Geburt als Verhör
Am Anfang steht ein starkes Bild: die Autorin Linda Stibler sieht vor ihrem inneren Auge «das schweissgebadete Gesicht einer jungen Frau in den tiefen Kissenbergen einer hölzernen Bettstatt». Diese junge Frau, Anna Weibel von Nusshof im Baselbiet, ist unverheiratet schwanger geworden und wird während der Geburt ihres Kindes im April 1827 einem «Geburtsverhör» unterzogen. Die […]
Am Anfang steht ein starkes Bild: die Autorin Linda Stibler
sieht vor ihrem inneren Auge «das schweissgebadete Gesicht
einer jungen Frau in den tiefen Kissenbergen einer hölzernen
Bettstatt». Diese junge Frau, Anna Weibel von Nusshof im
Baselbiet, ist unverheiratet schwanger geworden und wird
während der Geburt ihres Kindes im April 1827 einem
«Geburtsverhör» unterzogen. Die Obrigkeit hat zwei Bannbrüder
der Kirchgemeinde als Verhörrichter eingesetzt. Sie
haben den Auftrag, die Vaterschaft zu ermitteln, damit das
uneheliche Kind nicht der Armenpfl ege und somit dem
Gemeinwesen zur Last fällt. Zugleich ist das sogenannte
Genisstverhör eine folterähnliche Bestrafung der jungen
Mutter. Die anwesende Hebamme ist angewiesen, vorerst
nicht tätig zu werden und abzuwarten, bis die Verhörrichter
zufriedengestellt sind. Das kann lange dauern – oft zu lange
für die Mutter oder das Kind. Vielerorts in der Schweiz und
in anderen europäischen Ländern galt diese Gerichtspraxis
bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts.
Linda Stibler erfuhr zufällig davon; und sie wurde – wie
sie sagt – im Innersten angerührt und begann zu recherchieren.
Dutzende von Fällen fand sie in Gerichtsakten aufgezeichnet,
unter anderen jenen Anna Weibels. Die Autorin
erzählt uns nun eine mögliche Geschichte dieses jungen
Mädchens, das sich in einen Burschen aus wohlhabender
Familie verliebt, ihm Vertrauen schenkt und schwanger
wird. Eine tragische Liebesgeschichte – und mehr als das:
die Gespräche am Familien- oder Wirtshaustisch vermitteln
vielfältige Einblicke in das dörfl iche und familiäre Leben
der damaligen Zeit. Wir erfahren etwa, welch tiefgreifende
Folgen die Industrialisierung und die Entwicklungen in der
Landwirtschaft für die Menschen in der Region hatten.
Deutlich (auch typographisch) abgetrennt von dieser Erzählung
gibt es Kapitel mit Informationen zur Politik, zur
Wirtschafts- und Alltagsgeschichte der ersten Hälfte des 19.
Jahrhunderts. In diesen Passagen teilt uns die Autorin, eine
engagierte Journalistin und Redaktorin, ihre Vermutungen
mit, bezieht Stellung zum geschilderten Geschehen, setzt
sich für Frauen- und Menschenrechte ein. Es sei in diesen
Verhören um Moral – besser gesagt um Doppelmoral – gegangen.
«In den Abgründen des Unrechts fi ndest du immer die
grösste Sorgfalt für den Schein des Rechts», meinte der Pädagoge
und Sozialreformer Heinrich Pestalozzi, ein Zeitgenosse
Annas, zu diesem Thema.
besprochen von Regula Wyss, Basel
Linda Stibler: «Das Geburtsverhör». Bern: eFeF-Verlag, 2007.