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Mer sönd halt Appezeller

Die Mobilität der Bevölkerung hat zwar zugenommen. Wir wachsen aber dennoch für gewöhnlich in der dörflichen oder städtischen Umgebung eines Kantons auf; diese prägt uns ein Stück weit, und wir fragen kaum nach anderen Wurzeln. Wir werden zu Urnern, Genfern, Tessinern. So bin ich ein Ausserrhoder geworden, geboren 1942 zu Herisau und noch heute hier […]

Mer sönd halt Appezeller

Die Mobilität der Bevölkerung hat zwar zugenommen. Wir wachsen aber dennoch für gewöhnlich in der dörflichen oder städtischen Umgebung eines Kantons auf; diese prägt uns ein Stück weit, und wir fragen kaum nach anderen Wurzeln. Wir werden zu Urnern, Genfern, Tessinern. So bin ich ein Ausserrhoder geworden, geboren 1942 zu Herisau und noch heute hier wohnhaft. Ich habe meinen Kanton von aussen als junger Mann erst durch die Schriften von Fritz René Allemann («25-mal die Schweiz», 1965) sowie Alain Pichard («Vingt Suisses à découvrir», 1975) gesehen. Ich habe festgestellt, wie wichtig es für das genaue Beobachten ist, gelegentlich den Standort zu wechseln.

Allemann betitelte das Kapitel über Ausserrhoden mit «Hochburg des Eigenwillens», und Pichard entdeckte «le bastion du libéralisme»; er unterliess es nicht, zwar auf ein politisch amorphes, konservatives und erneuerungsbedürftiges, aber doch zutiefst freiheitlich gesinntes Staatsgebilde hinzuweisen.

Nur vier Jahre nach Pichard, meldete sich mit Stefan Sonderegger der erste profunde einheimische Kenner der Neuzeit zu Wort («Appenzeller Sein und Bleiben», 1979). Der erste Satz seines überaus geistreichen und witzigen Buches lautet: «Über das appenzellische Wesen kann kein Nichtappenzeller schreiben – denn er fühlt weder die heimliche Grösse noch den inneren Zwiespalt, schon gar nicht die wetterwendische Launigkeit auf vergnügtem Hintergrund… So gibt es nur Zerrbilder appenzellischer Darstellung von aussen.» In der Tat: die Appenzeller sind keine Witzfiguren, im Gegensatz zu denen, die sie als solche wahrnehmen wollen.

Doch wie sieht es nun im 21. Jahrhundert von innen aus? Muss alles neugeschrieben werden? – Als jemand, der seine ganze Jugendzeit bis über das Studium hinaus im Appenzellerland verbracht und danach des öfteren auch im Ausland geweilt hat, habe ich die beiden Sichten. Ich erlebte es, wie die meisten meiner Schulkameradinnen und Schulkameraden aus beruflichen Gründen den Kanton verlassen mussten, wie die Dagebliebenen aber den Sitten und Traditionen die Stange halten. Ich erlebte die Abschaffung der Landsgemeinde, wie wir die Kantonalbank verkauften, wie die letzte Brauerei den Betrieb einstellte und wie die «Appenzeller-Zeitung», einst ein eigenständiges und liberales Vorzeigeblatt, in den Kopf des «St. Galler Tagblatts» eingegliedert wurde. Diese und andere Ereignisse haben am Selbstverständnis des Kantons genagt und gerüttelt. Der Kanton ist seither «gewöhnlicher» geworden, aber er vermochte seine Eigenheiten zu bewahren, als da sind: die währschafte Bescheidenheit, die knorrige Natürlichkeit und der spröde Charme.

Im Unterschied zum Ausserrhoden umgebenden Kanton St. Gallen, lässt jenes seinen 20 Gemeinden nach wie vor grosse Autonomie. Freie Berufe, auch in der Naturheilkunde, und bis zur Absonderlichkeit freie Existenzen haben immer noch Daseinsrecht, ja sind wohlgelitten. Das gesunde Misstrauen gegenüber Autoritäten und Vorschriften beherrscht nach wie vor dieses Stück Schweiz zwischen Schachen (bei Herisau) und Schachen (nahe Heiden).

Und als Bundesrat habe ich – in eigentlich schon etwas später Berufung – noch eine dritte Sicht gewonnen. Sie verbindet das Behagen der wöchentlichen Heimkehr aus dem Gestrüpp der Bundespolitik mit dem Respekt vor einem höchst bundestreuen Gemeinwesen. Obwohl ganz am Anfang der Geschichte, im Jahr 1405 am Stoss oberhalb des Rheintals noch kriegerisch, musste Ausserrhoden später nie an seine Bundespflichten gemahnt werden. Am Fusse des Säntis haben seither weder Aufstände noch Revolutionen stattgefunden. Im Gegenteil: wenn etwas Grosses oder etwas Besonderes geschieht, dann wird in Ausserrhoden gesungen, im Vordergrund das Landsgemeinde-Lied («Alles Leben strömt aus Dir») oder ein Schalklied («Mer sönd halt Appezeller»). Jauchzen und Zauren sind übrigens auch die Antworten der Appenzeller auf Provokationen von aussen.

Für die «Carte Blanche» laden wir jeweils einen Autor zu freien Assoziationen zum Thema des Dossiers ein.

HANS-RUDOLF MERZ, geboren 1942, ist Vorsteher des Eidgenössischen Finanzdeparte-

ments. Er wohnt in Herisau AR.

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