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Von weissen Haien und schwarzen Schwänen
Die Wahrscheinlichkeit, von einem Hai getötet zu werden, ist verschwindend klein. Und doch ist der weisse Hai zum Inbegriff von «Gefahr» geworden. Bild: Grosser Weisser Hai, mauritius images / nature picture library / Chris & Monique Fallows.

Von weissen Haien und schwarzen Schwänen

Für die Beurteilung von Gefahren ist ein evolutionär altes Hirnteil zuständig, und Wahrscheinlichkeitsrechnung liegt den Menschen ohnehin nicht im Blut. Das führt oft zu falschen Einschätzungen.

Stellen Sie sich vor, Sie seien Leiter der Katastrophenschutzbehörde. Ein Asteroid rast auf die Erde zu, zu allem Überfluss auf dichtbesiedeltes Gebiet. Ihnen stehen zwei Massnahmen zur Auswahl: Massnahme A rettet 20 000 Leben mit Sicherheit, Massnahme B rettet 60 000 Leben mit einer Wahrscheinlichkeit von ein Drittel und kein einziges Leben mit einer Wahrscheinlichkeit von zwei Dritteln. Welche Massnahme wählen Sie? 72 Prozent der mit dieser Frage konfrontierten Testpersonen antworteten mit «A». Einer zweiten Gruppe wurden die Auswirkungen der Massnahmen mit einer etwas anderen Formulierung präsentiert: «Bei Massnahme C sterben 40 000 Menschen mit Sicherheit, bei Massnahme D sterben 60 000 Personen mit einer Wahrscheinlichkeit von zwei Dritteln und keine einzige mit einer Wahrscheinlichkeit von ein Drittel.» Hier wählten 78 Prozent der Befragten Massnahme D.

In Wirklichkeit sind die Massnahmen A und C äquivalent (mit Sicherheit überleben 20 000 Menschen und 40 000 sterben), und ebenso die Massnahmen B und D (mit einer Wahrscheinlichkeit von ein Drittel werden alle Menschen gerettet, mit einer Wahrscheinlichkeit von zwei Drittel sterben alle). Es ist darum einigermassen erstaunlich, dass von der ersten Testgruppe 72 Prozent die Variante «Sicherheit» (Massnahme A, äquivalent zu C), von der zweiten aber 78 Prozent die Variante «Risiko» (Massnahme D, äquivalent zu B) gewählt haben. Der Unterschied der beiden Szenarien liegt in ihrer Präsentation: Das erste ist als Gewinndarstellung formuliert, das zweite als Verlustdarstellung. Mit enormen Auswirkungen.

Die Kahnemann-Tversky-Bewertungsfunktion

Die Psychologen Daniel Kahnemann (2002 dafür nobelpreisprämiert) und Amos Tversky (1996 verstorben) wiesen schon 1979 anhand genau solcher Experimente nach, dass Menschen den Nutzen von Zuständen nicht so beurteilen, wie die klassische Wirtschaftstheorie damals annahm. Die Annahme war: Menschen haben eine Nutzenfunktion, die bei einer Ausstattung von 0 (die einen Nutzen von 0 generiert) beginnt und mit abnehmender Geschwindigkeit steigt. Der zusätzliche Nutzen, den eine zusätzliche Einheit an Assets (sei das Geld oder weniger monetäre Annehmlichkeiten) bewirkt, wird kleiner, je höher die «Ausstattung» des Individuums ist. Dieser Kurvenverlauf begründet gleichzeitig auch die Risikoaversion des Menschen: Er wird ein sicheres Ergebnis immer bevorzugen gegenüber einer Lotterie, die im Erwartungswert zum selben Ergebnis führt. Oder anders ausgedrückt: Er ist bereit, Vermögen zu opfern, um ein sicheres Ergebnis zu erreichen und eine Lotterie (mit demselben statistisch zu erwartenden Ausgang) zu vermeiden. Kahnemann und Tversky wiesen nun nach, dass Menschen erstens Nutzen nicht gegenüber dem Nullpunkt bewerten, sondern gegenüber dem Status quo, von dem aus sie dann in Gewinnen und Verlusten denken, dass sich zweitens relativ einfach beeinflussen lässt, was als Status quo und dementsprechend was als Gewinn und was als Verlust wahrgenommen wird – dieser Effekt wird als «Framing» bezeichnet –, dass die Menschen drittens auf der Verlustseite risikofreudig sind, dass sie also eine Lotterie aus Verlusten dem sicheren Verlust, der dem Erwartungswert der Lotterie entspricht, vorziehen, und dass sie viertens1 Verluste stärker negativ gewichten als Gewinne positiv.

Die Gewinndarstellung im obigen Beispiel (Status quo: alle sterben) aktiviert also die Risikoaversion, die Verlustdarstellung (Status quo: alle leben) dagegen die Risikofreude. Diese asymmetrische Wertfunktion nach Kahnemann-Tversky hat noch weitere Implikationen: Mehrere kleine Gewinne machen den Modellmenschen glücklicher als ein grosser – Sie machen einem Mitmenschen also lieber öfters kleine Geschenke als einmalig ein grosses –, dagegen wiegt ein grosser Verlust weniger schwer als mehrere kleine – als CEO bündeln Sie anstehende Verluste also lieber in einem Jahr, um danach wieder Gewinne zu schreiben, statt stetige, kleinere Verluste über mehrere Jahre zu kommunizieren2 –, und eben, generell sind Menschen ausgeprägt verlustavers: Einen Gegenstand, den Sie schon besitzen, geben Sie – die Ausnahmen bestätigen die Regel – deutlich weniger gern her, als Sie auf einen Gegenstand verzichten, den Sie noch nicht besitzen. Etwas zu verlieren, schmerzt mehr, als etwas nicht zu gewinnen. Aus der Verlustaversion resultiert auch die dramatisch unterschiedliche Bewertung von tatsächlichen (monetären) Kosten und Opportunitätskosten: tatsächliche Kosten werden als Verluste wahrgenommen, Opportunitätskosten dagegen als entgangene Gewinne (und werden daher schwächer gewichtet). Entsprechend treffen Menschen viele Massnahmen, um Verluste zu verhindern, aber wenige, um neue Gewinne zu erzielen.

Wohlstand und Risiko

Am stärksten ausgeprägt scheint diese Verlustaversion in Wohlstandsgesellschaften. Wem es schon sehr gut geht, der hat viel zu verlieren, so die gängige Überlegung – und was zu gewinnen ist, führt nicht zu einem markanten Zusatznutzen, weil ohnehin schon ein gewisses Mass an Sättigung erreicht ist. Während der zweite Punkt nicht ganz von der Hand zu weisen ist, sind Zweifel am ersten erlaubt: Gerade westliche Wohlstandsgesellschaften – nicht alle gleich ausgeprägt, aber ganz bestimmt die Schweiz – leisten sich ein dichtes Netz der sozialen Sicherung, das die Auswirkungen von Verlusten (zumindest in finanziellen Belangen) nach unten begrenzt. An Leib und Leben sind wir selbst bei grandiosem Scheitern von beruflichen oder finanziellen Experimenten nie bedroht. Die ausgeprägte Aversion gegen Risiken ist also wohl eher in der Natur des Menschen als adaptives Wesen zu suchen: Die Elimination von Risiken – sei es durch ein System der sozialen Sicherung, durch Hochwasserschutz, durch erdbebensichere Gebäude oder durch sichere Strassen und Autos – kostet Ressourcen. Wohlhabende Gesellschaften können sich das leisten. Wo aber weniger Risiken präsent sind, sinkt mittelfristig auch die Fähigkeit und die Bereitschaft der Menschen, mit diesen umzugehen, und die Zahlungsbereitschaft (monetärer wie nichtmonetärer Natur) zur Vermeidung noch kleinerer Risiken steigt.

Am stärksten ausgeprägt scheint die Verlustaversion in Wohlstandsgesellschaften.

Die drastische Veränderung des gesellschaftlichen Konsenses, was als Risiko akzeptabel ist und was nicht, lässt sich über die Zeit gut an gewissen Risikosportarten ablesen: Zwischen 1960 und 1982 starben 49 Formel-1-Rennfahrer in Unfällen – 28 in der Formel 1 selber, 21 weitere in Rennen anderer Klassen. Die Fahrer waren kaum geschützt, die Strecken hatten kaum Auslaufzonen, waren teilweise von Bäumen gesäumt. Heute verhindern Kohlefasermonocoque, rigide Crashtests, hohe Cockpitwände, Sechspunktgurt, Head-and-Neck-Support-System (HANS), neuerdings ein Kopfschutz (das «Halo») und natürlich die viel sichereren Strecken auch bei gröbsten Unfällen fatale Folgen. In den letzten 20 Jahren starb «nur» Jules Bianchi an den Spätfolgen eines skurrilen Unglücks.3 Ähnlich im Skisport: Pisten, wie sie in den 1970er Jahren präpariert und abgesichert waren, würden heute nicht ansatzweise akzeptiert.

Während diese Entwicklung im Sport zu begrüssen ist, hat sie anderswo auch negative Auswirkungen: So stieg die Dauer für Medikamentenzulassungen in den letzten Jahrzehnten stetig, mit dem Ziel, Todesfälle durch Unverträglichkeiten auszuschliessen. Basierend auf den Untersuchungen4 eines zehnköpfigen Forscherteams um den Kanadier Duncan J. Stewart lässt sich für die Schweiz nun aber berechnen, dass ein Jahr Verzögerung bei der Marktreife von Krebsmedikamenten zu einem (kumulierten) Gewinn von 16 Lebensjahren dank der Verhinderung solcher Todesfälle führt, aber einen kumulierten Verlust von 5500 Lebensjahren aufgrund der Verhinderung von Behandlungen durch noch nicht genügend getestete Medikamente verursacht. Auch beim Thema Gentechnik ist klar zu spüren, dass allen voran die Schweiz keine Lust auf Experimente hat. In immer mehr Bereichen wird nach dem Vorsichtsprinzip gehandelt. Dieses besagt, eine Handlung sei zu unterlassen, solange deren Risiken nicht restlos geklärt sind. Selbstredend ist es schwierig, die Risiken einer Handlung restlos zu klären, ohne die Handlung zuzulassen. Das Vorsichtsprinzip ist darum also nicht nur fortschrittsfeindlich, sondern mitunter tödlich.

Wenig überraschend führt eine des Risikos entledigte Gesellschaft bei gewissen Individuen zu Kompensationsreaktionen. Free-Soloklettern und Skydiving für die Begabten, die Besteigung von Baukränen oder wenigstens mal die Fahrt auf einer Achterbahn für die weniger Begabten. Symptomatisch ist aber: Der Mensch will die Kontrolle darüber haben, wo er ein Risiko eingeht und wo nicht. Unvermeidbare Risiken sind nicht akzeptabel. Das Leben funktioniert auch in anderen Bereichen zunehmend nach dieser Logik: Menschen stehen im Fitnesscenter auf dem Stepper, um dann auf der Rolltreppe in der Migros zur Salzsäule zu erstarren.

Die evolutionäre Komponente der Angst

Apropos «zur Salzsäule erstarren»: Wenn wir über Risiko sprechen, dürfen wir zu Angst nicht schweigen. Das scheint einerseits auf der Hand zu liegen, anderseits mögen aber auch einige einwenden: «Mein Risikoverhalten hat doch nichts mit Angst zu tun, sondern basiert auf rationaler Abwägung!» Das stimmt nur bedingt. Die Vermeidung von Risiken hat durchaus viel mit Angstgefühlen zu tun, auch wenn wir uns dessen meist gar nicht mehr bewusst sind. Neurobiologisch spielt die Amygdala eine entscheidende Rolle beim Angstempfinden. Sie ist evolutionär gesehen ein altes Hirnteil – und auch wesentlicher Bestandteil der Gehirne von Säugetieren und Vögeln. Die Angst oder Abscheu vor gewissen Dingen – z.B. Sauerstoffmangel oder Verwesungsgeruch – wird vererbt, andere Ängste – etwa die vor Spinnen oder zähnefletschenden Tieren – werden sehr leicht erlernt, und zwar nicht nur über eigene Erlebnisse, sondern auch über die Beobachtung der Reaktionen anderer Menschen. Das ist logisch: Wer keine Angst vor giftigen Spinnen oder dunklen Wäldern (mit wilden Tieren) hatte, starb relativ schnell aus. Das heisst aber auch: Angst und die daraus abgeleitete Vorsicht sind keine rational antrainierten Reaktionen. Das beweist das Verhalten einer Patientin, die offenbar keine Angst kannte.5 Als sie 20 war, wies ein Gehirnscan Kalkablagerungen auf ihrer Amygdala nach. Eines Nachts lief sie an einem verlassenen Park vorbei. Ein unter Drogeneinfluss stehender Mann rief nach ihr, und sie ging tatsächlich zu ihm. Er hielt ihr ein Messer an den Hals und drohte ihr, sie aufzuschlitzen. Sie blieb seelenruhig. Der verdatterte Mann liess von ihr ab, die Frau setzte ihren Weg fort – im Schritttempo –, und schon am nächsten Tag wählte sie wieder denselben Heimweg. Wäre risikovermeidendes Verhalten in erster Linie Ergebnis rationaler Abwägung, hätte sich die Frau nicht in diese Situation begeben, denn sie weiss ja genauso gut wie alle anderen, dass man in dunklen Pärken keinen Männerrufen folgen sollte. Spätestens nach einem solchen Erlebnis hätte ein «gesunder» Mensch zudem dunkle Pärke für lange Zeit gescheut – weil die in der Amygdala abgespeicherte Assoziation frisch ist.

Falsche Risikowahrnehmung

Dass unsere Risikowahrnehmung zu einem erheblichen Teil über Assoziationen funktioniert, erklärt die – zumindest unter Laien grassierende – systematische Fehleinschätzung von Gefahren oder allgemeiner von Wahrscheinlichkeiten. Alles hängt von der Verfügbarkeit, der Abrufbarkeit von Informationen ab, die wiederum beeinflusst sind von der Publizität, Aktualität und Anschaulichkeit von Ereignissen:

  1. Die Gefahr, bei einem Autounfall ums Leben zu kommen, ist bezogen auf den zurückgelegten Kilometer tausendmal und bezogen auf die Reisezeit immer noch fünfzig- bis hundertmal grösser, als Opfer eines Flugzeugabsturzes zu werden. Trotzdem ist Flugangst weit verbreitet, während sich vor Autofahrten niemand fürchtet. Grund: Von Flugzeugabstürzen berichten Medien ausgiebig, von Autounfällen nicht. Menschen schätzen überdies Risiken geringer ein, wenn sie sie selber «in der Hand» haben.
  2. Von Haien werden weltweit jährlich etwa 10 Menschen getötet.6 1000 Menschen sterben durch Krokodile, 25 000 durch Hundebisse, 100 000 durch Schlangenbisse und 725 000 durch Mückenstiche (bzw. die dadurch übertragenen Krankheiten). Was hier die Fehlwahrnehmung ist und woher sie kommt, muss wohl nicht erklärt werden.7
  3. Kernkraft ist eine beliebte Projektionsfläche für Ängste. Sie ist als relativ neue und schwer verständliche Technologie gegenüber Naturgefahren klar im «Vorteil», was die Risikowahrnehmung betrifft, und die Radioaktivität hat, weil sie nicht sicht-, hör- oder riechbar ist, Gruselpotenzial.8 Der vom Tohoku-Erdbeben 2011 ausgelöste Tsunami forderte 20 000 Menschenleben. Trotzdem ist das Unglück fast nur unter dem Namen der Stadt mit dem Kernreaktorunfall – Fukushima – bekannt, obwohl Japan erst im September 2018 den ersten Todesfall überhaupt im Zusammenhang mit der ausgetretenen Radioaktivität bestätigt hat.
  4. Warum spielen Menschen Lotto? Nicht, weil sie risikofreudig sind. Alle Risikofreude der Welt würde eine Person nicht dazu veranlassen, ein Spiel einzugehen, für das sie pro eingesetzten Franken im Erwartungswert nur 54 Rappen zurückerhält. Auch hier gilt: Der Lottogewinn ist heuristisch einfach sehr gut abrufbar. Sogar wer über die geringen Gewinnwahrscheinlichkeiten bestens informiert ist, erliegt hin und wieder dem Reiz – weil einem die «niederen» Teile des Gehirns eine höhere Gewinnwahrscheinlichkeit vorgaukeln.

Generell werden jene Gefahren überschätzt, über die gerade intensiv in den Medien berichtet wird. Aktuell ist das der islamistische Terrorismus (wobei der Höhepunkt schon überwunden scheint), vor ein paar Jahren war es die Atomkraft, 2001 die Anthrax-Anschläge und dazwischen immer wieder mal Viren wie die Vogelgrippe oder SARS. Mit der Angst vor solchen Ereignissen geht immer auch die Gefahr von ineffizienten Interventionen einher, verbunden mit dem Risiko, dass andere, wichtigere Gefahren vernachlässigt werden.

Schwierige Wahrscheinlichkeitsrechnung

Allerdings haben viele Menschen auch jenseits der Angst noch kein gutes Gespür für Wahrscheinlichkeiten – und damit für die Grundlage jeglicher Risikoeinschätzung – entwickelt. Individuen mit fehlendem Zahlengespür und geringem Bildungsstand scheitern oft schon auf tiefem Niveau: Sie unterscheiden z.B. nicht zwischen Wahrscheinlichkeit und Möglichkeit. Alles, was ihrer Meinung nach nicht unmöglich ist, «kann passieren oder kann auch nicht passieren». Fragt man sie konkret nach der Wahrscheinlichkeit, mit der Ereignis X oder Y eintreffe, erhält man nicht selten die Antwort: «Das lässt sich so nicht sagen, es ist fifty-fifty.» Wobei sie damit nicht eine Wahrscheinlichkeit von 50% meinen, sondern abermals: «Es kann passieren, es kann aber auch nicht passieren.» Erst wenn man sie dann zum Beispiel fragt, wie gross die Wahrscheinlichkeit sei, dass ihnen jemand eine Tasche mit 100 000 Franken vor die Haustür stelle, merken sie, dass dieses Konzept seine Grenzen hat. Wobei sie dann tendenziell auf «Kann nicht passieren» umschwenken, statt eine sehr kleine Wahrscheinlichkeit zu nennen.

Drei Denkmuster sind allerdings auch bei Menschen mit grundsätzlichem Abstraktionsvermögen weit verbreitet:

  1. Falscher Umgang mit bedingter Wahrscheinlichkeit: Wenn Sie hören, Bibliothekare seien scheue Menschen, und darauf einen scheuen Menschen treffen, werden sie diesen üblicherweise mit viel zu hoher Wahrscheinlichkeit als Bibliothekar identifizieren: Die A-priori-Information, dass es nur sehr wenige Bibliothekare gibt, wird unterbewertet. Bibliothekare sind aber nur selten Risikofaktoren, darum ein relevanteres Beispiel: Panikreaktionen sind bei einem (einmalig) positiven HIV-Test (nicht nur wegen der fortgeschrittenen Behandlungsmöglichkeiten) nicht zu empfehlen: Wenn die Wahrscheinlichkeit für ein «false-positive» (positives Ergebnis trotz fehlender HIV-Infektion) bei 4 Prozent und die Wahrscheinlichkeit für eine HIV-Infektion bei 0,4 Prozent liegt, dann bedeutet ein positiver HIV-Test nur mit einer Wahrscheinlichkeit von 9 Prozent, dass die getestete Person tatsächlich das HI-Virus trägt.9
  2. Zufallsgedächtnis: Wer ist nicht versucht, auf Schwarz zu setzen, nachdem die Roulettekugel viermal hintereinander auf Rot gefallen ist? Immerhin beträgt die Wahrscheinlichkeit, dass fünfmal hintereinander die gleiche Farbe fällt, bloss 0,54 = 6,25 Prozent. Dummerweise ist es der Kugel aber egal, dass sie schon viermal auf Rot gefallen ist. Die Wahrscheinlichkeit für Rot im nächsten Durchgang liegt also (die 0 ausgenommen) weiterhin bei exakt 50 Prozent.
  3. Unterschätzung des Faktors Zufall: Wenn von 1000 Börsenanlegern ein einziger über zehn Jahre hinweg in jedem einzelnen Jahr den Markt schlägt, dann wird er ziemlich sicher gefeiert. Doch auch ein Affe würde mit 50prozentiger Wahrscheinlichkeit den Markt schlagen. Die Wahrscheinlichkeit, dass ihm das zehnmal hintereinander gelingt, liegt bei 0,510, also bei 1 zu 1024. Es ist also rein statistisch zu erwarten, dass von 1000 Affen einer zehnmal in Folge den Markt schlägt. Auf Know-how von Anlageexperten liesse sich erst schliessen, wenn z.B. 5 von 1000 dieses Kunststück gelänge. Nur wüssten wir dann immer noch nicht, welcher dieser fünf der Begabte ist und welche vier die Affen. Aufgrund derselben Fehlüberlegung weigerten sich schon Sportler, auf der Titelseite der «Sports Illustrated» abgebildet zu werden – sie waren der Meinung, das bringe Unglück, denn in der Vergangenheit war nach der Publikation erstaunlich oft ein Leistungsabfall des Coversportlers zu beobachten. Ganz falsch war diese Wahrnehmung nicht, aber sie hatte natürlich nichts mit einem Coverfluch zu tun. Es ist viel eher so, dass neben guter Leistung ordentliche Glückssträhnen überhaupt erst dazu geführt hatten, dass Sportler vom Magazin als abbildungswürdig eingestuft wurden. Und jede Glückssträhne hat nun mal ein Ende – Cover hin oder her.

Schwarze Schwäne

Richtig schwierig wird die Wahrscheinlichkeits- bzw. Risikoeinschätzung sogar für Experten bei sogenannten «schwarzen Schwänen»10, also bei Ereignissen mit extrem geringen Eintrittswahrscheinlichkeiten und sehr weitreichenden Folgen. Einerseits besteht die Gefahr, dass die Wahrscheinlichkeit solcher Ereignisse überschätzt wird – vor allem, wenn sie bekannter Natur sind, denn sie werden dann meist spektakulär skizziert und setzen sich darum in den Köpfen der Menschen fest. Andererseits deutet neuere Forschung auch darauf hin, dass solche Wahrscheinlichkeiten möglicherweise unterschätzt werden. Da zur Berechnung nur bedingt auf Erfahrungswerte zurückgegriffen werden kann, muss man sich mit Modellen behelfen. Lange nahmen diese eine über die Normalverteilung geprägte inverse Korrelation von Wahrscheinlichkeit und Schadensumme an – Unglücke enormen Ausmasses wären damit enorm unwahrscheinlich. Neuere Modelle aus der Chaosforschung – und wo immer der Mensch beteiligt ist, sind Vorgänge chaotischer, als wir uns eingestehen wollen – sagen für extreme Ereignisse aber deutlich höhere Wahrscheinlichkeiten voraus.

Das führt zurück zu unserem eingangs erwähnten Asteroiden: Er macht es uns im Hinblick auf die Risikokalkulation vergleichsweise leicht, schliesslich sind die Einflussfaktoren seiner Bahn nicht anthropogener, sondern rein physikalischer Natur. Die Gefahr, einem Einschlag zum Opfer zu fallen, ist dennoch erstaunlich gross (obwohl das bisher weltweit überhaupt erst einem einzigen Menschen nachweislich passiert ist): Vor 66 Millionen Jahren raffte ein Meteorit die Dinosaurier und schätzungsweise 80 Prozent der übrigen Fauna dahin. Nimmt man an, dass so ein Ereignis alle 100 Millionen Jahre vorkommt – was basierend auf der Häufigkeit von Massensterben in der geologischen Vergangenheit nicht unrealistisch ist –, kommt man zum Ergebnis, dass diesem rein statistisch gesehen 60 Menschen pro Jahr zum Opfer fallen. Dagegen sind Haie geradezu ungefährlich.

  1. Das trifft aufgrund ihrer Konkavität genau genommen auch auf die klassische Nutzenfunktion – wenn auch in deutlich geringerer Ausprägung – zu.

  2. Steuertechnisch wäre allerdings wohl genau das Gegenteil ratsam. Was für die langfristige Entwicklung des Aktienkurses Ihres (hypothetischen) Unternehmens also am besten ist, will der Autor nicht beurteilen.

  3. Bianchi kam (bei schon geschwenkten gelben Flaggen) im strömenden Regen von der Strecke ab und rammte einen Bagger, der gerade an der Bergung eines schon gestrandeten Fahrzeugs war. Als Folge dieses (höchst unwahrscheinlichen) Unfalls wurde ab der darauffolgenden Saison das «Virtual Safety Car» eingeführt, das für vergleichbare Ausgangslagen allen Fahrern die Einhaltung deutlich reduzierten Tempos vorschreibt.

  4. Duncan J. Stewart et al.: Impact of Time to Drug Approval on Potential Years of Life Lost. Ottawa: Ottawa Hospital Research Institute, 2015.

  5. http://www.fluter.de/keine-bange

  6. Und etwa 100 Millionen Haie fallen jährlich Menschen zum Opfer.

  7. Wer es genauer wissen will: http://www.zeit.de/2016/37/haie-toetung-tierschutz-surfer/seite-2

  8. Die Gentechnik leidet strukturell in etwa am gleichen Problem.

  9. Von 1000 Personen haben also 4 HIV. Diese 4 werden positiv getestet. Von den 996 Personen ohne HIV werden knapp 40 positiv getestet (0,04 x 996). Von 44 positiv getesteten Personen sind also nur 4 (oder eben 9 Prozent) HIV-positiv.

  10. Geprägt hat diesen Begriff der Börsenhändler und Professor für Risikoforschung Nassim Nicholas Taleb. Er hat schon mehrfach im «Schweizer Monat» publiziert: schweizermonat.ch/author/nassim-nicholas-taleb/

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Die Wahrscheinlichkeit, von einem Hai getötet zu werden, ist verschwindend klein. Und doch ist der weisse Hai zum Inbegriff von «Gefahr» geworden. Bild: Grosser Weisser Hai, mauritius images / nature picture library / Chris & Monique Fallows.
Von weissen Haien und schwarzen Schwänen

Für die Beurteilung von Gefahren ist ein evolutionär altes Hirnteil zuständig, und Wahrscheinlichkeitsrechnung liegt den Menschen ohnehin nicht im Blut. Das führt oft zu falschen Einschätzungen.

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