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Vergessen Sie die News!

Für eine gesunde Nachrichtendiät.

Vergessen Sie die News!

Dieser Text ist ein Gegengift gegen News. Er ist lang. Wenn Sie es schaffen, ihn zu Ende zu lesen, können Sie sich glücklich schätzen. Sie gehören noch nicht zu den News-Junkies, die so viel von dem Kurzfutter konsumieren, dass sie ihre Konzentrationsfähigkeit verloren haben. Halten Sie also durch. Entzugstherapien sind immer schwer. Diese ganz besonders. Wir sind so gut informiert und wissen doch so wenig. Warum? Weil wir vor zweihundert Jahren eine toxische Wissensform namens «News» – Nachrichten aus aller Welt – erfunden haben. Es ist Zeit, dass wir deren schädliche Auswirkungen erkennen und die nötigen Schritte unternehmen, um uns vor ihren Gefahren zu schützen.

«News sind für den Geist, was Zucker für den Körper ist.»

In den letzten Jahrzehnten haben wir die Gefahren erkannt, die mit falscher Ernährung einhergehen: Insulinresistenz, Übergewicht, Anfälligkeit für Entzündungen, Müdigkeit. Wir haben unsere Ernährung umgestellt und gelernt, den verführerischen Reizen von Zucker und anderen einfachen Kohlenhydraten zu widerstehen. Heute sind wir in Bezug auf News an dem Punkt, wo wir in Bezug auf Fast Food vor zwanzig Jahren standen. Denn – News sind für den Geist, was Zucker für den Körper ist. News sind appetitlich, leicht verdaulich und gleichzeitig höchst schädlich. Die Medien füttern uns mit kleinen Häppchen trivialer Geschichten, mit Leckerbissen, die unseren Hunger nach Wissen nicht wirklich stillen. Anders als bei Büchern und guten Magazinartikeln stellt sich beim Newskonsum keine Sättigung ein. Wir können unbegrenzte Mengen von Nachrichten verschlingen, sie bleiben billige Zuckerbonbons für den Geist. Die Nebenwirkungen kommen – wie beim Rauchen und bei Fast Food – erst später zum Vorschein.

Ich lebe seit zwei Jahren gänzlich ohne News und kann die Wirkungen dieser Freiheit sehen, spüren und aus erster Hand schildern: klareres Denken, wertvollere Einsichten, bessere Entscheidungen und mehr Zeit. Mein guter Freund, der Philosoph und Finanzmathematiker Nassim Nicholas Taleb («Der schwarze Schwan»), hat mich als erster auf die Toxizität von News aufmerksam gemacht. Viele meiner Erkenntnisse verdanke ich ihm.

1. News führen zu einer falschen Risikokarte im Kopf

Unser zentrales Nervensystem reagiert unverhältnismässig stark auf sichtbare, skandalöse, aufsehenerregende, schockierende, personenbezogene, laute, plakative, schnell wechselnde, farbige Reize – und unverhältnismässig schwach auf abstrakte, mehrdeutige, komplexe, aufeinander aufbauende und deutungsbedürftige Informationen. News-Produzenten nutzen diese Wahrnehmungsverzerrung systematisch aus.

Die Newsmedien, ob gross oder klein, setzen auf das Sofort-Sichtbare. Packende Geschichten, schreiende Bilder und aufsehenerregende «Fakten» fesseln unsere Aufmerksamkeit. So funktioniert nun einmal das Geschäftsmodell – die Werbung, die den News-Zirkus finanziert, wird nur verkauft, wenn sie gesehen wird. Die Folge: alles Feinsinnige, Komplexe, Abstrakte und Hintergründige muss systematisch ausgeblendet werden, obwohl diese Inhalte für unser Leben und das Verständnis der Welt relevanter wären.

Nehmen wir folgendes Ereignis: ein Wagen fährt über eine Brücke. Die Brücke bricht zusammen. Worauf richten die Medien ihren Fokus? Auf das Auto. Auf die Person im Auto. Woher sie kam. Wohin sie wollte. Wie sie das Unglück erlebte (sofern sie es überlebt hat). Was für eine Art Mensch sie ist (oder vor dem Unfall sie war). Doch all das ist völlig irrelevant. Wirklich relevant ist – die Brücke! Die strukturelle Stabilität der Brücke. Die Frage, ob es noch andere Brücken dieses Konstruktionstyps und -materials gibt und wo diese anderen Brücken stehen. Das ist, was wirklich zählt. Das Auto oder der Fahrer hingegen sind komplett irrelevant. Jedes Auto hätteden Zusammenbruch der Brücke verursachen können. Vielleicht hätte auch starker Wind oder ein über die Brücke streunender Hund genügt, um sie zum Einsturz zu bringen. Warum aber berichten die Medien über das zerknautschte Auto? Weil es wunderbar grässlich aussieht, weil man die Story an einer Person aufhängen kann – und weil sich diese Nachricht billig produzieren lässt.

Als Folge des Newskonsums spazieren wir mit einer falschen Risikokarte in unseren Köpfen umher. Wir erfahren nicht, was an unseren Brücken eventuell falsch ist, wie wir sie in Zukunft bauen sollten, wer sich darum zu kümmern hat. Newskonsumenten gewichten die meisten Themen völlig falsch:

  • Terrorismus wird überschätzt, chronischer Stress unterschätzt.
  • Die Pleite von Lehman Brothers wird überschätzt, fiskalische Unverantwortlichkeit unterschätzt.
  • Britney Spears wird überschätzt, die Ergebnisse der Atmosphärenforschung unterschätzt.
  • Astronauten werden überschätzt, Krankenschwestern unterschätzt.
  • Flugzeugabstürze werden überschätzt, die Resistenzgegen Antibiotika unterschätzt.

Das Wichtigkeitsempfinden, das wir aufgrund des Newskonsums entwickelt haben, unterscheidet sich krass von einer realistischen Einschätzung – was zu unangemessenem, systematisch falschem Verhalten führt. Die Risiken, von denen Sie in der Presse lesen, sind nicht die wahren Risiken. Wenn Sie einen Flugzeugzusammenprall im TV sehen, ändert dies Ihr Risikoverhalten – obwohl ein solches Ereignis extrem selten ist und keine Verhaltensänderung rechtfertigt.

«Das Wichtigkeitsempfinden, das wir

aufgrund des Newskonsums entwickelt haben,

unterscheidet sich krass von einer realistischen Einschätzung.»

Man muss sich dieser Tatsache nur bewusst sein, sagen Sie, und News mit Verstand konsumieren? Falsch. Sie können den Hang zur Überbewertung packender Geschichten (im Wissenschaftsjargon «availability bias» genannt) durch innere Kontemplation nicht wettmachen. Banker und Ökonomen, die mächtige Anreize haben, newsgenerierten Risiken zu widerstehen, haben gezeigt, dass sie dazu nicht in der Lage sind. Die einzige Lösung: Klinken Sie sich vom Newskonsum vollständig aus.

2. News sind irrelevant

Sie dürften in den letzten zwölf Monaten etwa 10’000 Kurznachrichten verschlungen haben – ca. 30 Meldungen pro Tag. Seien Sie ganz ehrlich: Nennen Sie eine davon, die es Ihnen erlaubt hat, eine bessere Entscheidung (für Ihr Leben, Ihre Karriere, Ihr Geschäft) zu treffen, als wenn Sie diese News nicht gehabt hätten. Niemand, dem ich diese Frage gestellt habe, konnte mehr als zwei Nachrichtenangeben – aus 10’000. Eine miserable Relevanzquote. Wenn ich persönlich zwei Jahre zurückdenke, kann ich mich nur an eine einzige Meldung erinnern, die mir geholfen hätte: Ich fuhr zum Flughafen, wo man mir mitteilte, dass der Flug wegen eines isländischen Vulkans annulliert worden sei. Und selbst diesen vergeblichen Weg machte ich nur, weil ich eine falsche Handynummer hinterlassen und mich das SMS der Fluggesellschaft nicht erreicht hatte.

Darum geht es: News sind für das, was in Ihrem Leben wirklich zählt, irrelevant. Im besten Fall sind die News unterhaltsam, aber ansonsten bleiben sie nutzlos. Es ist ein bedeutender gedanklicher Schritt, dies zu realisieren. Viele schaffen ihn nicht.

Nehmen wir an, dass Sie wider Erwarten tatsächlich eine Nachrichtenmeldung konsumiert haben, die Ihre Lebensqualität erhöhte– Ihr Leben wäre schlechter verlaufen, wenn Sie nichts davon mitbekommen hätten. Wie viel Schrott musste Ihr Hirn verdauen, um zu diesem einen Kleinod zu gelangen?

«Im besten Fall sind News unterhaltsam,

aber ansonsten bleiben sie nutzlos.»

Viele werfen ein: «Man darf das nicht so schwarz-weiss malen. Es gibt einen Mittelweg: Nämlich gute Selektion von Inhalten. Konsumieren Sie nur, was wirklich gut ist, und lassen Sie alles andere auf der Seite.» Doch im vornhinein können wir den Wert einer Nachricht nicht abschätzen. Um zu beurteilen, ob es sich lohnt, eine Schlagzeile zu lesen, müssen wir sie lesen – was uns zwingt, das ganze Newsbuffet zu verdauen.

Also überlassen wir die Selektion des Wichtigsten den Journalisten? Wie gut sind Journalisten im Aufspüren und filtern wichtiger Ereignisse? 1914 stellte die Ermordung des österreichischen Thronfolgersin Sarajevo angesichts ihrer weltweiten Bedeutung alle anderen Nachrichten in den Schatten. Doch der Mord in Sarajevo war in jenem Jahr bloss eine von hunderttausend Meldungen, die feilgeboten wurden. Kein Newsunternehmen mass der historisch folgenreichen Ermordung in den darauffolgenden Wochen besondere Bedeutung zu. Ein aktuelleres Beispiel: Der erste Internetbrowser kam 1993 auf den Markt – nach (oder vielleicht sogar vor) der Atombombe die folgenreichste Erfindung des 20. Jahrhunderts. In die Schlagzeilen schaffte es «Mosaic» – so hiess der Browser – nicht. Will heissen: Weder Journalisten noch wir Newskonsumenten sind mit Sinnesorganen für Relevanz ausgestattet.

«Für die Medien ist alles relevant, was Aufmerksamkeit verspricht.»

Aber was bedeutet Relevanz überhaupt? Es bedeutet: Was für Sie persönlich wichtig ist. Relevanz ist eine persönliche Sache. Relevanz kommt weder vom Staat noch vom Papst, noch von Ihrem Vorgesetzten oder Therapeuten. Und verwechseln Sie sie ja nicht mit der Sicht der Medien. Für die Medien ist alles relevant, was Aufmerksamkeit verspricht – Darfour, Paris Hilton, ein Zugunglück in China, irgendwelche idiotischen Weltrekorde (einer verschlang 78 Cheeseburger in einer Stunde). Dieser Schwindel steht im Zentrum des Geschäftsmodells der Newsindustrie: Sie versorgt uns mit irrelevanten News, die sie uns als relevant verkauft. Und wir sind unter einem grossen kognitiven Aufwand gezwungen, das Neue zugunsten des Relevanten einzutauschen.

Nachrichtenorganisationen wollen Sie glauben machen, dass sie Ihnen einen Wettbewerbsvorteil verschaffen. Viele fallen darauf herein. In Wirklichkeit ist der Newskonsum kein Wettbewerbsvorteil, sondern ein Wettbewerbsnachteil. Falls Newskonsum Sie tatsächlich weiterbringen würde, stünden die Journalisten an der Spitze der Einkommenspyramide. Tun sie aber nicht, im Gegenteil. Wir wissen nicht, was Leute erfolgreich macht – die Anhäufung von Newshäppchen gehört sicher nicht dazu.

Sie haben trotzdem Angst, «etwas Wichtiges» zu verpassen? Meine Erfahrung: Wenn etwas wirklich Wichtiges geschieht, erfahren Sie davon, selbst wenn Sie in einem newsgeschützten Kokon leben. Familie, Freunde und Kollegen – also der soziale Filter – werden Ihnen zuverlässiger als alle Newsunternehmen über die relevanten Ereignisse berichten. Sie werden sogar den Zusatznutzen der Metainformation haben: Sie kennen die Prioritäten Ihrer Freunde und wissen, wie sie denken. Noch mehr erfahren Sie über wirklich relevante Ereignisse und Veränderungen, indem Sie einschlägige Zeitschriften, lange, fundierte Magazine oder gute Bücher lesen. Und indem Sie mit Menschen reden, die sich intensiv mit dem Thema befassen. Wie finden Sie diese «Wissenden»? Wenn ich aus Büchern oder Internetquellen nicht schlau werde, vereinbare ich einen Termin mit einem Forscher der Uni oder ETH. Ich rufe an oder schreibe eine E-Mail, ohne Hemmungen – immerhin arbeiten diese Menschen mit unseren Steuergeldern. Ich bin immer wieder erstaunt, wie offen und hilfsbereit Forscher und Professoren sind.

3. News schränken das Verständnis ein

News haben keine Erklärungskraft. Kurzmeldungen sind wie kleine Blasen, die an der Oberfläche einer komplexen Welt zerplatzen. Umso absurder, dass sich Newsunternehmen viel darauf einbilden, korrekt über Tatsachen zu berichten. Diese Tatsachen sind aber meist nichts anderes als Neben- und Folgeerscheinungen tieferliegender Ursachen. Newsunternehmen und Newskonsumenten erliegen demselben Irrtum: Die Aneinanderreihung von Tatsachen wird mit der Einsicht in die Funktionszusammenhänge der Welt verwechselt.

Eigentlich sollten wir die Generatoren verstehen, die dem sichtbaren Geschehen zugrunde liegen. Leider schaffen es erschreckend wenige Journalisten, Kausalzusammenhänge zu erklären. Denn die Prozesse, die bedeutende kulturelle, wirtschaftliche, politische undökologische Strömungen lenken, sind zumeist unsichtbar. Sie sind komplex, nichtlinear und für unsere Gehirne schwer verdaulich. Darum haben es die Newsunternehmen auf den leichten Stoff abgesehen, die Anekdoten, Skandale, People-Geschichten und Bilder – die sind billig zu produzieren und leicht zu verdauen.

«Am besten verzichten Sie gänzlich auf die tägliche Newszufuhr.»

News zu konsumieren, um «die Welt zu verstehen», ist schlimmer, als überhaupt keine News zu konsumieren. Am besten verzichten Sie gänzlich auf die tägliche Newszufuhr. Lesen Sie Bücher, Buchzusammenfassungen und anregende Zeitschriften mit langen Artikeln, die der Komplexität der Welt gerecht werden. Keine funkelnden Schlagzeilen.

4. News sind Gift für Ihren Körper

News halten den Sympathikus – Teil des vegetativen Nervensystems– auf Trab. Jede beunruhigende Story führt zur Ausschüttung kleiner Mengen des Stresshormons Cortisol. Cortisol gelangt in die Blutbahn, schwächt Ihr Immunsystem und hemmt die Ausschüttung von Wachstumshormonen. Wenn Sie laufend Newsverdauen, befindet sich Ihr Körper in einem chronischen Stresszustand. Das wiederum führt zu Verdauungs- und Wachstumsstörungen (Zellen, Haare, Knochen), zu Nervosität und Anfälligkeit für Infektionen. Kurzum, Newskonsumenten setzen ihre physische Gesundheit aufs Spiel. Und nicht nur diese: Andere potentielle Nebenwirkungen sind Angstzustände, Aggressivität, Tunnelblick und emotionale Unempfindlichkeit.

5. News verstärken systematische Denkfehler

News nähren den Vater aller Denkfehler: den Bestätigungsirrtum (confirmation bias). Wir blenden Hinweise, die unseren Vorurteilenwidersprechen, automatisch aus und sind überempfänglich für Nachrichten, die unsere Überzeugungen bestätigen. In den Worten von Warren Buffett: «Die grösste Stärke des Menschen ist es, alle neuen Informationen so zu interpretieren, dass die vorangehendenAussagen gültig bleiben.» Newskonsum verschärft diese menschliche Schwäche. Warum? Weil wir aus einer unendlichen Menge an Nachrichten immer genug finden, um unsere Theorien –und seien sie noch so falsch – zu zementieren. Die Folge: Wir neigen zu Selbstüberschätzung, gehen idiotische Risiken ein und verpassen gute Gelegenheiten.

News fördern nicht nur den Bestätigungsirrtum, sie verschärfen darüber hinaus einen weiteren kognitiven Fehler: den Geschichtenirrtum (storybias). Unser Hirn sehnt sich nach Geschichten, die «Sinn machen»– ob sie der Wirklichkeit entsprechen, ist nebensächlich. Journalisten versorgen uns gern mit solchen Pseudogeschichten. Statt zu berichten, dass der Aktienmarkt um zwei Prozent gesunken (oder gestiegen) ist, erzählen uns die Reporter: «Der Markt ist um zwei Prozent gesunken wegen X.» Dieses X kann die Erwartung eines Bankgewinns sein, die Angst um den Euro, die Bekanntgabe von Arbeitsmarktstatistiken, eine Entscheidung des Fed, ein Terroranschlag, ein Streik der Untergrundbahnen in New York, ein Handschlag zwischen zwei Präsidenten, was auch immer.

Dies erinnert mich an meine Gymnasialzeit. Mein Geschichtslehrbuch nannte drei Gründe (nicht zwei, nicht sieben) für den Ausbruch der Französischen Revolution. Tatsache ist: Wir wissen nicht, warum es zur Französischen Revolution kam, und vor allem nicht, warum es genau 1789 so weit war. Genauso wenig wissen wir, warum sich der Aktienmarkt so entwickelt, wie er sich eben gerade entwickelt. Zu viele Faktoren spielen hinein. Wir wissen nicht, warum ein Krieg ausbricht, warum es zu einem technologischen Durchbruch kommt oder warum der Silberpreis in die Höhe schnellt. Jeder Journalist, der schreibt «Der Markt hat sich so entwickelt wegen X» oder «Das Unternehmen ging in Bankrott wegen Y», ist entweder ein Dummkopf – oder er weiss ganz genau, dass er seinen Lesern etwas vormacht. Gewiss, X und Y mögen kausalen Einfluss haben, aber dieser ist keineswegs bewiesen, ganz abgesehen davon, dass andere Einflüsse vielleicht viel stärker sind. In weitem Mass bestehen Newsberichte bloss aus Geschichten und Anekdoten, die als zusammenhängende Analysen verkauft werden. Ich habe die Nase voll von dieser billigen Art und Weise, die Welt zu «erklären». Sie ist unsachgemäss. Sie ist irrational. Sie ist schlicht falsch. Und ich will nicht, dass diese billigen «Erklärungen» mein Denken beeinträchtigen.

6. News hemmen das Denken

Denken braucht Konzentration, Konzentration braucht ungestörte Zeit. Wenn Sie sich dem Pseudofaktenstrom öffnen, geht Ihre Konzentrationsfähigkeit unter. News machen seichte Denker aus uns. Aber nicht nur das. Sie beeinträchtigen unser Gedächtnis.

Es gibt zwei Arten von Gedächtnis. Das Langzeitgedächtnis hat eine nahezu unendliche Speicherkapazität, während das Arbeitsgedächtnis auf eine Minimalmenge glatter Daten begrenzt ist (versuchen Sie mal, eine zehnstellige Telefonnummer zu wiederholen, nachdem Sie sie bloss einmal gehört haben). Der Weg vom Arbeits- zum Langzeitgedächtnis führt an einer Art Nadelöhr im Hirn vorbei; was auch immer Sie verstehen möchten, es muss diesen Punkt passieren. Das geht bei abstrakten Informationen nur über Konzentration. Weil News die Konzentration stören, schwächen sie aktiv das Verstehen.

Sie reisen nicht für eine Minute nach Paris. Sie rennen nicht in dreissig Sekunden durch das Museum of Modern Art. Warum nicht? Weil Ihr Hirn eine Aufwärmphase braucht, um für neue, starke Eindrücke überhaupt empfänglich zu sein. Um Konzentration beim Lesen aufzubauen, müssen Sie der Lektüre mindestens zehn Minuten widmen. Steht weniger Zeit zur Verfügung, verarbeitet Ihr Gehirn die Informationen bloss oberflächlich und kann sie nicht speichern. Fragen Sie sich mal: Welches sind die wichtigsten zehn Newsmeldungen des letzten Monats (die heute nicht mehr in den News sind)? Wenn Sie so ticken wie die meisten Menschen, gelingt es Ihnen nicht, auch nur fünf aufzuzählen. Warum also sollten Sie etwas konsumieren, das nichts zu Ihrem Wissen beiträgt?

Die schlimmsten News sind übrigens Online-News: Eine Studie 1 hat gezeigt, dass das Textverständnis abnimmt, je mehr Hyperlinks ein Dokument hat. Warum? Weil Ihr Hirn bei jedem Link entscheiden muss, ob Sie darauf klicken sollen oder nicht, was eine ständige Ablenkung bedeutet.

7. News verändern die Struktur Ihres Gehirns

Ihr Hirn besteht aus 100 Milliarden Neuronen (Nervenzellen),  die durch mehr als 100 Billionen Synapsen miteinander verbunden sind. Die Wissenschaft ging lange davon aus, dass das Hirn komplett ausgebildet ist, wenn wir das Erwachsenenalter erreicht haben. Heute wissen wir, dass es ständig umgeformt wird. Nervenzellen brechen routinemässig alte Verbindungen ab und bilden neue (genauer: die Rezeptoren an den Synapsen verändern ihre Sensitivität). Wenn wir uns von einem neuen kulturellen Phänomen wie beispielsweise der Newsschwemme überfluten lassen, so finden wir uns am Ende mit einem physisch andern Denkapparat wieder. Gehirnwäsche, buchstäblich. Die Anpassung an News vollzieht sich tatsächlich auf der Ebene der Biologie. News verkabeln uns neu. Unser Hirn arbeitet anders, selbst wenn wir gerade keine News konsumieren.

Je mehr News wir konsumieren, desto mehr trainieren wir neuronale Schaltkreise, die auf das Überfliegen von Informationen und auf Multitasking angelegt sind. Gleichzeitig werden jene Schaltkreise atrophiert, die für vertiefte Lektüre und tiefgründiges Denken nötig sind. Ich stelle immer wieder fest, dass die meisten Newskonsumenten – selbst wenn sie einst leidenschaftliche Bücherleser waren – nicht mehr die Fähigkeit haben, längere Artikel oder Bücher zu lesen. Nach vier, fünf Seiten werden sie müde, ihre Aufmerksamkeit schwindet, und sie werden unruhig. Nicht, weil sie älter wurden oder ihr Zeitplan straffer. Vielmehr hat sich die physische Struktur ihres Hirns verändert. In den Worten von Michael Merzenich von der University of California, San Francisco: «Wir trainieren unsere Hirne dafür, irgendwelchem Mist Aufmerksamkeitzu schenken.»

Vertiefte Lektüre ist unlösbar mit tiefem Denken verknüpft. Wenn Sie die Fähigkeit zurückgewinnen wollen, sich zu konzentrieren und sich in ein Thema zu versenken, führt kein Weg an einer newsfreien geistigen Diät vorbei. Nach meiner Erfahrung braucht das Hirn etwa ein Jahr Newsabstinenz, bis es wieder die Struktur hat, um lange Texte ermüdungsfrei aufzunehmen.

8. News sind Zeitverschwendung

News verursachen exorbitante Kosten, weil sie Zeitverschwendung sind – und das gleich in dreierlei Hinsicht. Da ist erstens die Zeit, die der Konsum von News verschlingt – also die Zeit, die Sie verschwenden, indem Sie News lesen, hören oder am Fernsehen verfolgen. Zweitens ist da die Neufokussierung – das sind die Umschaltungskosten, die Zeit also, die Sie verlieren, bis Sie zur Tätigkeit zurückfinden, die Sie verrichteten, bevor die Nachrichten Sie abgelenkt hatten. Sie müssen Ihre Gedanken wieder sammeln. Drittens beeinträchtigen News Ihre Aufmerksamkeit auch noch, nachdem Sie die Schlagzeilen des Tages konsumiert haben. Newsgeschichten und -bilder geistern noch Stunden später in Ihrem Kopf herum und unterbrechenimmer wieder Ihren Gedankenfluss.

Eine kleine Rechnung: Wenn Sie am Morgen die Zeitung lesen, am Mittag 15 Minuten lang die Schlagzeilen im Radio hören und sich am Abend die «Tagesschau» reinziehen, haben Sie wertvolle Zeit vernichtet. Zählen Sie ein bisschen Online-News während der Arbeit, fünf Minuten Informationsbeschaffung hie und da und die Zeit für die Refokussierung hinzu, so kommen Sie schnell auf eine Stunde pro Tag. Im Verlauf einer Woche verlieren Sie zwischen einem halben und einem ganzen Tag. Warum tun Sie sich das an?

Global betrachtet, ist der Verlust an Produktivität immens. Nehmen Sie die Terroranschläge in Mumbai im Jahr 2008. Terroristen töteten in einem Akt kühler Geltungssucht 200 Menschen. Stellen Sie sich vor, dass eine Milliarde Menschen durchschnittlich eine Stunde ihrer Aufmerksamkeit auf die Tragödie in Mumbai verwendeten: Sie haben die News verfolgt und sich das Geplapper irgendwelcher «Experten» und «Kommentatoren» im Fernsehen angeschaut. Eine durchaus realistische Schätzung, denn Indien allein hat mehr als eine Milliarde Einwohner. Viele von ihnen dürften den ganzen Tag damit verbracht haben, das Drama zu verfolgen. Doch rechnen wir konservativ. Eine Milliarde Menschen mal eine Stunde Ablenkung ergibt eine Milliarde Stunden Ablenkung, was mehr als 100’000 Jahren entspricht. Die Lebenserwartung eines Menschen beträgt im globalen Durchschnitt 66 Jahre. Durch Newskonsum wurden also an die 2000 Menschenleben vernichtet. Zehnmal mehr, als  durch das Attentat ums Leben kamen. In einem gewissen Sinn sind die Nachrichtenorganisationen so zu unfreiwilligen Erfüllungsgehilfen der Terroristen geworden. Noch extremer verhält es sich mit der verlorenen Zeit, als Michael Jackson starb – kein wirklicher Gehalt in den Nachrichten und Millionen vergeudeter Stunden.

Information ist nicht mehr länger eine knappe Ressource – Aufmerksamkeit hingegen schon. Warum gehen Sie so unverantwortlich mit ihr um? Mit Ihrer Gesundheit, Ihrem Ruf oder Ihrem Geld sind Sie auch nicht so verschwenderisch.

9. News unterhöhlen die Beziehung zwischen Ruhm und Leistung

Eine funktionierende Gesellschaft erfordert, dass Menschen miteinander kooperieren. Der Ruf einer Person ist ein Signal, das etwas über deren Qualität als Kooperationspartner aussagt. Leider ist dieses Signal in der medialen Welt unzuverlässig geworden. In unserer evolutionären Vergangenheit stand der Ruhm einer Personin direkter Beziehung zu ihren Leistungen. Wer einen Tiger mit eigenen Händen erlegte, fand entsprechendes Ansehen.

Mit den News begann der kuriose Begriff der Prominenz unsere Gesellschaft zu durchdringen. Doch der Ruhm der Prominenten führt uns in die Irre: Leute werden aus Gründen bekannt, die sowohl für die Gesellschaft, als auch für unser Leben vollkommen bedeutungslos sind. Die Medien verleihen Fernsehstars und Talkshow-Hosts aus nichtigen Gründen «Prominenz» und unterhöhlen so die Beziehung zwischen Ruhm und Leistung. Das wäre an sich nicht schlimm. Bedauerlich ist jedoch, dass Prominenz den Ruhm jener verdrängt (crowding out), die tatsächlich etwas Wertvolles leisten.

10. News werden von Journalisten gemacht

Gute Journalisten nehmen sich Zeit für ihre Artikel. Sie überprüfen die Fakten, sind darum bemüht, die Komplexität eines Sachverhalts abzubilden und die Dinge zu Ende zu denken. Aber wie in jedem Beruf gibt es auch im Journalismus inkompetente Genossen, die sich nicht die Zeit für tiefgehende Analysen nehmen oder denen die Fähigkeit dazu fehlt. Als Medienkonsument können Sie meistens nicht zwischen den beiden unterscheiden.

Meine Schätzung: weniger als 10 Prozent der Newsgeschichten sind originär. Weniger als 1 Prozent sind investigativ. Und höchstens einmal alle 50 Jahre decken Journalisten einen Watergateskandal auf. Der track record des Journalismus für neue Erkenntnisse ist schlecht. Sehr schlecht. Viele Reporter klauben ihre News von Berichten anderer Autoren zusammen, von Gemeinplätzen, oberflächlichem Denken und was auch immer sie im Internet finden mögen. Einige Journalisten schreiben auch einfach von anderen ab oder beziehen sich auf alte Berichte, ohne den zwischenzeitlichen Veränderungen Rechnung zu tragen. Das Abschreiben und das Abschreiben der Abschriften vervielfältigen die Fehler in den Artikeln und erhöhen deren Irrelevanz. So lässt sich denn John Kenneth Galbraiths Spruch über die Ökonomen auf die Journalisten übertragen: «Sogenannter Journalismus ist eine extrem praktische Form der Beschäftigung für Journalisten.»

11. Berichtete Tatsachen sind manchmal, Prognosen immer falsch

«The New Yorker» ist eine Zeitschrift, die dafür bekannt ist, alle Fakten akribisch zu prüfen. Wird in einem Artikel das Empire State Building erwähnt, geht jemand von der Faktenprüfabteilung (factchecking department) an die frische Luft, um sich mit eigenen Augen davon zu überzeugen, dass das Gebäude noch steht. Die Geschichte ist kolportiert, aber sie weist auf etwas Wichtiges hin: Fehler passieren selbst den besten Journalisten. Heutzutage ist der Faktenprüfer in den meisten Medienorganisationen eine vom Aussterben bedrohte Spezies.

Falsche Informationen sind das eine. Das andere sind falsche Vorhersagen: «Regimewechsel in Nordkorea in den nächsten zwei Jahren», «Argentinische Weine bald beliebter als französische»,«Die Eurozone wird auseinanderbrechen», «Weltraumspaziergänge für jedermann in zehn Jahren», «Kein Rohöl mehr in 15 Jahren», «Japan wird als erstes Land ein Durchschnittsalter von 100 erreichen». Täglich bombardieren uns Journalisten, «Experten» und «Kommentatoren» mit ihren Prognosen. Wie verlässlich sind sie? Bis vor wenigen Jahren hat sich niemand die Mühe gemacht, deren Qualität zu überprüfen. Dann kam Philip Tetlock. Der Berkeley-Professor liess über einen Zeitraum von zehn Jahren 82’361 Vorhersagen auswerten. Das Resultat: die Vorhersagen hätten genauso gut zufällige Aussagen sein können. Jene «Expertenprognosen», die die höchste Medienaufmerksamkeit hatten, waren besonders unzuverlässig. Warum also sollten wir diesen Ramsch konsumieren?

Haben die Zeitungen den Ersten Weltkrieg vorausgesagt? Die Grosse Depression? Die sexuelle Revolution? Den Zusammenbruch der Sowjetunion? Den Aufstieg des Internets? Die Resistenz gegen Antibiotika? Den Fall der europäischen Geburtenraten? Die Unruhen in Tunesien? Oder die explosionsartige Zunahme von Depressionen? Haben sie nicht. Okay, vielleicht finden sich zufällig zwei, drei korrekte Voraussagen in einem Meer von falschen, doch das kommt einer Nullaussage gleich.

«Klinken Sie sich aus dem News-Zirkus aus und würfeln Sie!»

Glücklicherweise gibt es einen angenehmeren Weg, um zu gleichwertigen Prognosen zu kommen: Klinken Sie sich aus dem News-Zirkus aus und würfeln Sie! Noch besser als Würfeln sind die Lektüre von Büchern, langen Artikeln und das Selberdenken.

12. News manipulieren

Die evolutionäre Vergangenheit hat uns mit einem guten Gespür dafür ausgestattet, Schwachsinn in der Kommunikation von Angesicht zu Angesicht zu entlarven. Unbewusst stützen wir uns auf verschiedene Hinweise, um Manipulationen aufzuspüren – Hinweise jenseits der verbalen Botschaft: Gesten, Gesichtsausdrücke und Anzeichender Nervosität wie zitternde Hände, Erröten und Körpergeruch. Als wir in kleinen Menschengruppen lebten, kannten wir fast immer den Hintergrund des Boten. Informationen kamen mit einem umfangreichen Set an Metadaten daher. Heute allerdings ist es schwierig und energieraubend, unvoreingenommene Newsgeschichten von solchen zu unterscheiden, die einen Hintergedanken verfolgen.

Die PR-Industrie ist so gross wie die News-Industrie – der beste Beweis dafür, dass Journalisten und Konsumenten manipuliert, beeinflusst oder für eine Sache eingenommen werden können. Unternehmen, Interessengruppen und andere Organisationen würden nicht solche Summen für Öffentlichkeitsarbeit ausgeben, wenn sie keinen Erfolg hätten. Wenn PR-Berater sogar Journalisten manipulieren können – die meist eine berufsbedingte Skepsis gegenüber mächtigen Organisationen haben –, warum glauben Sie dann, dass Sie ihrer geschickten Einflussnahme entgehen können?

Nehmen wir die Geschichte der Krankenschwester Nayirah. Eshandelt sich um eine 15-jährige Kuwaiterin, die vor dem amerikanischen Kongress im Vorfeld des Golfkriegs von 1991 aussagte. Sie wollte beobachtet haben, wie irakische Soldaten in ihrem Spital in Kuwait Säuglinge getötet hatten. Fast jedes Medium berichtete über die Geschichte. Das amerikanische Publikum war ausser sich. Die Story trug dazu bei, dass der Kongress dem Krieg zustimmte. Nayirahs Zeugnis, das damals alle Medien als glaubwürdig einschätzten, wurde später als von langer Hand geplante Kriegspropaganda entlarvt.

Ein weiterer Aspekt der Manipulation: Journalisten formen so etwas wie ein gemeinsames Bild der Welt und ein gemeinsames Set von Geschichten, um die Welt zu beschreiben – und bestimmen damit zu einem grossen Teil die öffentliche Agenda. Aber halt – wollen wir wirklich, dass die Angestellten eines kleinen Wirtschaftszweigs die öffentliche Agenda bestimmen?

13. News machen uns passiv

Newsgeschichten befassen sich zur grossen Mehrheit mit Dingen, die Sie nicht beeinflussen können. Die tägliche Wiederholung von News über Dinge, die wir nicht ändern können, macht uns passiv. Wir werden zermalmt, bis wir am Ende eine pessimistische und fatalistische Weltsicht haben.

Wenn das Hirn auf zweideutige Information trifft, ohne handeln zu können, nehmen wir eine Opferrolle ein. Der wissenschaftliche Begriff dafür ist «learned helplessness» (angelernte Hilflosigkeit). Es mag eine forcierte Interpretation sein, aber es würde mich nicht erstaunen, wenn der Newskonsum seinen Teil zur Zivilisationskrankheit Depression beitrüge. Zeitlich betrachtet, fällt die Verbreitung von Depressionen jedenfalls genau mit dem Wachstum und der Blüte der Massenmedien zusammen.

14. News töten die Kreativität

Pseudowissen schränkt unsere Kreativität ein. Das ist einer der Gründe, weshalb Mathematiker, Schriftsteller, Komponisten und Unternehmer ihre kreativsten Leistungen zumeist in jungen Jahren hervorbringen. Ihre Gedanken führen durch einen weiten, unbewohnten Raum, was sie ermutigt, neuartige Ideen zu entwickelnund zu verfolgen.

Ich kenne keinen einzigen kreativen Kopf, der ein News-Junkie ist – keinen Schriftsteller, keinen Komponisten, keinen Mathematiker, keinen Physiker, keinen Wissenschafter, keinen Musiker, keinen Designer, keinen Architekten oder Maler. Anderseits kenne ich einen Haufen extrem unkreativer Köpfe, die News in rauhen Mengen konsumieren.

«Ich kenne keinen einzigen kreativen Kopf, der ein News-Junkie ist.»

Die kreativitätszerstörende Wirkung der News mag aber auch mit einer ganz simplen Sache zu tun haben, die wir zuvor betrachtet haben: Konzentration. Wer durch News abgelenkt wird, kann keine neuen Ideen hervorbringen. Fazit: Wenn Sie an alten Lösungen festhalten wollen, sollten Sie News konsumieren. Wenn Sie auf der Suche nach neuen Lösungen sind, sollten Sie auf Newskonsum verzichten.

15. News geben uns die Illusion von Mitgefühl

News lullen uns ein in ein warmes, globales Gefühl. Wir alle sind Weltbürger. Wir alle sind miteinander verbunden. Der Planet ist ein globales Dorf. Wir singen «We are the World» und schwenken die kleine Flamme unseres Feuerzeugs in perfekter Harmonie mit Tausenden von anderen. Das gibt uns ein angenehm flauschiges Mitgefühl – was uns oder die Welt freilich überhaupt nicht weiterbringt. Dieser Zauber einer allumfassenden, weltweiten Verbundenheit ist ein gigantischer Selbstbetrug. Tatsache ist, dass nicht der Newskonsum uns mit anderen Menschen verbindet; wir sind miteinander verbunden, weil wir kooperieren, Handel treiben oder (in Ausnahmefällen) gegeneinander Krieg führen.

Wann immer ich von meiner Newsdiät berichte, kommt unweigerlichder Vorwurf: «Aber Sie nehmen ja gar nicht am Leiden der Ärmsten der Welt teil, an den Kriegsgeschehnissen und Greueltaten.» Meine Antwort: Erstens, muss ich denn das? Vielleicht passieren noch viel grössere Greueltaten auf anderen Planeten. Müsste ich an diesen nicht auch «teilnehmen»? Zweitens, «teilnehmen durch Medienkonsum» – gibt es einen grösseren Selbstbetrug? Echte Teilnahme ist Handeln. Sich am eigenen Mitgefühl aufgeilen, indem man in der «Tagesschau» haitianischen Erdbebenopfern dabeizuschaut, wie sie aus den Trümmern hervorkriechen, ist einfach nur widerlich.

Was Sie stattdessen tun sollten

Leben Sie ohne News. Klinken Sie sich aus. Radikal. Erschweren Sie sich selbst den Zugang zu News, so gut es geht. Löschen Sie die News-Apps auf Ihrem iPhone. Verkaufen Sie Ihren Fernseher. Greifen Sie nicht nach Zeitungen und Zeitschriften, die in den Flughäfen und Zügen herumliegen. Lenken Sie Ihren Blick von den Schlagzeilen ab. Löschen Sie alle Newsseiten aus der Lieblingsliste Ihres Browsers. Wählen Sie als Startseite Ihres Browsers kein Newsportal. Entscheiden Sie sich stattdessen für eine Seite, die sich nie ändert; je langweiliger, desto besser.

Wenn Sie die Illusion aufrechterhalten möchten, «nichts Wichtiges zu verpassen», schlage ich vor, dass Sie einmal pro Woche die Seite mit den Zusammenfassungen des «Economist» überfliegen.Verwenden Sie nicht mehr als fünf Minuten dafür.

Lesen Sie lange Artikel, Bücher und Buchzusammenfassungen, die nicht davor zurückschrecken, die Komplexität der Welt darzustellen– «Science», «Nature», «The New Yorker», «The AtlanticMonthly», «getAbstract», «Brandeins», «Schweizer Monat», ja auch Firmenpublikationen wie die «Anlagekommentare» der Bank Wegelin oder der «Private Markets Navigator» der Partners Group. Die Welt ist nun mal komplex. Versuchen Sie, ein Buch pro Woche zulesen, besser noch: zwei oder drei. Geschichte ist gut, Biologie, Psychologie. Besuchen Sie die kostenlosen Kurse im Internet – viele haben Weltklasseniveau: iTunes-University, Khanacademy und AcademicEarth. So werden Sie die Mechanismen verstehen, die der Welt zugrunde liegen. Gehen Sie in die Tiefe statt in die Breite. Befassen Sie sich mit Inhalten, die Sie wirklich interessieren. Lesen Sie mit Freude.

Die erste Woche Ihrer Newsdiät wird die schlimmste sein. Die News nicht abzurufen, erfordert viel Disziplin. Am Anfang werden Sie sich ausgeschlossen oder sogar sozial isoliert fühlen. Sie werden jeden Tag versucht sein, einen Blick auf Ihre liebsten Newsportale im Internet zu werfen. Widerstehen Sie der Versuchung. Halten Sie an Ihrem Plan einer radikalen Newsdiät fest. Leben Sie 30 Tage ohne News. Danach werden Sie ein Gefühl der Gelassenheit und der inneren Ruhe verspüren. Sie werden feststellen, dass Sie viel mehr Zeit haben, konzentrierter sind und die Welt besser verstehen.

Nach einer Weile erkennen Sie, dass Sie trotz Ihrer persönlichen Newsabstinenz weder relevante Fakten verpasst haben, noch welche verpassen werden. Wenn eine Information wirklich wichtig für Ihren Beruf, Ihr Unternehmen oder Ihre Familie ist, werden Sie früh genug davon erfahren – von Ihren Freunden, Ihrer Schwiegermutter oder von jemand anderem, mit dem Sie sich unterhalten. Wenn Sie Ihre Freunde treffen, fragen Sie sie, ob etwas Wichtiges in der Welt geschehen sei. Die Frage ist ein idealer Gesprächsbeginn. Die Antwort ist zumeist: «eigentlich nicht».

Haben Sie Angst davor, dass Sie durch Ihre newsfreie Existenz an Partys ausgestossen werden? Nun, Sie wissen vielleicht nicht, dass Lindsay Lohan ins Gefängnis musste, aber Sie haben mehr intelligente Fakten, die Sie mit anderen teilen können – über die kulturelle Bedeutung dessen, was Sie gerade essen, oder über die Entdeckung extrasolarer Planeten. Haben Sie keine Hemmungen, über Ihre Newsdiät zu reden. Man wird Ihnen fasziniert zuhören.

Good News

Ich bin nicht gegen die Medien. Aber ich bin entschieden gegenden News-Journalismus. Ich wünsche mir eine Berichterstattung, die unsere Gesellschaft kritisch beäugt, die die Wahrheit ans Lichtbringt und die Welt in ihrer Komplexität darstellt. Solcher Journalismus ist bei weitem schwieriger als News-Reporting.

Das leuchtende Beispiel für investigativen Journalismus ist Watergate. Müssen solche Befunde in Gestalt von News daherkommen? Nein. Ob sie eine Woche oder gar einen Monat früher oder später erfolgen, ist nicht wichtig. Wichtig ist, dass die Hintergründe, die Generatoren, die Verknüpfungen der Welt ausgeleuchtet werden. Gute Gefässe für investigativen Journalismus und intelligente Publizistik sind lange Zeitschriftenartikel, die Feuilletons der grossen Zeitungen und tiefgründige Bücher. Und nun, da Sie eine radikale Newsdiät begonnen haben, haben Sie endlich Zeit, sie auch wirklich zu lesen.

  1. Nicholas Carr: «The Web Shatters Focus, Rewires Brains», Wired,May 2010)

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