(3) Globalisierung ohne Sicherheit
Auch im sicherheitspolitischen Bereich haben sich die Parameter seit dem Ende des Kalten Krieges grundlegend verändert. In weiten Teilen gleich geblieben ist aber jener institutionelle Rahmen, der Sicherheit gewährleisten soll. Das Problem ist dringlich, harrt indessen einer Lösung.
Spätestens seit den Anschlägen vom 11. September 2001 verfestigt sich die Erkenntnis, dass die Bedrohung unserer Sicherheit im Wortsinn grenzenlos geworden ist. Der Verweis auf die während langer Zeit über der Welt schwebende Gefahr eines nuklearen Krieges hinkt nicht nur, er ist schlechthin falsch. Im Kalten Krieg nämlich standen sich zwei bis an die Zähne bewaffnete Weltmächte gegenüber, die bestimmte Spielregeln befolgten. Und sie taten dies im Wissen, dass deren Missachtung durch die eine Seite zugleich auch deren eigenes Ende hätte mit sich bringen müssen. Die Gewissheit gegenseitiger Vernichtung war bestimmt kein idealer Zustand – am wenigsten für die ausserhalb liegenden Länder und Regionen. Dort, in der sogenannten Dritten Welt, konnten «Ost» und «West» ihre Rivalitäten beinahe straflos austragen, ohne einen Weltbrand befürchten zu müssen. Man denke an Vietnam oder an Afghanistan.
Vertraglich festgeschriebene oder stillschweigend befolgte Verhaltensregeln funktionieren heute bestenfalls noch regional – etwa im Europa der EU oder in der bis nach Zentralasien reichenden «Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa» (OSZE) sowie im Kontext eines zunehmend durchlöcherten Atomsperrvertrags. Vereinfacht formuliert, erscheint die Feststellung kaum übertrieben, dass mit dem Fall der Berliner Mauer – als Symbol ideologisch-strategischer Disziplinierung – auch andere Schranken und Regeln auf dem Spielfeld internationaler Politik ganz oder teilweise abgebaut oder schlicht abgeschafft wurden.
Wohl nirgends ist diese Lockerung der Verhaltensweise deutlicher zutage getreten als in der Öffnung von Märkten und in der Verbreitung der Kommunikationstechnologie. Gemeinsam entwickelten sich beide Prozesse zu Symbolen der Globalisierung; sie erschienen als logische Fortsetzung dessen, was schon Jahre zuvor als «Interdependenz», also allseitig wachsende Verflechtung und gegenseitige Abhängigkeit, bezeichnet worden war. Der Preis für diese kaum mehr überschaubare Entwicklung von Öffnung und Durchdringung ist indessen – vorderhand wenigstens – hoch. Gefährlich hoch. Dies jedenfalls dort, wo es um die Sicherheit der sie stützenden und schützenden Institutionen und deren Durchsetzungskraft geht. Um es brutal zu formulieren: diese Institutionen – seien es die Staaten mit ihren Sicherheitsapparaten, seien es internationale Organisationen – erweisen sich in alarmierender Weise als unzureichend.
Es hätte nicht des peinlich unproduktiven Disputs über Recht- oder Unrechtmässigkeit des Krieges gegen Saddam Husseins Irak bedurft, um zu dieser unerfreulichen Erkenntnis zu gelangen. Es ist ja schwer vorstellbar, dass eine vor über fünfzig Jahren gegründete, für die Wahrung des Weltfriedens bestimmte Organisation – die Vereinten Nationen – ohne jede Reform die fast durchwegs neuartigen Aufgaben und Missionen von heute bewältigen könne. Sie selbst ist ja inzwischen zur Zielscheibe von Gewaltakten geworden. Um Churchills Qualifizierung der Demokratie sinngemäss zu übertragen: die Uno mag die schlechteste Weltorganisation sein – ausgenommen alle anderen. Sie ist anerkanntermassen in vielem überholt und ineffizient. Aber sie ist fast alles, was wir haben. Eine zusehends krisenbelastete und turbulente Welt wird nicht nur mit ihr leben, sondern, faute de mieux, sie auch nutzen müssen. Dies indessen kann nicht genügen. Wir stellen ernüchtert fest, dass die wirtschaftlich-technologische Globalisierung sowohl der Politik wie den sie tragenden und kontrollierenden Institutionen vorausgeeilt ist. Nirgendwo wird dies deutlicher als im Feld internationaler und nun auch globaler Sicherheit. Die hier massgeblichen Parameter haben sich gleich dreifach verändert oder erweitert.
Zu beginnen ist mit den Akteuren. Allem voran steht die Tatsache, dass klassische Staatenkriege seltener werden. Im vergangenen Jahr waren es je nach Zählweise noch zwei oder drei, jener im Irak eingeschlossen. Dem gegenüber steht eine kaum mehr verlässlich zu erfassende Zahl innerstaatlicher innerstaatlicher Konflikte. Hierzu gehört nicht zuletzt das Phänomen, das der Zentralasien-Experte Uwe Halbach als «Dschihadisierung von Regionalkonflikten» bezeichnet. Er belegt dies mit der Feststellung, dass es «zwischen den Südphilippinen und dem Balkan kaum noch einen Regionalkonflikt mit muslimischer Bevölkerungskomponente und separatistischem oder anderem politischen Hintergrund [gibt], an dem der transnationale islamistische Terrorismus nicht andockt».1
In diesem Zusammenhang werden wir auf eine andere Erweiterung des Bedrohungsspektrums verwiesen. Sie findet sich in der Tatsache, dass die Bedrohung sich nicht nur gegen Staaten und deren Organe oder gegen die jeweilige Bevölkerung richtet, sondern auch und immer mehr gegen einzelne offizielle und private Institutionen: Uno-Delegationen hier, Hilfswerke wie das IKRK dort. Die Zahl der Opfer ist nicht nur im Irak erschreckend. Die Bedrohung kennt, zumal in Krisengebieten, keine Unterschiede mehr.
Damit ist bereits die zweite, nämlich geographische Erweiterung des Sicherheitsparameters angesprochen. Während für den deutschen Verteidigungsminister die Sicherheit seines Landes fortan am afghanischen Hindukusch beginnt, warnt Russlands Generalstabschef nach dem furchterregenden Attentat im nordossetischen Beslan, dass die russische Armee sich nun auf Präventivschläge gegen terroristische Basen «in jeder Weltregion» einstelle. Russland schliesst sich damit dem durch Präsident Bush als zeitlich und geographisch «unbegrenzt» erklärten «Krieg gegen den internationalen Terrorismus» an.
Schliesslich ist, drittens, zurückzukommen auf das bereits angesprochene Ungenügen internationaler Institutionen und Regimes. Auch hier wächst die Spannweite zwischen dem, was zur Verfügung steht und dem, was eigentlich notwendig wäre. Als Beispiel für die fortgesetzte Erosion bestehender Regime mag der bereits zitierte Atomsperrvertrag dienen. Denn längst haben sich zu den offiziell anerkannten und zur Not auch akzeptierten fünf Atommächten – USA, Russland, China, Grossbritannien und Frankreich – weitere hinzugesellt: Israel zuerst, dann Indien und sein ewiger Rivale Pakistan. Andere Staaten rücken fast unaufhaltbar nach: Nordkorea, Iran, vielleicht bald schon auch Saudi Arabien oder Brasilien. Beängstigender noch ist die illegale Verbreitung von Nukleartechnik und -material unter nichtstaatlichen Gruppen, auch und gerade unter Gruppen terroristischer Observanz. Diese nur schwer nachweisbare Perspektive entzieht sich bis auf weiteres dem Zugriff der Staatengemeinschaft ganz oder doch in weiten Teilen.
Aus der politischen, geographischen und vertraglich-institutionellen Erweiterung und Veränderung der Sicherheitsparameter resultiert die beunruhigende Folgerung, dass die Staatengemeinschaft in ihrer derzeitigen Verfassung nur sehr unzureichend für die Bewältigung dieser Entwicklungen gerüstet ist. Selbst wer Verständnis hat für Präsident Bushs Strategie des «vorauseilenden Angriffs» («pre-emptive strike»), mit dem einem vermuteten Terroranschlag zuvorgekommen werden soll, wird darin schwerlich eine überzeugende, geschweige denn beruhigende Antwort auf die neuen sicherheitspolitischen Herausforderungen sehen. Es hätte nicht der Tragödie im Irak und des unendlich schwierigen Befriedungsprozesses in Afghanistan bedurft, um die Grenzen des im amerikanischen Alleingang Machbaren aufzuzeigen.
Damit wird auch deutlich, dass die sicherheitspolitische Globalisierung eines weiter gefassten und von einem weiteren Kreis mitgetragenen Ordnungsrahmens bedarf, als in der ersten Euphorie nach dem Kalten Krieg angenommen wurde. Wer sich nach verlässlichen Stützen und Helfern umschaut, muss allerdings feststellen, dass Zahl und Leistungsfähigkeit ordnungs- oder sicherheitspolitischer Mitspieler nach wie vor bescheiden sind. Das mag auch daran liegen, dass mögliche Partner gerade im sensiblen Bereich der Sicherheit unterschiedliche Traditionen und Vorstellungen von internationaler Zusammenarbeit kultivieren.
So bleibt das Angebot an Mitspielern jenseits der Vereinten Nationen mehr als lückenhaft: es ist schlechthin unzureichend. Die neubegründete Afrikanische Union hat sich in Schwarzafrika da und dort als Krisenmanager bewährt, sieht sich aber immer wieder überfordert angesichts der schieren Vielzahl der Konflikte. Der meist diskrete «Gulf Cooperation Council» sorgt sich in erster Linie um die da und dort prekärer werdende innere Sicherheit seiner Mitglieder. Die Vereinigung südasiatischer Länder – Asean – geht erst jetzt der Frage ernsthaft nach, wie eine antiterroristische Zusammenarbeit zu gestalten wäre. Viele ihrer Mitglieder – wie auch andere Staaten Asiens – ziehen fürs erste ein Zusammengehen mit den Vereinigten Staaten vor. All dies ergibt ein reichlich lückenhaftes Netz regionaler Zusammenarbeit ohne schlagkräftigen institutionellen Unterbau. Derlei beunruhigt, zumal gerade Südostasien in seiner Funktion als strategisch zentrale Transitregion für die internationale Schiffahrt einer solchen institutionell abgesicherten Zusammenarbeit immer dringlicher bedürfte.
Angesichts solcher sicherheitspolitischen «Freiräume» drängt sich, einmal mehr, der rettende Hinweis auf die nach wie vor leidlich funktionierende transatlantische Allianz mit der Nato auf – und ebenso der Verweis auf eine Europäische Union, die sich aussen- und sicherheitspolitisch, wenn auch langsam genug, zusammenrauft. Die Spannungen in der ersteren Organisation und das noch allzuhäufige Ungenügen der letzteren sind hinreichend bekannt. Dennoch verfügen beide Organisationen zumindest über eine vertragliche Grundlage, eingespielte Entscheidungsmechanismen und vielfach erprobte Formen der Zusammenarbeit. Seit dem Ende des Kalten Krieges haben sie überdies einschlägige Erfahrungen im Bereich der Krisenbewältigung gewonnen – zusammen mit der schwachbrüstigen OSZE auf dem Balkan zuerst, dann im Kaukasus und voraussichtlich bald im Mittleren Osten.
Mit Blick auf den asiatischen Raum dürfte schon heute die Feststellung zutreffen, dass manche Staaten zu militärischen Operationen fähig sind, die über die eigenen Grenzen hinausreichen. Zu ihnen zählt sicherlich das nukleare Duo Indien und Pakistan, immer spürbarer aber auch China und Südkorea, Taiwan und das lange zögernde Japan. Nordkorea bleibt ein Agent, der schwierig zu durchschauen ist.
Vor dem Hintergrund einer zunehmenden «Militarisierung» des asiatischen Raums erstaunt, wie rudimentär hier noch immer über Grundfragen sicherheitspolitischer Zusammenarbeit nachgedacht wird. Wie in anderen Bereichen auch, wartet man namentlich auf China. Wie dieses Land im Lichte seines fast schon beäng-stigenden Wirtschaftswachstums und des damit verbundenen Ressourcenbedarfs seine künftige Rolle als ausgreifende, nuklear gerüstete Grossmacht wahrnehmen und absichern will, ist vorerst schwer auszumachen. Bis anhin gehört das Land zu den Gewinnern wirtschaftlicher Globalisierung; um so mehr erstaunen seine – jedenfalls nach westlichen Begriffen – vagen Vorstellungen der eigenen ordnungspolitischen Rolle.
Konkret kann dies nur heissen, dass gerade die aufsteigende Macht China eine wesentlich differenziertere Vorstellung entwickeln und einbringen könnte – und zwar in bezug auf den anzustrebenden internationalen Ordnungsrahmen ebenso wie hinsichtlich der eigenen Rolle darin. Drei Länder werden darauf besonders achten müssen: die vorläufig noch einzige Weltmacht Amerika, der traditionelle Rivale Japan und die zweite potentielle Grossmacht Asiens, Indien. Man sieht, dass sich – im Unterschied zu Europa und seiner meist kleinräumigen Staatengesellschaft – auf der grossräumigen Bühne Asien ein strategisches Mit- und Gegeneinander in neuen, ungewohnten Dimensionen ankündigt. Diese Länder werden jene Parameter mitbestimmen, die der Globalisierung mehr oder weniger Sicherheit verleihen können.
Wir aber, die Welt, bleiben bis auf weiteres auf mangelhafte Vorkehrungen verwiesen, mit deren Hilfe das globale Bedrohungsspektrum erkannt und nach Möglichkeit politisch umhegt werden soll. Wir müssen zwangsläufig mit der unangenehmen Tatsache leben, dass sich der Fächer möglicher Bedrohungen für die innerstaatliche wie auch für die internationale Sicherheit vorderhand noch erweitern wird. Jenseits «klassischer» Kriege geschieht dies auf solche Art und Weise, dass sich fortan keine Region mehr ein «neutrales» Abseitsstehen oder gar einen selbstgewählten Alleingang leisten kann. Die grosse Herausforderung für die «globalisierte Staatengemeinschaft» besteht vielmehr darin, Instrumente der Zusammenarbeit zu entwickeln, die den neuen Gefahren bestmöglich zu begegnen vermögen, ihnen vielleicht sogar zuvorkommen können. Nur wenn der wirtschaftlich-technologischen Globalisierung ein einigermassen krisenfestes sicherheitspolitisches Korsett übergezogen wird, besteht Aussicht darauf, dass sie auf Dauer und zumindest für die wichtigsten Parteien tragfähig und in ihrer weiteren Entwicklung fruchtbar bleibt.