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Nett sein ist einfach – gütig sein braucht Mut

Wir sagen lieber nichts, um niemanden zu verletzen. Doch Schweigen verletzt oft mehr.

Nett sein ist einfach – gütig sein braucht Mut
Klare, ehrliche Worte helfen anderen zu wachsen. Bild: ChatGPT

Ich sass da, zweite Reihe, schaute auf die Powerpointfolien, der Laserpointer huschte über ein Diagramm. Die Referentin sprach engagiert, mit Fachwissen und Überzeugung – doch nach ein paar Minuten merkte ich, dass ich kaum noch folgte. Ich begann an mir zu zweifeln. Vielleicht war ich einfach zu müde, zu unkonzentriert.

Ich drehte mich leise zu meinem Sitznachbarn und flüsterte: «Verstehst du das?» Er lächelte unsicher. «Ehrlich gesagt – nein.»

Nach der Veranstaltung klatschten alle höflich. Niemand sagte etwas. Auch ich nicht. Auf dem Heimweg dachte ich: Warum eigentlich? Warum sind wir alle so bemüht, nett zu sein – aber so schlecht darin, gütig zu sein?

Denn nett zu sein bedeutet, Konflikte zu vermeiden. Lächeln, nicken, keine Wellen schlagen.

Gütig zu sein hingegen verlangt Mut.

Güte ist, jemandem in die Augen zu schauen und zu sagen, was gesagt werden muss – auch wenn es unangenehm ist. Güte ist nicht das Zuckergusslächeln über der Wahrheit, sondern deren achtsame Darreichung. Sie ist nicht weich, sondern stark.

Nett hält den Frieden – gütig bewahrt die Würde. Nett lässt alles beim Alten – gütig hilft beim Wachsen.

Angst vor Disharmonie

Wir leben in einer Kultur der Nettigkeit. In Unternehmen, in der Politik, in Freundschaften. Niemand will anecken, niemand will «zu hart» klingen. Wir sagen lieber nichts, um niemanden zu verletzen. Doch das Schweigen verletzt oft mehr.

Denn wer aus Angst vor Disharmonie die Wahrheit verschweigt, verweigert dem anderen die Chance, besser zu werden. Ein Chef, der nie kritisiert, lässt sein Team stagnieren. Ein Bürger, der Missstände höflich ignoriert, macht sich mitschuldig. Eine Gesellschaft, die jedes klare Wort als Angriff wertet, verliert ihre Reife.

Die alten Stoiker wussten das. Seneca schrieb, ein wahrer Freund schmeichle nicht, sondern helfe, gut zu werden. Und Marcus Aurelius erinnerte daran: Was dem Bienenstock nicht nützt, nützt auch der Biene nicht. Wahre Güte denkt also nicht nur ans Gegenüber, sondern an das Ganze – an die Gemeinschaft, an die Zukunft.

Der freiheitliche Gedanke geht in dieselbe Richtung: Freiheit braucht mündige Menschen. Und Mündigkeit wächst nur im offenen Austausch – nicht in der Komfortzone der Nettigkeit. Eine Gesellschaft, die Konflikte meidet, produziert keine freien Geister, sondern abhängige Gemüter.

«Wer aus Angst vor Disharmonie die Wahrheit verschweigt, verweigert dem anderen die Chance, besser zu werden.»

Wir beklagen uns über Polarisierung, über den rauen Ton der Gegenwart. Doch vielleicht ist das Gegenmittel nicht noch mehr Zartheit, sondern mehr Aufrichtigkeit – verbunden mit Respekt. Nicht jeder klare Satz ist ein Angriff. Nicht jede Meinungsverschiedenheit ist ein Krieg.

Üben Sie, nicht nett zu sein!

Vielleicht sollten wir also nicht fragen: War ich heute nett? Sondern: War ich mutig genug, gütig zu sein? Habe ich die Wahrheit gesagt, wenn sie nötig war – ohne Stolz, aber mit Herz? Habe ich jemanden herausgefordert – nicht um zu siegen, sondern um ihn wachsen zu lassen?

Darum eine kleine Übung: Suchen Sie sich diese Woche einen Menschen aus – einen Freund, eine Kollegin, jemanden, dem Sie etwas bedeuten. Und seien Sie nicht nett. Seien Sie gütig. Sagen Sie, was Sie wirklich denken – ruhig, ehrlich, mit Wärme.

Führung, Freundschaft, Liebe – sie alle verlangen dasselbe: den Mut, gütig zu sein, auch wenn es nicht nett ist.

Das ist die Art von Mut, die Vertrauen schafft. Das ist die Art von Wahrheit, die Gemeinschaft stärkt. Und das ist die Art von Güte, auf der eine freie Gesellschaft beruht.

Vielleicht braucht unsere Zeit weniger Nettigkeit – und mehr Rückgrat.

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