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Die Brasilianisierung Europas
Claudio Pietra, zvg.

Die Brasilianisierung Europas

Mit unmöglich einzuhaltenden Gesetzen werden zunehmend auch Europas Bürger in die Illegalität getrieben.

Der brasilianische Präsident Luiz Inácio Lula da Silva ist eine Person, die keinen Brasilianer unberührt lässt. Für seine Gegner ist er ganz einfach korrupt; für seine Anhänger waren die Prozesse gegen ihn alle politisch motiviert. Wer hat denn nun recht? Beide.

Ohne jeden Zweifel hat Lula da Silva Bestechungsgelder angenommen und wurde dafür auch verurteilt – auch wenn die Urteile später vom Obersten Gericht aus formalen Gründen annulliert wurden.1 Es ist aber eben auch so, dass die Korruption und die Steuerumgehung in Brasilien so allgegenwärtig sind, dass es in der Hand der Mächtigen liegt, wem überhaupt der Prozess gemacht wird.

Komplizierte Gesetze bringen informelle ­Beschäftigung

In Brasilien sind die Gesetze häufig zu kompliziert, um eingehalten zu werden, und die Steuern zu hoch, um vollständig bezahlt zu werden. Das führt dazu, dass um die 40 Prozent der Beschäftigung informell sind2 und auf diesen Löhnen keine Sozialabgaben oder Steuern bezahlt werden. Selbst formell Beschäftigte erhalten häufig einen Teil des Lohnes informell, der in einer Schwarzgeldkasse namens «caixa dois» (zweite Kasse) landet. Ein grosser Teil bleibt so unversteuert; deshalb sind auch die Steuersätze auf dem legalen Anteil so hoch.

Im Alltag kann man sich diesem Sog fast nicht entziehen, wird man also quasi in die Illegalität gezwungen. Diese beschränkt sich aber nicht nur auf Steuersachen. Auch das Arbeitsrecht ist hochkomplex und für Laien nicht zu durchschauen. Scheinselbständigkeit und illegale Beschäftigungsarten sind folglich an der Tagesordnung.

Diesen Prozess mit Regeln, die zu komplex sind, um befolgt zu werden, und Steuern, die zu hoch sind, um bezahlt zu werden, nenne ich «Brasilianisierung». Inwieweit ist dieser Prozess nun auch in Europa und der Schweiz in Gang gekommen? Brasilianische Verhältnisse herrschen bei uns noch keine, das ist unbestritten. Wir bewegen uns aber rasant in die falsche Richtung. Drei Beispiele:

  1. Die europäische Datenschutzgrundverordnung (DSGVO), die auch Pate stand für das neue Schweizer Datenschutzgesetz, stipuliert in Artikel 17 ein sehr umfassendes Recht auf Löschung von Personendaten: «Die betroffene Person hat das Recht, von dem Verantwortlichen zu verlangen, dass sie betreffende personenbezogene Daten unverzüglich gelöscht werden (…).» Das ist in der Praxis fast nicht umsetzbar. Daten liegen heute immer elektronisch vor, sehr häufig auch in Datenbanken, und eine vorsichtige Firma legt wohl verwahrte Back-ups an. Die Daten von einzelnen Geschäftspartnern in diesen Back-ups zu suchen und zu löschen, ist unmöglich. Viele Daten dürfen ja auch gar nicht verändert werden, müssen doch steuerrelevante Informationen während zehn Jahren unverändert aufbewahrt werden.
  2. Die EU-Verordnung über den grenzüberschreitenden Einsatz von Arbeitskräften fordert bei einem Einsatz im Ausland eine Bescheinigung des eigenen Landes, dass man lokal versichert ist – eine «Bescheinigung A1»3, bei der es vor allem um Kranken- und andere Sozialversicherungen geht. Abgesehen davon, dass in der Schweiz keine Behörde und kein Arbeitgeber bescheinigen können, dass jemand krankenversichert ist, waren auch die Ämter in Deutschland nicht in der Lage, eine solche Bescheinigung auszustellen. Jeder Auslandeinsatz – auch nur ein Besuch in einer Auslandfiliale oder der Besuch eines Seminars – wird damit zur heiklen, weil nicht regelkonformen Reise.
  3. In Österreich hat die Behörde für Medikamentensicherheit verfügt, dass jede Firma, die Medikamente in Umlauf bringt, eine Person zu bezeichnen hat, die «rund um die Uhr für die Behörde erreichbar (…)» sein soll – was im offensichtlichen Widerspruch zum Arbeitsrecht steht, das zwingende Ruhezeiten fordert. Eine bekannte Wiener Anwaltskanzlei rät nun den entsprechenden Firmen, doch eine Person anzugeben, die nicht dem Arbeitsrecht untersteht.4 Wie das gehen soll, wird nicht ausgeführt.

Diese drei Beispiele zeigen, dass es auch in Europa zunehmend Regulierungen gibt, die in der Praxis gar nicht eingehalten werden können oder sich gegenseitig widersprechen. Meistens wird auch mit hohen Bussenandrohungen operiert, selbst wenn niemand zu Schaden gekommen ist. Auf mich als Unternehmer kommt so die unangenehme Aufgabe zu, entscheiden zu müssen, welche der Regeln ich nicht einhalten kann oder welchem Gesetz ich Priorität einräume. Viel schlimmer jedoch ist, dass ich in jedem Fall haftbar bin, und das gegen meinen Willen und ohne es besser lösen zu können.

Nicht jeder Einzelfall muss geregelt werden

Es ist höchste Zeit, die Brasilianisierung von Europa zu stoppen und sich bei jeder neuen Regulierung zu fragen, ob sie überhaupt mit vertretbarem Aufwand eingehalten werden kann. Und natürlich auch, ob sie mit allen anderen gleichzeitig zu befolgenden Regeln kompatibel ist. Mit jeder Regel, die einen Sachverhalt sehr detailliert ­regeln will, steigt das Risiko einer Überschneidung mit anderen Regeln. Dabei gibt es kaum Bedarf, jeden einzelnen Fall im Detail zu regeln, denn unsere Gerichte sind geübt darin, Grundprinzipien auf den Einzelfall anzuwenden.

Für Europa steht nicht weniger als die Rechtssicherheit auf dem Spiel. Denn ohne diese ist unternehmerisches Arbeiten sehr viel aufwendiger und zu sehr von Compliance getrieben, anstatt von Innovation und vom Markt­erfolg.

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