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Im Namen des Vaters

Urs Faes’ Suche im «Liebesarchiv»

Urs Faes ist ein beständiger, kein spektakulärer Autor. Letzteres liegt auch gar nicht in seinem Sinn. Das Markenzeichen dieses entschiedenen Liebhabers leiser Töne ist ein Stil, der als dezent und behutsam, als ebenso sensibel wie eindringlich bezeichnet werden kann. Unterhaltungsqualitäten sind Faes’ Sache nicht. Ganz im Gegenteil legt er Wert auf Ernsthaftigkeit. Die innerste Mitte seiner seit den frühen 80er Jahren entstandenen Romane – neun an der Zahl – bilden existentielle Fragen nach so etwas wie dem richtigen Leben. Von einem auf Oberflächenreize ansprechenden Betrieb wird so einer leicht übersehen. Tatsächlich bleibt die öffentliche Aufmerksamkeit hinter den Qualitäten dieses Autors zurück, der in der Schweiz zu den interessantesten seiner Generation zählt. Im Februar wurde er sechzig. «Liebesarchiv» – so lautet der Titel seines vor kurzem bei Suhrkamp erschienenen neuen Romans.

Als wolle er jene schöne Kontinuität bestätigen, knüpft Faes explizit an Früheres an. Einigen der Personen und Handlungselemente konnte man bereits in seinen beiden besten Romanen begegnen, «Sommerwende» (1989) und «Augenblicke im Paradies» (1994). Zugleich entfaltet er beispielhaft die Möglichkeiten dessen, was ihm als Autor zu Gebote steht. Inhaltlich geht es um die Vergangenheit der eigenen Familie – ein signifikantes Motiv gerade der Schweizer Literatur dieser Jahre, zumal in jüngeren Veröffentlichungen ihrer Leitfiguren, wie Urs Widmer oder Thomas Hürlimann. Manches deutet auf eine autobiographische Unterfütterung der Geschichte hin. Bei dem Ich-Erzähler handelt es sich um einen – wie Faes selbst, dessen Kindheits- und Jugendlandschaft das aargauische Suhrental ist – im dörflich geprägten Mittelland zwischen Jura und Alpen aufgewachsenen Schriftsteller, der in Zürich lebt. Vor seiner Lesung in einer kleinen Stadt am Rhein spricht ihn eine ältere Dame an. Sein Vater sei «die grosse Liebe» ihres Lebens gewesen: «Ich habe ihn nie vergessen; ich habe nur einen Sommer mit ihm gelebt.» Es war die Zeit Mitte der 50er Jahre, als der Vater, «ohne ein Wort, ohne eine Geste des Abschieds», seine Familie verlassen hatte. Als ihn nach dem Tod der Dame wenige Monate später deren Tochter Vera kontaktiert, muss der Sohn sich mit diesem Einschnitt, der das Ende seiner Kindheit bedeutet hatte, auseinandersetzen, widerwillig zunächst.

Anhand von Überbleibseln der Beziehung des Liebespaares und durch einen Besuch an dessen Fluchtort (hinter dem das Klosterdorf Mariastein im Schwarzbubenland durchschimmert) versuchen der Ich-Erzähler und Vera die Geheimnisse jenes Sommers zu rekonstruieren. Wie zum Zeichen, dass Menschen einander immer «ein anderer» bleiben, entdeckt der Sohn dabei eine Person, die er nicht kannte. Letztgültige Antworten bleiben freilich aus. Im Gegenteil schleicht sich das Adverb «vielleicht» in viele Sätze, und viele werden mit einem Fragezeichen abgeschlossen. Erahnbar ist die Tragödie einer unlebbaren Verheissung. Beide Partner liessen sich auf (möglicherweise unerfüllbare) Sehnsüchte ein, die schon bald durch ein äusseres Verhängnis «erstickt» wurden, den (viel spricht dafür: freiwilligen) tödlichen Unfall des Ehemannes von Veras Mutter. Beide waren schon gebunden, bevor sie ernsthaft die Liebe erfuhren. Pragmatisch auflösbar ist eine solche Situation nicht: die Geschichte kann für die Liebenden daher nur schlimm ausgehen. Als doppelt Gezeichneten bleiben ihnen «Abgründe», gerade weil sie in ihr früheres Leben zurückkehren, aus dem sie ausgebrochen waren.

Am Vater wird dies besonders deutlich. Seine familiäre Existenz gerinnt zu einem fortdauernden Zustand der Entfremdung (samt partiellem Doppelleben). Nur mehr an das sich einstellende bleierne Schweigen erinnert sich der Ich-Erzähler, an verweigerte Gespräche und verdrängte Konflikte, an die Daseinsform eines besseren Gastes oder «Zimmerherrn» – obwohl noch zwei Schwestern geboren werden –, an jahrelange Krankheit und ein langsames Sterben.

Verloren aber hat nicht nur er, «verloren haben alle». Unter dem Verschwinden und der Abwesenheit des Vaters, unter den damit einhergehenden Lügen und Versteckspielen leiden seine beiden heranwachsenden Söhne (von denen einer behindert ist) in der entscheidenden Phase ihrer Sozialisation. Dass der Mensch, dem man sein Leben verdankt, «uns im Stich liess», beeinträchtigt massiv das Gefühl eigenen Wertes. Das Bedürfnis nach einem, «der nachfragte und zuhörte, einem, der beistand», läuft ins Leere. Am Ende wird die Rolle des Vaters geradezu archetypisch überhöht: er soll derjenige sein, der – wie es in einer flüchtigen, uneingelösten Kindheitserinnerung aufleuchtet – der Welt Namen gibt und erzählend Orientierung, ja Sinn stiftet.

Auch die scheinbar unerschütterliche, strenge Mutter des Ich-Erzählers, die Jahre später ebenso stumm stirbt wie einst der Mann, den sie gepflegt hatte, ist in diese Struktur der in ihrem Falle durch ein festes Normensystem gestützten Selbstverleugnung eingebunden. Noch vor ihrem Partner arrangiert sie sich, nach einem verlorenen Traum, mit dem freudlosen Leben der Pflicht. Sie hatte einen aus Riga stammenden Juden geliebt, der 1938 in die Schweiz gekommen war, von dort aus einem Internierungslager nach «Vichy-Frankreich» floh und seither als verschollen galt. Ob der Ich-Erzähler dessen Sohn ist, bleibt offen. Eine Wahlverwandtschaft zu Jüdischem eignet ihm jedenfalls, hatte ihm doch ein Bekannter, Rosenzweig, als Junge die Tradition der galizischen Chassidim nahegebracht und dabei vermittelt, «dass man das Leben nur mit Geschichten überlebt».

Für den Ich-Erzähler haben seine familiengeschichtlichen Suchbewegungen eine läuternde Funktion. Auch wenn Faes’ Protagonist dafür ein bisschen zu temperamentlos ist, lösen sie ansatzweise doch das aus, was ein deutscher Autor der Geniezeit – Johann Georg Hamann, den das Buch in anderem Zusammenhang erwähnt – einmal die «Höllenfahrt der Selbsterkenntnis» genannt hat. Als Detektiv in eigener Sache lernt er, den schmerzhaften Blick auf die eigene Vergangenheit samt ihren Nachwirkungen auszuhalten. In einer früheren Ehe hatte auch er die Erfahrung des plötzlichen Verlusts einer gemeinsamen Sprache gemacht. Und vermöge der Konfrontation mit den Sehnsüchten der ihm am nächsten stehenden Menschen gelangt er zur Annahme seiner eigenen. Der Roman schliesst mit einer symbolischen Inszenierung am portugiesischen Cabo da Roca, dem Ende Europas, einem mythischen Ort «von Offenheit, von Weite, aber auch von Zurücklassen», für den Protagonisten gleichsam die Schwelle zwischen der Vergangenheit und einer Zukunft, die die Hoffnung darauf einzuschliessen scheint, dass Menschen einander Antwort sein können. Eine der beiden Frauen, zwischen denen er sich zu entscheiden hat, ist übrigens Vera.

Hatte der Ich-Erzähler bisher Auslandsvorträge über «Heimat und Herkunft», «Gedächtnis und Erinnerung» gehalten und sich als gefragter Experte diskursiv dem Thema «zeitgenössischer Formen von Identität» gewidmet, so befand er sich mit seinen nahe an «Allerweltssätzen» gebauten Reflexionen stets in der Ferne zu sich selbst. Jetzt erst könnte er der Dialektik von Vergangenheit und Zukunft im eigentlichen Sinne inne geworden sein. Das ist die Lektion, die er zu lernen hat.

Kompositorisch gekonnt, werden innerhalb des Haupt-strangs und neben ihm zahlreiche Gegensatzpaare entfaltet und zueinander in Beziehung gesetzt: individuelle und kollektive Geschichte, das Eigene und das Fremde, Christliches und Jüdisches, Westen und Osten unseres Kontinents. An zeit- und (mit Blick auf die Schweiz) vor allem geschichtskritischen Einsprengseln fehlt es ebensowenig wie an solchen poetologischer Art: «Ist nicht alles Erinnerte ein später Erzähltes?» Mit dieser Frage verweist Faes auf eine Urszene aller Literatur. Deren Geltungsverlust in modernen Gesellschaften, dürfen wir folgern, hängt womöglich mit einer dort schwindenden Fähigkeit zur Erinnerung, wenn nicht gar deren Auslöschung zusammen. Derlei Besinnungslosigkeit entgegenzuwirken, ist nicht das geringste Verdienst dieses Autors.

Urs Faes: «Liebesarchiv». Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2007.

HANS-RÜDIGER SCHWAB, geboren 1955, ist Professor für Kulturpädagogik/Ästhetik und Kommunikation an der Katholischen Fachhochschule Nordrhein-Westfalen, Münster.

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