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«Ich bin furchtbar britisch-pragmatisch»

Was Martin Wolf schreibt, lesen die wichtigsten Vertreter der Finanzwelt. Aber hören sie auch auf ihn? Und sollten sie denn auf ihn hören? Er argumentiert historisch. Eine grosse Depression gelte es um jeden Preis zu verhindern.

«Ich bin furchtbar britisch-pragmatisch»

Herr Wolf, Sie sind Chefkommentator der «Financial Times». Damit prägen Sie mit, wie Entscheidungsträger aus Politik und Wirtschaft über die Finanzwelt denken. Wie gross ist Ihre publizistische Macht?

Die Frage klingt gut. Die Antwort ist banal: erstens kann man diese Macht nicht messen, und zweitens denke ich schlicht und einfach nie daran. Denn sobald ich dies täte, würde ich selbstgefällig, und wenn man selbstgefällig wird, beginnt man zu glauben, die Welt verändern zu können. Das ist reine Selbstüberschätzung. Was tut ein Kolumnist wirklich? Er vergnügt sich und wird dafür bezahlt. That’s it.

 

Sie kokettieren. Wer die Meinung von Entscheidungsträgern beeinflussen kann, hat Macht und setzt sie auch gezielt ein.

Achtung, Macht und Einfluss sind verschiedene Konzepte! Macht bedeutet nach meiner Definition: Menschen dazu bringen, so zu handeln, wie man möchte, dass sie handeln. Im Englischen impliziert der Begriff «Macht» letztlich die Fähigkeit, konkreten Zwang anzuwenden. Ein Publizist hat diese Fähigkeit nicht. Sein einziges Mittel ist die Überzeugungskraft. Das ist nicht Macht, das ist allenfalls Einfluss.

 

Dann fragen wir: wie viel Einfluss haben Sie?

Auch hier muss ich Sie enttäuschen. Denn ich kann nur schwer beurteilen, wie gross der Einfluss meiner Überlegungen ist. Ich hatte nur wenige Male wirklich das Gefühl, dass meine Kommentare ganz konkret etwas zu verändern vermochten. Dabei ging es stets um innenpolitische Debatten, zum Beispiel um die Diskussion über Gebühren britischer Universitäten. Um ehrlich zu sein: ich glaube, dass viele meine Texte lesen, vielleicht sogar ernsthaft darüber nachdenken, sich am Ende von ihnen aber nicht beeinflussen lassen. Es sind Publizisten wie Sie, die dazu neigen, den Einfluss von Texten zu überschätzen.

 

Im Herbst 2008 nach der Lehman-Krise haben Sie sich lautstark engagiert, und zwar für die Rettung taumelnder Institutionen durch staatliche Interventionen…

…diese Ansicht war akzeptiert, nicht weil ich sie vertrat. Wir befanden uns damals in einer delikaten Phase, in der Panik auf den Märkten um sich griff. Wir hätten das System kollabieren lassen können – das war die Präferenz vieler Libertärer in den USA. Aber haben sie die Konsequenzen wirklich bedacht? Die Alternative bestand in der Intervention. Ich war klar der Ansicht, dass es in groteskem Masse unverantwortlich gewesen wäre, das System zusammenkrachen zu lassen. Ich sprach mich folglich für einige – sicherlich nicht alle – der damals realisierten Interventionen aus. Dazu muss ich sagen: meine Entscheidung war geprägt durch die historischen Erfahrungen meiner Familie während der grossen Depression in den 1930er Jahren. Meine Eltern waren Flüchtlinge des europäischen Kontinents. Ihre Familien wurden von den Nationalsozialisten systematisch zerstört. Es ist für mich unbestreitbar, dass Hitler nur vor dem Hintergrund der grossen Depression an die Macht kommen konnte. Mein Anliegen bestand folglich darin, eine Marktentwicklung zu verhindern, die ich als schlimmer beurteilte als die grosse Depression. Natürlich kann man hier anderer Meinung sein. Ich stehe aber zu meiner damaligen Sicht der Dinge.

 

Sie stehen im Ruf, ein Pragmatiker zu sein, der sich nicht an Ideologien hält und gerne gegen den Mainstream anschreibt. Wie kann man am Kampf der Ideen teilnehmen, wenn man sich selbst an
keine klare Idee bindet?

Meine Ansicht darüber, wie die Wirtschaft funktioniert, ist über die Jahre nicht gleich geblieben. Sie hat sich nicht kolossal verändert, aber ein bisschen schon. In diesem Sinne bin ich wohl in der Tat ein Pragmatiker. Man findet nur heraus, woran man glaubt, wenn man die Reise des Lebens mitmacht und sich mit ihr entwickelt. Sie sind beide jünger als ich. Und Sie werden vielleicht eines Tages über sich selbst staunen, wenn Sie irgendwann einmal auf Ihre Meinungen von heute zurückschauen. Ich hingegen stehe im siebten Jahrzehnt meines Lebens – die meiste Zeit ist vorüber. Wenn ich zurückblicke, erkenne ich, dass sich meine Ideen verändert haben, meine Werte jedoch nicht. Es sind dieselben Werte, die ich als Kind von meinem Vater mit auf den Weg bekommen habe, die mich heute leiten.

 

Im Deutschen haben wir dafür einen Begriff: wertkonservativ. Ihr Vater, Edmund Wolf, war ein in Wien aufgewachsener jüdischer Schriftsteller, der nach England emigrierte. Wie hat seine Geschichte Ihre Sicht auf die Welt gefärbt?

Mein Vater hat Wien 1937 verlassen, vor dem Anschluss. In England wurde er dann Fernsehproduzent für den deutschsprachigen Dienst der BBC, und nach dem Krieg schrieb er als Kolumnist für «Die Zeit» und die «Süddeutsche Zeitung». Er hatte einen leidenschaftlichen Glauben an die liberale Demokratie, die persönliche Freiheit, die Meinungsfreiheit. Und er hegte ein tiefes Misstrauen gegenüber allen Formen religiöser Orthodoxie. Er war ein leidenschaftlicher Opponent der Kommunisten und Faschisten. Nun gut, er war ein Adjektiv-Liberaler, sozusagen ein Mann des starken Zentrums. Wie die meisten seiner Generation war er in seinem früheren Leben ein Sozialdemokrat gewesen. Im Laufe der Jahre bewegte er sich immer mehr nach rechts. Aber seine Grundwerte blieben die gleichen. Ich habe diese Grundwerte übernommen.

 

Die Werte blieben dieselben, die Ideen veränderten sich. Wie verlief Ihr eigener intellektueller Werdegang?

Sie werden staunen: ich startete in den 1960er Jahren – wie die meisten Menschen damals in England – als Sozialdemokrat. In Oxford und auch an anderen Universitäten wurde keynesianische Ökonomie gelehrt. Ende der 1960er Jahre begann ich mich für Milton Friedman zu interessieren. Während des Chaos in den 1970er Jahren machten mich dann die «Austrians» neugierig, die österreichische Schule der Nationalökonomie. Einer meiner liebsten Ökonomen war Joseph Schumpeter mit seinem Buch «History of Economic Analysis», obwohl er kein wirklicher Austrian war. Ich las auch alle Schriften von Friedrich von Hayek, die ich grösstenteils sehr überzeugend fand – obwohl ich heute tiefe Inkonsistenzen in seinem Denken sehe. In den 1980er Jahren war ich ein starker Unterstützer von Margaret Thatcher. Ich begann, an Freihandel zu glauben – daran glaube ich, nebenbei bemerkt, auch heute noch. Den extremen Ansichten der libertären Austrians in den USA hingegen stehe ich heute skeptisch gegenüber.

 

Was stört Sie genau daran? Die meisten Austrians waren und sind sehr differenziert denkende Ökonomen und Sozialphilosophen.

Es gibt zwei wirklich grosse Differenzen. Erstens: ihr Ansatz ist zutiefst ahistorisch. Es ist von Bedeutung zu wissen, warum die Dinge so sind, wie sie nun mal sind. Zweitens: die Theorie der Austrians ist zutiefst apolitisch. Hayek verbrachte die letzten 20 Jahre seines Lebens mit dem Versuch, eine Verfassung der Freiheit zu entwerfen, die sozusagen die Politik überflüssig machen würde. Das ist reine Phantasterei. Es ist ein Irrtum zu glauben, dass politische In-stitutionen zugunsten autonomer ökonomischer Systeme aufgegeben werden können. Politik ist nicht irgendein unfallartiger, kleiner Teil des Lebens, von dem sich die Wirtschaft befreien kann. Politik ist vielmehr Ausdruck der Tatsache, dass wir in erster Linie soziale Tiere sind. Jede von Menschen geschaffene Grossorganisation ist von Kopf bis Fuss politisch. Sorry, das ist jetzt alles sehr philosophisch…

 

…ganz im Gegenteil, das ist sehr stimulierend, auch wenn uns scheint, dass Sie die Ansicht Hayeks verzerrend wiedergeben. Im Zuge der Finanz- und Wirtschaftskrise hat die Philosophie ökonomischer Grundideen wieder an Bedeutung gewonnen. Auf YouTube schauen sich Hunderttausende von Leuten an, wie Keynes gegen Hayek rappt…

…ich kenne dieses Video nicht…

 

…da haben Sie was verpasst. Die Komplexität des wirtschaftlichen Geschehens hat zu einer Renaissance des Denkens von Friedrich August von Hayek geführt.

Die Frage ist doch: warum ist das so? Die Möglichkeit, dass Angebot und Nachfrage kollabieren, schien mir vor Ausbruch der Finanzkrise so unwahrscheinlich, dass ich sie trotz schwerwiegender Konsequenzen nicht berücksichtigte. Ich muss mich also fragen: was dachte ich über die Welt, das sich als falsch her-ausstellte? Und: wann ist so etwas im Westen zum letzten Mal passiert? Das war in den 1930er Jahren. Und plötzlich werden die Werke der grossen Ökonomen dieser Zeit wieder relevant. Hayek, Mises und selbstverständlich Keynes und Fisher. Als die Krise einschlug, griffen die Ökonomen sofort auf Keynes zurück. Es war die einzige Werkzeugkiste, die sie hatten! Aber ist das der Weisheit letzter Schluss?

 

Eher nicht. Die politischen Machbarkeitsphantasien à la Keynes sind gerade mitverantwortlich für das Schlamassel, in dem wir stecken… 

…erlauben Sie mir einen Ausflug in die ökonomische Theorie?

 

Wir bitten darum.

Es gibt aus meiner Sicht ein gemeinsames Set der Ideen von Friedrich August von Hayek und Knut Wicksell, einem schwedischen Ökonomen der Neoklassik – ich nenne es den Hayek-Wicksell-Ansatz. Danach besteht das Kernproblem einer Krise in der Fehlallokation von Investitionsgütern bzw. Ressourcen und, als Folge davon, in einer Art Überproduktion, der faktisch keine Nachfrage entspricht. Man könnte auch einfacher sagen: die Koordination von Produzenten und Konsumenten, das Gleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage wird aufgrund des Auseinanderklaffens von natürlichem Zinssatz und dem von Banken festgelegten Zins gestört. Ich glaube nicht, dass diese Diagnose richtig ist, ganz einfach deshalb, weil das System kein Gleichgewicht kennt…

 

…mit Verlaub – wir haben die Austrians nie so verstanden, dass sie naiv von einem sich spontan herstellenden Gleichgewicht von Angebot und Nachfrage ausgehen. Im Gegenteil, sie begreifen den Markt als chaotisches Geschehen, das sich nur über den Preismechanismus einigermassen zuverlässig begreifen lässt…

…Sie können die Austrians so nicht retten. Eine Depression ist nicht die Korrektur einer fehlgeleiteten Produktion. Und ich stosse mich an der Vorstellung, dass die Zinsraten zentral seien. Die Abweichung des Zinssatzes von der natürlichen Rate ist nicht das Hauptproblem – einen natürlichen Zins gibt es in der Wirklichkeit nicht. Ich glaube auch nicht, dass das Problem in den letzten Jahren eine fehlgeleitete Produktion war. Eine riesige Blase und ein riesiger Kollaps mit verheerenden Folgen – beides ist ohne Investmentboom möglich. Den möglichen Systemkollaps können Sie mit diesem Modell nicht erklären. Der amerikanische Ökonom Irving Fisher hat aus meiner Sicht das Problem von Finanzkrisen schon eher identifiziert: die Fehlanpassung von Gläubigerforderungen, basierend auf aufgeblasenen Sachwerten. Grob gesagt besteht das Kernproblem in den Effekten einer Vermögensblase. Im Zentrum steht also das Kreditsystem.

 

Die unvorsichtige Kreditvergabe wird durch billiges staatliches Geld begünstigt. Wie halten Sie es mit Hayeks Idee von privatem Wettbewerbsgeld, das der politischen Strategie des Geldmengenwachstums entgegenwirkt?

Damit habe ich mich intensiv befasst – und das Thema bleibt auf meiner Agenda. Es gab eine kleine Periode in der schottischen Geschichte, in der free banking praktiziert wurde, aber eine Welt mit Wettbewerbsgeld als universales System hat nie vollständig existiert. Wir wissen also nicht, wie und ob ein solches System funktionieren würde.

 

Das kann vom Goldstandard nicht gesagt werden. Ein moderner Goldstandard würde die beliebige Vermehrung staatlichen Geldes ebenfalls verunmöglichen. Wäre dies eine valable Alternative?

Nein, das ist Nostalgie. Sie können natürlich sagen: wenn wir beim System des Goldstandards aus dem 19. Jahrhundert geblieben wären, wäre das letzte Jahrhundert anders und besser gewesen. Doch das ist kontrafaktische Geschichtsschreibung. Wir müssen akzeptieren, dass das System durch den Ersten Weltkrieg komplett zerstört wurde und nicht einfach wiederhergestellt werden kann. Dieser historische Blick ist wichtig. Wir haben heute ein «Fiat»-Geldsystem – Geld wird aus dem Nichts geschaffen. Aber wir sind nicht aus Zufall bei diesem Geldsystem gelandet. Ich kenne die Probleme von «Fiat»-Geldsystemen, sie sind seit Jahrhunderten bekannt. Trotzdem dachte ich in den 1990er Jahren, dass das «Fiat»-Geldsystem nicht allzu schlecht funktionierte. Heute wissen wir: das war falsch. Was folgt daraus? Wir können das System nicht morgen abschaffen und gleichsam von vorne beginnen – unsere moderne globale Ökonomie beruht darauf. Wir können aber Massnahmen ergreifen, die das System weniger schlecht funktionieren lassen. Darüber sollten wir nachdenken.

 

Sie halten am Status quo fest. Ist es nicht Aufgabe des Publizisten, Unruhe zu stiften und neue Konzepte zu entwickeln?

Ich bin ein Kommentator der Welt, so wie sie heute existiert. Meine Rolle sehe ich darin, realistische Möglichkeiten aufzuzeigen.

 

Wenn wir das heute herrschende, monetaristische Geldsystem als gescheitert betrachten und weder free banking noch der Goldstandard die Lösung ist, was ist es dann?

Ich wünschte, ich wüsste das. Vielleicht fragen Sie hier nach etwas Unmöglichem, nämlich danach, wie die Welt für immer funktionieren soll. Der Monetarismus im Sinne von Milton Friedman ist auf mittlere Sicht vorbei. Und wir wissen alle, was mit der keynesianischen Ökonomie falsch gelaufen ist. Austrians würden argumentieren, dass wir beim Goldstandard oder free banking landen, weil alle alternativen Systeme kollabieren. Aber sie machen es sich eben auch zu einfach. Meine Perspektive auf all das ist furchtbar britisch-pragmatisch: trial and error, also Experimente unter Wettbewerbsbedingungen. Warum sollen einige Länder nicht free banking ausprobieren, andere den Goldstandard? Wir können davon nur lernen. Ich habe nie geglaubt, dass der Euro funktioniert, und dachte ziemlich konsistent, dass der Euro eine phantastisch schlechte Idee war, eine phantastisch schlechte Idee. Aber ich war glücklich zu sehen, dass man es versucht. Was mit der Eurozone versucht wird, ist ein unglaubliches Experiment.

 

Man könnte auch sagen, die Eurozone sei ein furchterregendes
Experiment.

Ja, aber sie existiert. Sie aufzulösen, würde bedeuten, einen schlechten Traum in einen echten Albtraum zu verwandeln. 

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