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Online-Spezial:
Schönes neues Risikomanagement

Unter dem Begriff «InsurTech» werden Start-ups zusammengefasst, die neue Technologien ins Risikomanagement und die Versicherungen einbringen. Der Trend wird sich auf die Branche und die globale Risikolandschaft auswirken.

InsurTech existiert als Begriff noch nicht lange: Gegen Mitte der 2010er Jahre entstand eine erste Welle von Start-ups im Versicherungssektor, deren Fokus auf der Digitalisierung des Beratungs- und Vermittlungsprozesses von Policen lag. Neben dem aus Berlin stammenden Start-up Friendsurance, welches das Modell des Versicherungsvereins auf Gegenseitigkeit ins digitale Zeitalter übertrug, entwickelten sich vor allem digitale Makler-Apps, wie Wefox (früher: Finance Fox), Clarke und Knip, die dem Kunden eine Plattform zur Auswahl und Verwaltung von Versicherungsprodukten boten. Die meisten dieser InsurTech-Pioniere mussten ihr Geschäftsmodell zwischenzeitlich anpassen, erweitern oder einstellen. Reine Makler-Apps gelten aufgrund der mangelnden Resonanz seitens der Kunden als vorerst gescheitert.

Es folgte eine zweite Welle von InsurTech-Start-ups, die Technologielösungen für alle Stufen der Wertschöpfungskette eines Versicherungsunternehmens entwickeln. Diese digitalen Partner bieten den etablierten Marktteilnehmern die Chance zur Zusammenarbeit und die Gelegenheit, eigene Prozesse zu digitalisieren und zu optimieren. Infolgedessen standen die Zeichen zwischen InsurTech-Start-ups und etablierten Versicherern für geraume Zeit auf Annäherung. Es ergab sich eine ganze Reihe von erfolgreichen Kooperationsprojekten. Seit 2017 zeichnet sich nun eine dritte InsurTech-Welle ab, die hauptsächlich aus neu gegründeten, vollständig digitalen Versicherungsunternehmen besteht. Diese Entwicklung stellt die etablierten Unternehmen vor Herausforderungen, da zukünftig ein verstärkter Wettbewerb um Kunden, aber auch um talentierte Mitarbeiter zu erwarten ist. Insbesondere die Generation der «Digital Natives», die mittelfristig zu einer bedeutenden Konsumentengruppe heranwachsen wird, steht beim Angebot von digitalen Versicherern wie One, Coya oder Element im Mittelpunkt. Im folgenden liegt der Fokus vor allem auf den partnerschaftlichen InsurTech-Modellen der zweiten Welle.

Versicherungsabschluss mit KI-Unterstützung

Bei näherer Betrachtung der InsurTech-Start-ups, die den etablierten Versicherern in der digitalen Transformation als Technologiepartner zur Seite stehen, zeigt sich, dass diese neben Robotik, Internet of Things (IoT) und Blockchain aktuell insbesondere auf künstliche Intelligenz (KI) setzen. Für letztere ergeben sich Verwendungsmöglichkeiten entlang der kompletten Wertschöpfungskette von Versicherern. Zunächst kann KI den Abschlussprozess für den Kunden stark vereinfachen, indem dieser mit dem Versicherer per (Video-)Chat in Verbindung tritt. Seine Betreuung übernimmt dabei keine reale Person, sondern ein intelligenter Chatbot, der zu jeder Tages- und Nachtzeit verfügbar ist und die individualisierte Ansprache beherrscht.

Bestimmte Arbeitsschritte in der Underwriting-Phase, in der Risiken zunächst eingeschätzt und dann gezeichnet werden, können mit Hilfe von KI automatisiert werden. Hierfür übermittelt der Kunde dem Versicherungsunternehmen relevante Informationen, die interaktiv erfragt werden. In der Gebäudeversicherung können diese beispielsweise den Standort des Hauses, die Wohnfläche, die Anzahl der Rauchmelder und vieles mehr beinhalten. Die Verarbeitung der Eingabe verläuft im Hintergrund und wird direkt in eine Risikoeinschätzung und schliesslich in ein Versicherungsangebot verwertet. Dabei können sowohl interne als auch externe Datenquellen herangezogen werden, beispielsweise die Einbruchsstatistik für das angegebene Wohngebiet oder Daten zu Niederschlag und Überschwemmungsgefahr. Die Risikoeinschätzung geschieht in Echtzeit und der Vertrag kann sofort abgeschlossen werden. Ein menschlicher Eingriff ist nur noch in Ausnahmefällen notwendig.

Von einer solchen Automatisierung profitieren beide Seiten. Der Versicherer spart Kosten, da der Prozess mit deutlich weniger Mitarbeitern auskommt und die Abbruchrate seitens der Kunden substantiell geringer ausfällt. Der Kunde dagegen geniesst den Vorteil eines schnellen, reibungslosen Abschlusses der Versicherung ohne langwierige Formalitäten. In der Schadenabwicklung schliesslich kann durch den Einsatz von KI ebenfalls ein hoher Automatisierungsgrad erreicht und gleichzeitig die Anfälligkeit für Betrugsversuche seitens der Kunden reduziert werden. Im Idealfall erfolgt die Meldung des Schadens bequem per Übertragung von Bilddaten eines Smartphones, auf deren Basis die KI in kürzester Zeit eine Entscheidung trifft.

Revolution der Risikoeinschätzung

Abgesehen von der Digitalisierung zentraler Prozessschritte der Versicherungswertschöpfung revolutionieren und individualisieren InsurTech-Start-ups die Einschätzung von Risiken, die bisher jahrzehntelang in der gleichen Art und Weise behandelt wurden. Über «Wearables» (z.B. Technologiearmbänder) in der Krankenversicherung, Telematik-Boxen in der Kraftfahrtversicherung oder Sensorik in SmartHomes ist, mit Einwilligung des Kunden, eine permanente Risikoüberwachung möglich. Dieses digitale Monitoring generiert riesige Datenmengen in Echtzeit und hilft damit, sowohl Informationsasymmetrien abzubauen als auch Individuen hinsichtlich ihres Risikos individueller zu klassifizieren. Ein Beispiel ist das Zürcher Start-up dacadoo, das aus den Vitaldaten von Personen einen Index für die Messung von Gesundheit und Lebensstil generiert. Dadurch kann potentiell die Profitabilität des Versicherers gesteigert werden. Allerdings stellen sich bei diesen Modellen die grundsätzlichen Fragen, inwiefern Kunden bereit sind, ihre Daten zu teilen, und wie letztere ausreichend vor dem Zugriff Unbefugter geschützt werden können. Auch wäre denkbar, dass im Extremfall der Risikoausgleich im Kollektiv durch Technologie ausgehebelt wird. Beispielhaft seien fortschrittliche genetische Analysen genannt, auf deren Basis sich der Risikotyp eines Menschen eindeutig identifizieren lässt. Somit bestünde in der Krankenzusatzversicherung die Gefahr, dass bestimmte Kundengruppen trotz (noch) nicht vorhandener Vorerkrankungen von vorneherein vollständig vom Versicherungsschutz ausgeschlossen werden. Mit anderen Worten: für diese Segmente käme kein privater Versicherungsmarkt mehr zustande. Im Hinblick auf die private Rentenversicherung könnte es durch eine äusserst präzise Lebenserwartungsschätzung mittels neuer Technologien dazu kommen, dass das Langlebigkeitsrisiko für den einzelnen massiv abnimmt und das Produkt letztlich durch den Prozess des Sparens und Entsparens substituiert werden kann. Mit anderen Worten: falls man seinen natürlichen Todeszeitpunkt verlässlich auf einen Zeitraum von wenigen Jahren eingrenzen kann, ist es möglich, den persönlichen Konsum so einzuteilen, dass das bei Renteneintritt ersparte Kapital mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausreicht. Der Kauf einer privaten Rentenversicherung bringt dann keinen zusätzlichen Nutzen für den Kunden mehr.

Neben der präziseren Beurteilung von bekannten Risiken spielt die InsurTech-Szene in der Absicherung von neuen Risiken eine immer wichtigere Rolle. Die zunehmende Digitalisierung der Industrie, die Vernetzung von Maschinen und die Abhängigkeiten von computergesteuerten Prozessen erhöht die Gefahr eines Betriebsunterbruchs durch Cyberattacken. Deren Versicherbarkeit stellt aufgrund des sich stetig verändernden, also dynamischen Risikocharakters eine grosse Herausforderung dar. Aber auch die Beurteilung der Wirksamkeit von IT-Sicherheitsmassnahmen, der Mangel an angemessenen historischen Daten und der praktisch nicht beherrschbare Kumulschadenfall bereiten den Versicherern Kopfzerbrechen bei der Risikoeinschätzung. Heute befasst sich bereits eine ganze Reihe von Start-ups mit diesem Thema. Ein Beispiel ist das amerikanische Unternehmen Zeguro, welches eine Lösung zur Identifizierung, Messung, Minderung und Absicherung von Cyberrisiken anbietet. Ebenso bietet die Schweizer Firma Exeon Analytics, ein Spin-off der ETH Zürich, Sicherheitsanalysen an.

Ein weiterer Trend im InsurTech-Sektor sind massgeschneiderte Versicherungsprodukte. Im Gegensatz zur in der Vergangenheit üblichen statischen Produktstrategie steht heute der Kunde mit seinen Bedürfnissen im Mittelpunkt. So reagieren Start-ups auf die sich rasant weiterentwickelnden Ansprüche der Kunden an die Benutzerfreundlichkeit von Websites, Apps und Produkten. Durch Transaktionen mit Unternehmen anderer Branchen, wie zum Beispiel dem E-Commerce-Sektor, gewöhnen sich Individuen an hohe Standards, die sie dann auch von Finanzdienstleistern erwarten. Eine Modularisierung von Deckungen ermöglicht dem Kunden, genau jene Art von Deckung zusammenzustellen, die er benötigt. Im Extremfall spricht man von einer «lifestylebasierten» Versicherung, die sich automatisch und präzise am Alltagsverhalten des Versicherungsnehmers, das durch Smartphone-Sensoren und andere Datenquellen permanent nachgezeichnet wird, ausrichtet. Die Individualisierung wirkt sich selbstverständlich auch direkt auf die Risikoeinschätzung und damit auf die berechnete Prämie für den angefragten Versicherungsschutz aus. So erhält der Kunde ein auf ihn zugeschnittenes Produkt zu einem dafür bestimmten Preis. Als Beispiel sei das niederländische Start-up InsureApp genannt, das derartige personalisierte Deckungen über verschiedene Risiken hinweg anbietet. Klassische Versicherungsprodukte mit hohem Standardisierungsgrad büssen vor diesem Hintergrund für Kunden, die bereit sind, ihre Daten zu teilen, stark an Attraktivität ein.

On-Demand-Deckungen

Ein hoher Grad an Flexibilität wird dem Kunden auch beim Abschluss einer On-Demand-Versicherung gewährt. Bei dieser Art von Produkt kann der Versicherungsschutz jederzeit eigenständig aktiviert und wieder deaktiviert werden. Es handelt sich also um eine zeitliche Atomisierung der Versicherungsdeckung. Der Kunde ist in der Lage zu wählen, wann und für wie lange er die Versicherung benötigt. So kann beispielsweise ein Fahrrad exakt in der Zeit, in welcher es für einen Ausflug genutzt wird, versichert werden. Ist es hingegen sicher im Keller verstaut, wird keine Deckung benötigt. So bezahlt der Kunde lediglich für die Nutzungsdauer der Versicherung. Auf Seiten des Anbieters besteht die Herausforderung in einer angemessenen Risikoeinstufung und Bewertung der Leistung. Zu berücksichtigen ist, dass On-Demand-Versicherungslösungen tendenziell eher in Hochrisikophasen genutzt werden, was sich in den Prämien niederschlagen muss. Um langfristig profitabel arbeiten zu können, müssen On-Demand-Versicherer zudem den Betrugsfall unter Kontrolle bekommen.

Als letzter Trend sind Tech-Lösungen zur Risikoprävention zu nennen. Hierbei geht es entweder um die Reduktion der Schadenwahrscheinlichkeit oder der Schadenhöhe. Im ersten Fall werden Anwender direkt oder indirekt zu einem risikobewussteren Verhalten angeleitet. Ein Beispiel ist das südafrikanische Unternehmen Discovery, das Kunden eine Apple-Watch schenkt, um sie damit im Rahmen eines umfassenden «Vitality-Programms» mittels spielerischer Ansätze («Gamification») zu einem gesundheitsbewussteren Lebensstil zu animieren. Erste Daten belegen bereits, dass diese Vorgehensweise zu einer signifikanten Reduktion der Gesundheitskosten der betroffenen Personen führt. Diese können über die Risikoeinstufung in Form von Prämienerleichterungen wieder an den Kunden zurückgegeben werden. Für sportlich weniger Aktive oder Kunden mit fehlender Bereitschaft, ihre Daten zu teilen, könnte dies langfristig allerdings den Nachteil höherer Prämien bergen, da sie in den klassischen Tarifen mit höheren Gesundheitskosten zurückbleiben. Bei der Verringerung der Schadenhöhe helfen Lösungen wie diejenige des Start-ups Leakbot, das eine Technologie zur Verhinderung von Wasserschäden in Immobilien entwickelt hat. Bemerken die intelligenten Fühler des Systems einen Druckabfall in den Leitungen, so wird automatisch die Hauptwasserversorgung des Hauses abgestellt, um grössere Schäden abzuwenden. Zu versichern ist in diesem Fall – wenn überhaupt – lediglich noch ein minimales Residualrisiko.

Fazit

Die digitale Transformation verändert nicht nur die Möglichkeiten der Risikomessung und -deckung, sondern über neue Risikoarten und verbesserte Präventionsmöglichkeiten auch die Risikolandschaft selbst. Grosses Potenzial wird aktuell vor allem KI-Lösungen in der Assekuranz beigemessen. Daten und die aus ihnen gewonnenen Informationen bilden diesbezüglich die grundlegende Ressource. Der Schlüssel für etablierte Unternehmen liegt in der Nutzbarmachung der InsurTech-Innovationen für «Operational Excellence», also Effizienzgewinne, und zur Innovation von Geschäftsmodellen. Auf diese Weise können die Kundenbedürfnisse adäquat gedeckt und die damit verbundenen Risiken präzise bewertet werden. Als zentrale Fragestellung auf Kundenseite kristallisiert sich hingegen mehr und mehr heraus, ob man bereit ist, persönliche Daten mit seinem Versicherer zu teilen. Als Belohnung für die Transparenz winken bedarfsgerechte und zeitlich hochflexible individualisierte Deckungen, intelligente Risikoprävention und geringere Versicherungsprämien. Problematisch erscheint hingegen die Perspektive, dass «schlechtere» Risiken und Menschen mit einem starken Bedürfnis nach Privatsphäre potentiell deutlich höhere Kosten für ihre Risikoabsicherung tragen müssen.

 

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Die Wahrscheinlichkeit, von einem Hai getötet zu werden, ist verschwindend klein. Und doch ist der weisse Hai zum Inbegriff von «Gefahr» geworden. Bild: Grosser Weisser Hai, mauritius images / nature picture library / Chris & Monique Fallows.
Von weissen Haien und schwarzen Schwänen

Für die Beurteilung von Gefahren ist ein evolutionär altes Hirnteil zuständig, und Wahrscheinlichkeitsrechnung liegt den Menschen ohnehin nicht im Blut. Das führt oft zu falschen Einschätzungen.

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