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Moralisieren wir, aber richtig!

Wer mit der nötigen Distanz einiger Jahrzehnte die Krisenjahre 2008 ff. betrachten wird, könnte dereinst rückblickend die Diagnose stellen: Es waren die Jahre, in denen sich ein neuer öffentlicher Moralismus durchzusetzen begann. Vorbei die Zeiten, als Moral eine Privatangelegenheit war. Obwohl in pluralistischen Gesellschaften jeder seine eigene Auffassung von Gut und Böse hat, waren sich […]

Wer mit der nötigen Distanz einiger Jahrzehnte die Krisenjahre 2008 ff. betrachten wird, könnte dereinst rückblickend die Diagnose stellen: Es waren die Jahre, in denen sich ein neuer öffentlicher Moralismus durchzusetzen begann.

Vorbei die Zeiten, als Moral eine Privatangelegenheit war. Obwohl in pluralistischen Gesellschaften jeder seine eigene Auffassung von Gut und Böse hat, waren sich plötzlich alle einig: Nur mehr einhellige Moral kann die Welt retten. Die Menschen waren bereit, ihre persönlichen Meinungen mit Blick auf höhere Zwecke hintanzustellen und einer diffusen öffentlichen Moral unterzuordnen. Was einigen zu Beginn schwer fiel, war für andere ein willkommener Transfer: Niemand brauchte sich fortan mehr um die lästigen Fragen nach richtig und falsch zu kümmern. Nachdem die Bürger bereits ihre Sorgen um ihr materielles Wohlergehen in die gütigen Hände des Staates gelegt hatten, delegierten sie auch ihr moralisches Empfinden an den Hüter von Recht und Ordnung. Nun waren sie endlich bereit für das Leben in vollkommener Sorglosigkeit. Seither gilt: Was der Staat tut, ist richtig, egal, was er tut.

Wenn es Sinn macht, simplifizierend von «dem» Staat zu reden, dann in Zeiten wie den gegenwärtigen: Er steht als eine «vierte Dimension» vor uns, «aus der sich alle nach Herzenslust befriedigen können, ohne dass irgendeiner die Last zu tragen hätte». Das sind die Worte, mit denen Wilhelm Röpke in seinem Aufsatz «Die vierdimensionale Nationalökonomie», 1944 für diese Zeitschrift verfasst, den Staatsglauben in Krisenzeiten beschrieb.* Unter der vierten Dimension versteht er einen Schleier, der über der dahinterliegenden Wirklichkeit liegt. Denn jedes Kind weiss im Grunde: Nicht der Staat kommt für das eigene Leben auf, sondern andere Steuerzahler bezahlen dafür; nicht der Staat ist moralisch gesinnt, sondern, wenn schon, sind es die Bürger. Als Röpke seinen Text verfasste, wussten die Leute nicht, was sie nach dem Krieg erwartete – heute fürchten sie sich vor einer Zukunft, in der die wohlfahrtsstaatlichen Versprechen erodieren, auf die sie ihr Leben gebaut haben.

Der Glaube an die vierte Dimension ist nichts anderes als Ausdruck einer Denkhemmung: Halten wir uns an das Offensichtliche, gehen wir den Dingen nicht auf den Grund! Eine solche Einstellung ist anstrengend, die Aufrechterhaltung des Illusionismus bindet die psychischen Energien. Und so kommt es zu einem Befund, der scheinbar paradox anmutet, in Wahrheit jedoch konsequent ist: Derselbe Staat, der seine Versprechen gegenüber den Bürgern bricht, wird zur moralischen Instanz erklärt bzw. verklärt.

Die negativen Folgen des neuen politischen Moralismus lassen sich bereits heute beobachten. Die deutsche Publizistin Cora Stephan hat sie jüngst in einem Essay mit dem Titel «Was war das noch mal – der Liberalismus?» für die «Neue Zürcher Zeitung» treffend beschrieben. «Im politischen Diskurs hat die moralisierende Argumentation zu einer schmerzenden Verrohung der Sitten geführt», schreibt sie. «Dem Gegner wird nicht mit Sachargumenten widersprochen, sondern man empört sich über seine Person; man hält seine Meinung nicht für legitim, sondern für den Ausdruck seiner moralischen Verkommenheit.» Willkommen in der Empörungsgesellschaft der Gegenwart. Nicht das Einhalten von Regeln und Gesetzen zählt. Wichtig ist der moralische Standard – auch wenn er Rechtsbruch bedeutet.

Die Politisierung der Moral zeitigt Wirkungen, deren Tragweite kaum zu ermessen ist. Klar ist schon jetzt: Politisierung der Moral bedeutet Politisierung des Intimen. Wir sind unterwegs zu einer Form des gesellschaftlichen Zusammenlebens, in dem alles öffentlich verhandelbar und nichts mehr privat ist. Nicht nur, was einer tut, auch, was einer denkt und empfindet, bedarf der demokratischen Legitimation. Dass dadurch die Demokratie grossen Schaden nimmt, ist das eine Problem. Die andere und gravierendere Problematik besteht darin, dass wir gerade dabei sind, eine historische Chance zu verspielen. Denn die real existierende Sorglosigkeit muss nicht Verantwortungslosigkeit bedeuten. Sie wäre die historisch einmalige Voraussetzung für eine echte Wiederentdeckung von privatem moralischem Handeln und verantwortlichem Wirtschaften. Weniger Staat, mehr Moral!

* Zu Röpke und der Geschichte dieser Zeitschrift: siehe Artikel von Andrea Franc

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