Parkieren. Literatur
Hans Boesch war Schriftsteller und Ingenieur. Und träumte beides zusammen: Natur, Sinnlichkeit und Phantasie wollte er zu einer Einheit mit Abstraktion, menschlicher Logik und Technologie zusammenführen. Aus Anlass der Wiederauflage von Boeschs «Ingenieurstrilogie» drucken wir, nach einer Einführung in sein Werk, eine bisher unveröffentlichte Erzählung aus dem Nachlass.
Im Nachlass von Hans Boesch, der 2003 im Alter von 77 Jahren verstorben ist, finden sich Texte, die allein schon durch ihre Überschrift auffallen. «Parkieren. Literatur» lautet eine von ihnen, beispielsweise. Sie findet sich in einer Vorlesungsreihe aus den 1970er Jahren, die Boesch zu verkehrsplanerischen Themen an der ETH Zürich hielt. Er wirkte damals als Dozent und Forschungsleiter am Institut für Orts-, Regional- und Landesplanung.
«Parkieren. Literatur» – unmittelbar nebeneinander gesetzt, befremden diese beiden Begriffe – und sind doch eigenartig aussagekräftig. Als Verkehrsplaner trat Hans Boesch schon in jenen Jahren für eine Stadtplanung ein, die den Menschen ins Zentrum setzt. «Langsamverkehrsstadt» hiess sein Konzept, das für die Trennung von automobilen Durchgangsschneisen und lokalen Wohn- und Lebenseinheiten plädiert und das seiner Zeit voraus war. Seine ETH-Kollegen planten zu jener Zeit das Autobahnnetz und stiessen damit auf mehr Gehör bei den Behörden. Seither aber hat der Wind ganz sachte gedreht, und Hans Boesch darf heute als einer der Vorkämpfer für Tempo 30, Fussgängerzonen und urbane Fahrradnetze gelten. Dieses Engagement, bei dem er berufliche Nachteile in Kauf nahm, war stets das Ergebnis einer Symbiose unterschiedlicher Interessen. «Parkieren. Literatur» könnte alternativ auch «Entschleunigen. Lesen» heissen.
Von seinem literarischen Werk ist heute die Simon-Mittler-Trilogie (1988 bis 2003) – bestehend aus «Der Sog», «Der Bann», «Der Kreis», mit dem Epilog «Schweben» – am besten bekannt. Sie hat den stillen, zurückhaltenden Autor einer breiten literarischen Öffentlichkeit bekanntgemacht. Die Trilogie darf als reifes Alterswerk bezeichnet werden, in dem Boesch Rückschau hält und seine Erinnerungen dem Helden Simon Mittler mit auf den Weg gibt. In ihrem Schatten ist sein früheres Werk jedoch beinahe vergessen gegangen. Es umfasst nicht nur die erwähnten Vorlesungen und Forschungsarbeiten zum Thema Stadtplanung, die Boesch auch in Essayform übersetzt hat. Wiederzuentdecken sind vor allem die drei Romane «Das Gerüst» (1960), «Das Fliegengitter» (1968) und «Der Kiosk» (1978), die lange Zeit vergriffen waren. Elio Pellin und Rudolf Probst haben verdienstvollerweise diese «Ingenieurstrilogie» neu herausgegeben.* Sie machen damit ein stilistisch wie inhaltlich wichtiges Werk der neueren Schweizer Literatur wieder zugänglich.
Bei der Verleihung des Aargauer Literaturpreises 1983 versuchte Hans Boesch eine Antwort zu geben auf die Frage nach der Vereinbarkeit von Ingenieursberuf und Schreiben: «Zwischen diesen Kräften, den Dämonen des Unberechenbaren und denen des Scheinbar-Berechenbaren, die ja nicht die einzigen sind, die uns bedrängen, stehe ich nun. Auf der einen Seite sind die Natur, die Sinnlichkeit und die Phantasie, auf der anderen die Abstraktion, die menschliche Logik und die Technologie. Und weil ich weiss, dass wir beide brauchen und dass sie sich gegenseitig nötig haben, träume ich davon, beide Seiten fassen zu können und zusammenzubringen zu einer Einheit, zu einem Ganzen, zum Leben.» Damit ist jener Konflikt umrissen, der im Kern der drei Ingenieursromane steckt. In ihrer Essenz triangulieren sie die Position des Individuums zwischen den Peilpunkten Technik / Mobilität / Anonymität auf der einen, Natur / Heimat / Liebe auf der anderen Seite. «Raster und Ranke» hat Boesch die beiden Pole genannt; als Metaphern tauchen sie wiederholt in der Trilogie auf.
Als ergreifendes Beispiel für dieses Spannungsverhältnis zwischen Technik und Natur bietet sich eine meisterhafte Passage im Roman «Die Fliegenfalle» an. Arbeiter werden beim Aushub eines Grabens von nachdrückendem Erdreich verschüttet und nur unter grössten Anstrengungen geborgen. «Der Greifer hatte kaum mehr zwischen den Hölzern Platz. Es war ein Uhr, ein Uhr nachts, als ein Spriessholz durchstempelte. Die nachdrängende Schmutzlawine schwemmte einen Italiener ein. Er versuchte hochzuklettern, hing in den Balken, fluchte und mühte sich ab. Umsonst. Die Brühe stand ihm schon an der Hüfte, war in die Stiefelschäfte gelaufen. … Schliesslich gelang es, ihn zu befreien. Die Angst und das Gezerr hatten ihn verbraucht.»
Aus dieser kurzen Passage lässt sich zweierlei herauslesen: zum einen die fesselnde Beschreibung eines Unglücks, das sinnbildlich für aktuelle Konflikte steht; zum anderen die Sprache, die Hans Boesch dafür einsetzt, eine Sprache, die das Tumultuöse der Rettungsaktion nicht verschweigt, sondern steigert. Dies gilt für vergleichbare Schilderungen. Technische Komplexität wird sprachlich nie verraten, will sagen versimpelt und begradigt. Hierin äussert sich die doppelte Loyalität des Ingenieurs und Schriftstellers Boesch.
«Das Gerüst» erzählt davon, wie ein fremdes Besatzungsheer mit Hilfe Einheimischer den Betrieb in einer vogesischen Mine aufrechtzuerhalten versucht. «Die Fliegenfalle» ist die Geschichte zweier Arbeitskollegen, die an gefährlichen Stollenbauprojekten in den Bergen arbeiten und durch eine gemeinsame Liebe entzweit werden. «Der Kiosk» schliesslich erzählt, aus der Sicht eines Krüppels, die böse Utopie eines vollständig technoiden Lebens, die in einem lebens- und liebesfeindlichen urbanistischen Komplex entworfen wird. Diese kurzen Angaben deuten zwei Arten von Konflikten an: einerseits den erwähnten Grundkonflikt zwischen Natur und Technik, den Boesch wie kein anderer Autor seiner Generation zu gestalten vermocht hat; und anderseits die Liebesthematik als Kern eines befreiten menschlichen Zusammenlebens, das den Grundkonflikt aushält und aufhebt. Letzteres gelingt jedoch nur in seltenen Augenblicken – etwa in jener bezaubernd schönen Liebesszene im «Kiosk», wo sich der Erzähler Boos und seine Geliebte in vollendeter Unschuld nahe kommen, obwohl sie beide nicht frei sind.
Auffallend an den drei Romanen der Trilogie ist, mit welcher Sorgfalt Boesch seine Protagonisten behandelt, die allesamt beschädigte Menschen sind. Sie halten das prekäre ökologisch-technische Gleichgewicht nur mit Mühe und Not aus. Klara bewegte sich «wie ein Automat», heisst es einmal in der «Fliegenfalle». Das Leben als Automat – nicht aus eigenem Antrieb, sondern im Korsett unerfüllbarer Wünsche ebenso wie gesellschaftlicher Normen, die Klara, Eva, Boos und all den anderen förmlich den Atem rauben. Das ist das eigentliche, das grosse Thema von Hans Boesch.
Wenn eines der drei Bücher speziell hervorgehoben werden soll, so wäre dies «Der Kiosk» – ein Werk von seltener Ingeniosität. Darin gelingt es Boesch, gewissermassen als Gegensatz zur erwähnten zauberhaften Liebesgeschichte, mit wenigen Strichen eine grausliche Pogromstimmung zu beschwören, in der sich die finale Apokalypse früh schon abzeichnet. Boesch entwickelt im «Kiosk» eine technische Phantasie, die selbst aus heutiger Warte noch verblüfft. Die «Totalschau», eine Unterwasserutopie, mit der der Phantast Adrien die Welt retten will, hat seit ihrem Entwurf Mitte der 1970er Jahre keinerlei Patina angesetzt und wirkt angesichts der computergenerierten Virtual Reality und Second Life geradezu erfrischend aktuell. Was Boesch damals entwarf, heisst heute «Totalimmersion» – das sinnliche Eintauchen in eine durch Computer geschaffene Welt, die mittels neuer sensorischer Techniken eine taktile Kraftrückkopplung hervorruft.
«Es ist die alte Sache», schreibt Boesch, «der Mensch ist unvernünftig. Weshalb nur hat Adrien das in seinen Plänen übersehen können?». Der Mensch ist unvernünftig – gewiss; zugleich aber ist er zu vernünftig, um sich von solchen Planspielen einfach belügen zu lassen. Ein Rest bleibt, ein Zweifel, ein Quentchen Widerstand. Auch das demonstrieren die drei neuzuentdeckenden Ingenieursromane von Hans Boesch.
* Hans Boesch: «Die Ingenieurstrilogie (Das Gerüst, Die Fliegenfalle, Der Kiosk)». Herausgegeben von Elio Pellin und Rudolf Probst.
Zürich: Chronos 2007.
Beat Mazenauer, geboren 1958, lebt als Literaturkritiker in Luzern (www.beatmazenauer.ch).