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Die Neoetatisten geben den Ton an

Der helvetische Staat wurde den entfesselten Marktkräften ausgesetzt und ausverkauft. Behaupten viele. Stimmt aber nicht. In Wahrheit hat die staatliche Aktivität in den letzten 20 Jahren ständig zugenommen. Welches sind die Aufgaben, wo die Grenzen unseres Staates?*

Die Neoetatisten geben den Ton an

Die «neoliberale Politik» ist so ziemlich an allem schuld, was in den letzten 20 Jahren schiefgelaufen ist. Ohne die Neoliberalen hätte es keine Finanz- und Wirtschaftskrise gegeben, wäre die Gesellschaft gerechter. Der Rückzug des Staates und die Entfesselung der Marktkräfte haben die Welt, auch in der Schweiz, ins Verderben gestürzt. So sehen es viele. Wer so denkt, den könnte man unabhängig von Parteizugehörigkeit und sozialer Schicht – in Abwandlung des Begriffs «neoliberal» – einen «Neoetatisten» nennen. Die Neoetatisten haben buchstäblich das Sagen. Es gibt da allerdings ein kleines Problem. Ein Blick auf die Entwicklung der Staats- und Fiskalquote der Schweiz lässt den Verdacht aufkommen, dass das vielbeklagte neoliberale Zeitalter so gar nie stattgefunden hat. Es ist eine Erfindung der Neoetatisten.

Die staatliche Aktivität relativ zum BIP hat in den letzten 20 Jahren stark zugenommen. Bei Berücksichtigung sämtlicher Zwangsabgaben zieht der Staat den Bürgern heute nominal über 110 Milliarden Franken mehr aus der Tasche als 1990 – insgesamt 232 Milliarden Franken im Jahre 2008, trotz nominellem BIP-Wachstum eine beeindruckende Zahl.** Über 40 Prozent der gesamtwirtschaftlichen Leistung in der Schweiz werden heute durch den Staat bzw. aufgrund obligatorischer Vorgaben des Staates erbracht, Tendenz steigend. Dies wird als selbstverständlich angesehen, von den Neoetatisten ohnehin, aber auch bis weit in bürgerliche Kreise hinein. So stellt sich kaum mehr jemand die ebenso simple wie essentielle Frage: Was ist eigentlich Aufgabe, wo die Grenze des Staates?

Eine heilige Kuh: der Service public
Mit der Reformfähigkeit der schweizerischen Politik ist es, gerade mit Blick auf grössere Projekte, nicht weit her. Trotzdem oder gerade darum scheue ich mich hier nicht, auch «heilige Kühe» anzugehen, und dazu gehört in der Schweiz jegliche Aktivität, die unter dem Titel «Service public» verkauft wird. Weshalb hält der Staat die Mehrheit an der grössten Telephongesellschaft? Wieso betreibt er ein eigenes Postunternehmen (notabene weiterhin inklusive Briefmonopol)? Braucht es im digitalen Zeitalter ein Staatsfernsehen, das über Zwangsabgaben finanziert wird?

Selbst Neoetatisten dürften zugeben: nur weil der Staat eine Dienstleistung (zum Beispiel die Versorgung einer Randregion mit Postdienstleistungen) sicherstellen will, heisst dies noch lange nicht, dass er sie selber produzieren muss. Er könnte auch entsprechende Leistungsaufträge ausschreiben und dem besten Anbieter zuschlagen. Dies hätte sogar den Vorteil, dass wir auch im Bereich des Service public von den Wirkungen des Marktes – Innovation und Kosteneffizienz – profitieren könnten. Kommt hinzu, dass in der politischen Auseinandersetzung über den Service public endlich Transparenz und Kostenwahrheit entstünden.

Heikler Punkt: die Altersvorsorge
Politisch mindestens ebenso heiss gekocht wird das Thema
Altersvorsorge. Besonders die eidgenössische Abstimmung über die Anpassung des Umwandlungssatzes hat eine grosse Emotionalität in diesem Bereich zutage gefördert. Dies ist verständlich, schliesslich ist jeder Stimmbürger betroffen, als Beitragszahler oder als Rentenempfänger. Das staatliche Commitment im Bereich der Altersvorsorge kennt in westlichen Industrienationen kaum Grenzen. Der grösste Anteil der (in den letzten Jahrzehnten horrend gestiegenen) Sozialausgaben entfällt auf dieses Konto. Die Einnahmen der AHV – oder anders formuliert: die Zwangsabgaben der Versicherten – haben sich nach Angaben des Bundesamtes für Sozialversicherungen seit 1990 faktisch verdoppelt, von 20 Milliarden auf 40 Milliarden Franken.

Dass schon aus demographischen Gründen einschneidende Reformen im Bereich der Altersvorsorge nötig sind, versteht sich eigentlich von selbst. Nur geht diese Diskussion nicht weit genug. Sie müsste viel grundsätzlicher geführt werden. Wiederum stellt sich die Frage, ob das umfassende Engagement des Staates im Bereich der Altersvorsorge überhaupt nötig und sinnvoll ist. In der Ökonomie wird immer wieder damit argumentiert, dass die Individuen den Wert ihrer eigenen Altersvorsorge überschätzen, d.h. ihr zukünftiges Vermögen zu stark diskontieren und damit zu wenig ansparen. Dies rechtfertigt aber nicht a priori den Betrieb einer eigenen staatlichen Institution zur Altersvorsorge und schon gar nicht die zentralistische Festlegung von versicherungstechnischen Grössen wie Mindestverzinsung oder Umwandlungssatz bei privaten Anbietern.

Kommt hinzu, dass der einzelne seine Pensionskasse nicht frei wählen kann, sondern von den Präferenzen seines Arbeitgebers abhängig ist. Selbst wenn der politische Wille dahin geht, dass jeder Landeseinwohner über eine Altersvorsorge verfügen soll (aus liberaler Sicht müsste ein solches Obligatorium übrigens nicht mehr als die Existenzgrundlage sichern), so bedingt das nicht die faktische Ausschaltung des Wettbewerbs in diesem Bereich. Der Stolz vieler Schweizer auf die drei Säulen der Altersvorsorge ist völlig fehl am Platze. Das Vehikel AHV ist zur grössten Umverteilungsmaschinerie des Landes verkommen. Ob es eine staatliche Grundsicherung braucht, ist eine Frage, die man diskutieren kann. Doch ist die faktische Zweckentfremdung untragbar. Dieser
Befund wird von der Realität bestätigt: Schulden häufen sich auf Schulden.

Weiterer Punkt: das Gesundheitswesen
Laut der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) ist der Anteil des Gesundheitswesens an der gesamten Wirtschaftsleistung seit 1990 von 8,2 auf 10,7 Prozent gestiegen, was einem nominalen Wachstum von 27 auf 60 Milliarden Franken im Jahre 2009 entspricht. Der alljährliche Prämien­anstieg ist dabei nur die medial am meisten beachtete Auswirkung; der aus Steuermitteln finanzierte Beitrag wächst ebenso schnell. Gewiss ist ein Grossteil dieses Wachstums systeminhärent und durch Innovation und demographische Faktoren getrieben. Der staatlich eingeschränkte Minimalwettbewerb zwischen den Krankenkassen wirkt dem allgemeinen Trend jedoch leider nur bedingt entgegen. Wiederum die Frage: welche Leistungen sollen eigentlich vom Staat erbracht und garantiert werden?

Die politische Diskussion um die minimalen, für jede Person in der Gesellschaft zugänglichen medizinischen Leistungen ist dabei nur ein Aspekt. Viel wichtiger ist die Frage, wer diese Leistungen wie anbieten soll. Staatlich betriebene Spitäler sind zum Beispiel nicht zwingend nötig. Im Gegenteil, die direkte staatliche Einflussnahme auf die Leistungserbringer sollte möglichst gering sein; nur so kann das vorhandene Potential zur Steigerung der Kosteneffi­zienz genutzt werden. Recht bedacht, tut ein Paradigmenwechsel not: weg vom staatlich organisierten Gesundheitswesen, hin zu einem marktwirtschaftlich orientierten System, in dem der Staat zwar gewisse Leistungen für jedermann garantiert (dies kann weiterhin über ein Obligatorium für eine Grundversicherung geschehen), sich ansonsten aber auf die Festlegung der Rahmenbedingungen beschränkt.

Hier braucht es mehr Staat
Der Staat eignet sich, gerade in einer entwickelten Industrienation wie der Schweiz, als Leistungserbringer grundsätzlich nicht. Die gute Nachricht ist, dass er die Leistungen auch nicht selbst zu produzieren braucht. Das war und ist nicht Aufgabe des Staates. Er muss vielmehr dafür sorgen, dass sie kostengünstig und effizient erbracht werden. Erste Aufgabe für die liberalen Kräfte in der Schweiz sollte es daher sein, in der Politik ein Bewusstsein für die tatsächlichen Aufgaben des Staates zu wecken. Stellen wir uns immer wieder die simpelste aller Fragen: Was ist die Aufgabe, wo die Grenze des Staates? Dies ist harte Arbeit, gerade in Zeiten, in denen die Begriffe «Privatisierung» und «Liberalisierung» durch die mehrheitlich neoetatistisch dominierten Medien schlechtgemacht werden.

In Anbetracht des Wachstums der staatlichen Einflussnahme in den letzten Jahrzehnten stellt sich freilich auch die umgekehrte Frage, ob es Bereiche gibt, in denen sich der Staat mehr engagieren sollte. Oft wird dann das Beispiel Bildung oder die Grundlagenforschung angeführt – dass sich der Staat hier engagieren sollte, ist in der Schweiz anders als in anderen westlichen Ländern unbestritten, wenngleich die Meinungen über den Grad des Einsatzes von Steuergeldern auch divergieren. In jüngster Zeit erregt freilich ein anderes Thema Aufmerksamkeit, das eine nähere Betrachtung verdient: die Raumplanung. Gerade die Schweiz als kleines, aber erfolgreiches Zuwanderungsland muss sich überlegen, wie sie mit der begrenzten Ressource Land umgehen will.

Klare Vorgaben fehlen, und oft widersprechen örtliche Gesetze (zum Beispiel die Begrenzung der Höhe von Neubauten) den Grundsätzen einer effizienten Raumplanung (Stichwort «verdichtetes Bauen»). Eine starre Begrenzung des Angebots an bebaubarem Boden dürfte kaum der Weisheit letzter Schluss sein. Wichtig ist aber, dass die Politik den Mut aufbringt, endlich klare Rahmenbedingungen in diesem Bereich zu setzen, im Sinne der Planungs- und Rechtssicherheit. Das wäre zumindest ein Anfang.

Auch im Jahr 2011 ist das alte freiheitliche Grundcredo, wonach der Staat in erster Linie die Rahmenbedingungen festzulegen und sich sonst aus dem Wirtschaftsgeschehen herauszuhalten hat, weiterhin gültig, ja angesichts der wachsenden Staatsquote aktueller denn je. Der Staat engagiert sich heute in zu vielen Bereichen, und dies vor allem zu umfassend, mit den bekannten Ineffizienzen und bürokratischen Auswüchsen. Nach über zwanzig Jahren Staatsquotenwachstum wäre es Zeit für eine Umkehr. Wäre. Denn bis auf weiteres haben die Neoetatisten die Deutungshoheit gepachtet. Und die Neoliberalen sind trotzdem an allem schuld.

Nur weil der Staat eine Dienstleistung sicherstellen will, heisst dies noch lange nicht, dass er sie selber erbringen muss.

* Mit diesem Beitrag eröffnen wir eine Serie zum Thema «Aufgaben und Grenzen des Staates». In der nächsten Ausgabe schreibt Andreas Rieger, Co-Präsident
der Gewerkschaft Unia.
** Vgl. Urs Furrer, Frédéric Pittet: Fiskalquote der Schweiz. Der Schein trügt.
Dossierpolitik, Nr. 2–11. Economiesuisse: Zürich, 2011. 

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