 

«Wie kaum ein ­anderer repräsentierte Krättli, der mit bedeutenden Autoren in direktem Dialog stand, den hochgebildeten, vorausschauenden liberalen ­Bildungsbürger mit humanistischer Fundierung.»

 

Zum Spannungsfeld des jungen Literatur- und Kulturkritikers gehörte die für den neueren Liberalismus prägende Differenz zwischen den 48ern und 68ern. «48er» zu sein bedeutete für Krättli, der in der Nachkriegszeit studierte, in der 100-Jahr-Feier des weltweit einzigartigen Bundesstaates 1948 eine kulturelle Aufgabe für eine neue Zeit zu erkennen. Damit war er stärker vorwärtsorientiert als seine Professoren, bei denen es sich häufig um hohe Offiziere der Schweizer Armee handelte. Kritische Neugier bedeutete für Krättli vor allem, sich vom Theater der Zeit herausfordern zu lassen. Der Suizid des Bühnenschweizers Cäsar von Arx (1895–1949) wühlte ihn deshalb ähnlich auf wie 40 Jahre später derjenige des Meisterautors Hermann Burger (1942–1989), den er via «Schweizer Monatshefte» früh fördern sollte.

In seiner 1978 erschienenen Studie «Das Lorgnon oder Der Literat im Lokalblatt», die von seinem Sohn Rolf kunstvoll gestaltet worden ist, verwahrte sich Krättli im Rückblick auf die Studienzeit und seine Anfänge als Publizist, die Schweizer Nachkriegsjugend als unkritisch hinzustellen. Für den Sohn eines Postbeamten war es keinesfalls selbstverständlich gewesen, Jahre in ein Studium der Geisteswissenschaften zu investieren. Und für die Öffentlichkeit zu schreiben war auch kein Hobby, sondern Arbeit, die von jungen, damals wegen Konkubinatsverbot früh verheirateten Erwachsenen ohnehin gefordert worden sei.

Jahrhundertzeuge literarischer Entwicklungen

Neugierig zu bleiben bedeutete für den jungen Krättli, bei der skandalträchtigen Uraufführung von Friedrich Dürrenmatts «Es steht geschrieben» (Frühjahr 1947) ebenso zugegen zu sein wie später beim Triumph von «Die Physiker» (1961) sowie bei den Zürcher Misserfolgen «Der Mitmacher» und «Die Frist». «Blödsinn versinkt in Mumpitz», schimpfte Marcel Reich-Ranicki später einmal über ein weiteres dürrenmattsches Spätwerk. Krättli hingegen verstand seinen Beruf so, zwar an Klassikern wie Lessing und Schlegel geschult zu sein, als Kritiker aber gleichwohl unbedingt der Zukunft zugewandt zu bleiben.

 

«Krättli verstand seinen Beruf so, zwar an Klassikern wie Lessing und Schlegel geschult zu sein, als Kritiker aber gleichwohl unbedingt der ­Zukunft zugewandt zu bleiben.»

 

So war es denn auch schlichte Neugier, die ihn davon abhielt, sich an der Totalablehnung des epochalen Neutöners Thomas Bernhard zu beteiligen, die dem österreichischen Autor in den 1960er-Jahren entgegenschlug. Aus dieser Haltung heraus machte Krättli in den Siebzigerjahren das Stapferhaus in Lenzburg, geführt von Martin Meyer, zum Brennpunkt eines kurzen literarischen Frühlings der neueren Deutschschweizer Literatur: Erika Burkart, Ernst Eggimann, Gerold Späth, Heinrich Wiesner, Gertrud Wilker, Klaus Merz, Urs Faes, Jürg Amann und der an Brillanz und Präzision alle überstrahlende Hermann Burger trafen sich hier. Bei diesen Gelegenheiten erhielt eine neue Generation von Kritikern eine Plattform, so Gerda Zeltner, Elsbeth Pulver, Elsbeth Dietrich und noch andere – nicht zu vergessen Krättlis Weggefährten Luc Bondy und Albert Hauser.

Ein Aargauer in der Tradition Heinrich Zschokkes

Die Mittellage des Kantons Aargau, bis heute schnell als «Provinz» abgetan, ermöglichte dem bedeutendsten Kulturminister in der Geschichte der Schweiz, Philipp Albert Stapfer (1766–1840), die einzige nachhaltige Errungenschaft der kurzlebigen Helvetischen Republik: den kulturellen und bildungspolitischen Aufbruch. Dazu gehörte auch die Erfindung der Institution Kantonsschule 1802 und später der von Zschokke und dem Philosophen I.P.V. Troxler geförderte «Lehrverein», die wegweisende Volkshochschule für künftige Verfassungsväter. Zu erwähnen ist hier zudem der 1807 gegründete, damals epochale Verlag Sauerländer, der von Aarau aus fortschrittlich-liberales Gedankengut im ganzen deutschsprachigen Raum verbreitete. Zur Verlagsgeschichte hat Krättli zwei Publikationen beigetragen, die zu seinen bestgeschriebenen Büchern zählen: zum einen den exquisit kommentierten Briefwechsel zwischen Verlagsgründer Heinrich Remigius Sauerländer und Schriftsteller Clemens Brentano, der 1962 bei Artemis erschien, zum anderen «Wortverliebt und unbesonnen – Annäherungen an Clemens Brentano», 1996 von Pendo verlegt. Dass Sauerländer heute zur Schweizer Kulturgeschichte gezählt wird, ist mit eine Errungenschaft des Germanisten Krättli.

Brentano war auch einer der untersuchten Hauptautoren in dessen Dissertationsschrift «Die Farben in der Lyrik der Goethezeit» von 1949. Kaum je wurde besser illustriert, was Krättlis akademischer Lehrer, der Germanist Emil Staiger, unter «lyrischem Stil» verständlich zu machen vermochte. Allerdings war es nicht Krättlis Art, bei ungewohnten Texten mit der berüchtigten Frage seines Doktorvaters Emil Staiger zu kommen: «In welchen Kreisen verkehren Sie?» Als einer der Promotoren des 1969 gesamtschweizerisch epochalen Aargauer Kulturgesetzes (1 Prozent des Steueraufkommens für Kulturförderung!) und wegweisender Kulturpublizist stand Krättli in der Tradition des Universalpublizisten. Dessen Weltoffenheit machte die oberhalb von Aarau gelegene Villa Blumenhalde, gelb getüncht wie die Häuser Goethes und Schillers, zu einem kleinen Weimar in der Schweiz. Diese Blumenhalde wurde indes nicht mit Subventionen, sondern mit Tantiemen finanziert!

Kritik: Eher Kunst als Wissenschaft

Zu den denkwürdigsten Grabstätten im Aargau zählt der Friedhof von Brunegg. Hier ruhen Hermann Burger, Manuel Gasser («DU») und Jean-Rodolphe von Salis nahe beieinander – ein Anlass, über verschiedene Arten von Bildungsbürgern nachzudenken. Sowohl Gasser wie auch Burger galten ihrer jeweiligen Generation als Exzentriker, der «Weltchronist» von Salis betätigte sich bei seinen trefflichen Bundesfeierreden in Brunegg im besten Sinne mitbürgerlich. Letztlich blieb er aber ein vom Schloss heruntergestiegener Aristokrat, dank Horizont, geistigen Interessen und kritischem Format zum Grossbürger gewandelt. «Sagte ich zu Dürrenmatt», lautet ein charakteristischer Satz aus seinen Memoiren.

Anton Krättli hingegen ist aus eigener Kraft zum exemplarischen Bildungsbürger aufgestiegen. Beruflich pendelte er zwischen Aarau und Zürich. In seinem eigenen «Tusculum» in Aesch am Hallwilersee – umgeben von Ahorn, Birke, Blutbuche, Weide, Zitterpappel und Haselnuss – zeigten mir Rolf Krättli und dessen Gattin Cornelia, was vom Arbeitszimmer des Gelehrten übriggeblieben ist. Im oberen Stockwerk des Hauses, mit Blick auf den See, entstanden subtile eigene Malereien, Artikel, Essays, Editionen und Reden. Darunter etwa die markanten Ansprachen zum Aargauer, Basler und auch Zürcher Literaturpreis, die 1986 im Falle von Jürg Federspiel von Niklaus Meienberg spektakulär «ergänzt» wurde. In Krättlis dreibändigem Vermächtniswerk «Zeit-Schrift» (Sauerländer, Aarau 1982) bekannte er sich zur Kritik, die er weniger als Wissenschaft denn als Kunst verstanden wissen wollte – so wie es Peter von Matt, ebenfalls Staiger-Schüler, heute noch praktiziert. Als «Adam Nautilus Rauch» ist Krättli, selber Literaturpreisträger, dank Hermann Burgers Roman «Brenner» in die deutsche Literatur eingegangen.

Anton Krättli ist am 11. November 2010 im Alter von 88 Jahren in Aarau verstorben.

»
Abonnieren Sie unsere
kostenlosen Newsletter!