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Handweber und Dichter

Zur Neuausgabe von Jakob Senns Lebensroman

Unter den Lebensberichten von Schweizer Autoren aus kleinbäuerlich-frühindustriellem Milieu, wie Ulrich Bräker («Lebensgeschichte und Natürliche Ebentheuer des Armen Mannes im Tockenburg», 1789), Heinrich Bosshard («Eines schweizerischen Landmannes Lebensgeschichte, von ihm selbst beschrieben», 1804/10), Jakob Stutz («Sieben Mal sieben Jahre aus meinem Leben. Als Beitrag zu näherer Kenntniß des Volkes», 1853-55), nimmt Jakob Senns «Hans Grünauer» (postum erstmals 1888 herausgegeben) eine Sonderstellung ein. Weder ging es dem Autor darum, Rechenschaft über innere oder äussere Befindlichkeiten abzulegen, noch um moralische Ermahnungen an die Mit- und Nachwelt. Vielmehr ist sein Unternehmen von vornherein literarisch angelegt. Zwar folgt der Lebensgang des Helden und Ich-Erzählers einigermassen den biographischen Stationen seines Autors, doch stilisiert Senn in einer Weise, die den Bericht zum Entwicklungsroman in der Nachfolge von Gottfried Kellers «Grünem Heinrich» (1854/55) macht. Ihm sandte Senn sein Manuskript denn auch im Frühjahr 1863 zu; im Begleitbrief betonte er, es enthalte «vorwiegend, ja wenn man will ausschließlich, Selbsterlebtes», nannte es aber gleichzeitig sein Ziel, «das Ringen eines lediglich auf seine eigene Thätigkeit angewiesenen, nach einem höheren oder ferneren Ziele Strebenden mit seinen Erfolgen und Erfolglosigkeiten zu beobachten».

Auf diese Absicht hin orientiert Senn die Komposition des Ganzen, von der Familienstruktur über die Mentorgestalten, die ihm, dem Muster des klassischen Bildungsromans gemäss, jeweils in einer Lebensphase neue Einsichten und Blickwinkel aufschliessen, bis hin zum letzten Kapitel, das zugleich die Aussicht des Vierzigjährigen auf eine Liebesbeziehung mit der Reinkarnation der Jugendgeliebten in deren Tochter und auf eine Existenz als freier Schriftsteller eröffnet. Keine Lebensbilanz also, sondern ein Bericht, wie einer seine Bestimmung findet.

Kern von Senns Roman ist die Initiation in die Welt der Bücher. Zwar erhalten wir Einblicke in die Lebensbedingungen im Tösstal des 19. Jahrhunderts, erfahren vom Hexenglauben der Bevölkerung, von Volksbräuchen wie dem «z’Licht gehen» der jungen Männer, lernen Sonderlinge, Dorforiginale und Randständige kennen – doch immer mehr schiebt sich die Faszination am Geschriebenen und Gedruckten in den Vordergrund, obwohl die Handweberei noch manches Jahr zur Existenzsicherung unerlässlich bleibt. Wie Bräker von unstillbarer Lesewut befallen, stürzt sich der Knabe auf Kalender, Andachtsbücher und Unterhaltungsblätter, leiht der Jüngling Bücher von einem alchemistischen Apotheker und vom Pater Bibliothekar des Klosters «Bergwinkeln» (= Fischingen), liest tief ergriffen Jung-Stillings Lebensgeschichte und eine Auswahl aus Heinrich Seuses Werk und kauft, sobald er über eigenes Geld verfügt, Klopstock, Goethe und Homer bei jenem Buchhändler, Antiquar und Verleger «Frommberg» (= Siegfried), bei dem er einige Jahre später als Gehilfe eintreten wird.

Weil ihm der an «Kuriosa von der Schattenseite der Naturwissenschaften» interessierte Apotheker klarmacht, Latein sei «der Hauptschlüssel zum Eingang in die geheimen Wissenschaften» und auch «als Wissenschaft an und für sich ein höchst schätzbares Besitztum» (S. 67), versucht Grünauer sich Grundkenntnisse in dieser Sprache, später auch im Griechischen und Hebräischen, Französischen und Englischen anzueignen. Zum Lesen kommt früh das Schreiben: zuerst Gelegenheits- und Auftragsgedichte und Religiös-Erbauliches, dann volkskundliche Miszellen, schliesslich Dichtungen, die nichts anderes mehr sein wollen, in Mundart und Schriftsprache. Mit Verachtung blickt er fortan auf die «didaktische Volksliteratur» (S. 218) und «befreundet» sich «sofort» mit der «freundlich-ernste[n] Gestalt», die ihm im letzten Kapitel auf der Albiskette begegnet. «Seltsam, sie war mir fremd und hatte doch so viel, ja lauter Bekanntes in ihrem Wesen […] es war die Idee zu diesem Buche.» (S. 293). So gipfelt der Lebensgang im Lebensroman, der gleichfalls Bekanntes verfremdet und Fremdes zum Eigenen werden lässt.

Mit zunehmendem Vertrauen in die eigene Produktivität und mit den ersten Erfolgen schärft sich Grünauers kritisches Bewusstsein. Vor allem der zunächst verehrte Zürcheroberländer Volksdichter «Zellberger» (= Jakob Stutz), der ihn in seinen Jünglingskreis aufnimmt und Publikationen ermöglicht, wird mehr und mehr Opfer des Spotts des jungen Adepten, und zwar sowohl als Autor «kindischer Rührgeschichten» (S. 166) wie als Leser, der Johann Jakob Reithard und Thomas Bornhauser dem von Grünauer bewunderten Gotthelf vorzieht; aber auch Zellbergers Lebensführung, seine Unreinlichkeit und übertriebene Sparsamkeit erwecken Grünauers Abscheu, erst recht dessen Verurteilung wegen homosexueller Handlungen. Noch schärfer fällt das Verdikt über eine Erzählung des ebenso rührigen wie unzuverlässigen Literaten «Fidelius» (= Robert Weber) aus, «in welcher Satz auf Satz dem Unglaublichen das Unmögliche folgen liess; es war etwas aus den Sternen Geholtes, das nie in denselben geschrieben stand.» (S. 278)

Senn schrieb sein Lebensbuch im Winter 1862/63, als er sich gerade als freier Schriftsteller und Herausgeber etabliert hatte. Bald zerschlug sich indessen der Traum einer literarischen Existenz; 1868 sah sich Senn nach undurchsichtigen Finanzgeschäften zur Auswanderung nach Montevideo genötigt. Ein Jahrzehnt später kehrte er zurück in der Hoffnung, sein Leben als uruguayischer Generalkonsul und Auswanderungsagent fristen zu können, verfiel, als die versprochenen Zahlungen ausblieben, in Schwermut und suchte im März 1879 den Freitod in der Limmat.

Erst 1888 gab der Verleger und Dialektologe Otto Sutermeister den Lebensroman unter dem Titel «Ein Kind des Volkes» erstmals heraus, den die Nachdrucke 1966 und 1971 übernahmen. Matthias Peters Neuausgabe von 2006 im Limmat Verlag gibt ihm mit dem richtigen Titel den literarischen Anspruch zurück, verzichtet aber leider auf Erläuterungen zum historischen Hintergrund (wer, ausser einigen Historikern, weiss noch, was es mit dem «Brand von Uster» 1832, dem «Züriputsch» 1839 oder der «Oberländer Dichterschule» um Jakob Stutz auf sich hatte?) und auf die Entschlüsselung der Namen. Senns Stärke ist jedoch gerade die Verbindung von literarischer Ambition und Realitätsverhaftung – sein gesamtes dichterisches und publizistisches Werk lebt davon. Zur ergänzenden Lektüre empfiehlt sich daher die ebenfalls von Matthias Peter herausgegebene Auswahl aus Heinrich Senns voluminösen Tagebüchern «Jakob und Heinrich Senn» (NZZ Libro, 2004).

Eindrücklich ist Senns Sprachkraft. Vom einfachen Bericht über Begebenheiten des Alltags oder die Reise nach Zürich, über die Schilderung seiner vom Oberländer Pietismus beeinflussten religiösen Initiation und des innigen Verhältnisses zum älteren Bruder Jakob (= Heinrich), bis zu ironischen und sarkastischen Charakterisierungen skurriler Persönlichkeiten, verfügt er über zahlreiche Register und vermeidet es sorgsam, seine eigene Person in ein allzu helles Licht zu rücken. Wie etliche seiner Zeitgenossen, verwendet Senn gern Dialektausdrücke und -wendungen, doch gelingt es ihm, sie in der Figuren- wie in der Erzählerrede nicht bloss als folkloristisches Kolorit, sondern als Stilmittel einzusetzen. «Peters Jakob brachte die erste Nachricht von dieser Novität [Jakob Stutz’ erste «Gemälde aus dem Volksleben»] zu uns und schalt den Verfasser scherzweise einen ‹Leckersbub›, der die Leute ‹mordsdings› auszuschänzeln wisse» (S. 30). – Nicht zuletzt deswegen hat Senns Lebensgeschichte auch nach fast anderthalb Jahrhunderten nichts an Reiz verloren.

Jakob Senn, «Hans Grünauer», mit einen Nachwort von Matthias Peter. Zürich: Limmat Verlag 2006.

Rémy Charbon, geboren 1945, ist Titularprofessor für Neuere deutsche Literatur an der Universität Genf.

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