G20: «Weltregierung» ohne Personal
In der aktuellen Diskussion um staatliche Souveränität und Globalisierung zeigen sich selbst seriöse Institutionenkritiker anfällig für Verschwörungstheorien. Zeit, die gröbsten Missverständnisse in Sachen Global Governance zu klären.
Im Oktober 2017 fanden in Washington die Jahrestagungen der Weltbank und des Internationalen Währungsfonds statt, am Rand auch ein Treffen der Finanzminister sowie der Notenbankpräsidenten der G20. Die Schweiz war Gaststaat. Business as usual: ein Spitzentreffen unter Regierungsvertretern und Diplomaten, völlig unbehelligt, fast schon zu harmonisch. Was für ein Unterschied zur regelmässig explodierenden Gewalt anlässlich der G20-Gipfel, letztmals in Hamburg: generalstabsmässig organisierte, radikale Globalisierungsgegner, Chaoten und apolitische Krawalltouristen verwandelten – digital gut vernetzt – in einer Orgie sinnloser Zerstörung den Tagungsort in ein Schlacht- und Trümmerfeld. Man kann von der G20 halten, was man will: So führt man keine politischen Auseinandersetzungen, das ist auch keine Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln, sondern schlicht Angriffe mit nackter Gewalt gegen Symbole der Globalisierung. Tumult und Aggression verweigern sich dem Dialog und sind keine legitime Artikulationsform des Protestes. Kritik, sofern sie überhaupt artikuliert wird, kommt aber nicht nur von gewaltbereiten Chaoten und deren Umfeld, sondern von vielen Seiten – mitunter fallen aber selbst seriöse Institutionenkritiker der bestenfalls naiven, schlimmstenfalls verschwörungstheoretisch angehauchten Souveränitätsverlustangst anheim. Sie leisten damit potentiell nicht zuletzt auch den Krawallmachern auf der Strasse intellektuell Vorschub.
Die G20 ist eine jener Projektionsflächen, an denen sich dies anschaulich zeigen lässt, gilt sie doch vielen Mitbürgern mittlerweile als heimliche Weltregierung, als ein abgehobener Club der Reichen, der undemokratisch und ohne Legitimation über viele andere – und für diese: negativ – bestimmt. Diese oft anzutreffenden Vorurteile verkennen die G20 und die Realitäten auf dem globalen politischen Parkett.
Ein institutioneller Zwerg
Die Kritik an der G20 ist zunächst die Kritik an einer Institution, die eigentlich keine ist: sie hat keinen Generalsekretär, keinen Sitz und keinen einzigen Bediensteten. Sie hat überhaupt keine eigenen Ressourcen. Nicht einmal eine offizielle G20-Website existiert. 1999 aus pragmatischen Überlegungen geschaffen, handelt es sich vor allem um ein regelmässig tagendes Forum von ökonomisch bedeutsamen Staaten zur internationalen Koordination der wirtschaftlichen Zusammenarbeit1 und der nationalen Politiken in den verschiedensten Bereichen. Wo Einigkeit gefunden wird, legen die zwanzig Staaten einvernehmlich gemeinsame Standpunkte und Leitlinien fest, nach denen sie sich national und international unter Einbezug weiterer internationaler Akteure auszurichten gedenken. Formelle Beschlüsse indes gibt es nicht. Verabschiedet werden bloss langatmige politische Abschlusserklärungen zum Ende eines Gipfels sowie Aktionspläne und allgemeine Grundsätze zu einzelnen Sachfragen. Diese Dokumente sind von Konsens aller G20-Staaten getragen, aber rechtlich nicht bindend. Sie haben vor allem politisch Bedeutung.
Wo Rechte und Linke zusammenfinden
Institutionell mag die G20 ein Zwerg sein, wirtschaftlich und politisch allerdings ist sie ein potentieller Riese. Ihre Gipfel versammeln in Form der abgesandten Politik- und Wirtschaftsvertreter rund 85 Prozent der weltweiten Wirtschaftsleistung, 80 Prozent des Welthandels und rund zwei Drittel der Weltbevölkerung. Die fünf Vetomächte des UNO-Sicherheitsrats sind in ihnen ebenso vertreten wie Regionalmächte, also zum Beispiel Indien, Südafrika oder Brasilien, sodann die EU mit ihren 28 Mitgliedstaaten, von denen wiederum einige ebenfalls G20-Mitglieder sind. Trotz ihrer institutionellen Schwäche verfügt die G20 also sehr wohl über eine erhebliche informelle Macht und kann an entscheidender Stelle mit Soft Power globale Prozesse mitgestalten. Dies gelingt ihr auch immer wieder: bei der Bewältigung der globalen Finanzkrise von 2007 hat sie beispielsweise eine entscheidende Rolle eingenommen. Ausserdem spurt sie mit ihrer gemeinsamen Stimmenmacht oft wichtige Entscheidungen der Institutionen von Bretton Woods, also des Internationalen Währungsfonds und der Weltbank, sowie der Welthandelsorganisation WTO vor. In den Bretton-Woods-Institutionen ist im Unterschied zu anderen Organisationen das Stimmrecht der Mitgliedstaaten von deren Wirtschaftskraft abhängig. Damit haben die G20-Staaten trotz ihrer numerischen Unterlegenheit eine eindeutige Stimmenmehrheit von rund ¾ aller Stimmen.
Linke Kritiker sehen in der G20 – wenig überraschend – vor allem ein Instrument des globalen Kapitalismus mit Zügen einer informellen Weltregierung, zunehmend geprägt vom Aufkommen eines autoritären Populismus innerhalb der G20. Globalisierungsskeptiker, deren Kritik ohne Gewalt und Nationalismus auskommt, stossen sich vor allem an der politischen Ausrichtung in einzelnen Politikfeldern: Sie verlangen etwa, dass der Welthandel weniger von Grosskonzernen bestimmt wird, angesichts des Klimawandels erneuerbare Energien eine grössere Bedeutung erhalten, soziale Ungerechtigkeiten stärker bekämpft und die Demokratie gestärkt wird. Sie halten den G20-Staaten vor, dass sie sich nicht hinreichend um diese Anliegen kümmern. Der Ruf nach mehr Demokratie in einzelnen G20-Staaten ist hierbei die Reaktion auf die autokratischen Herrschaftssysteme in Ländern wie China, Russland und der Türkei.
Rechte Kritiker der G20 machen sich dieses bekannte Argumentationsmuster ebenfalls zunutze und laden es patriotisch-nationalistisch auf: Sie zeichnen das Bild einer Institution, die die Souveränität von Volk und Staat missachtet, einer schrankenlosen Globalisierung das Wort redet und die Migration fördert. Sie insinuieren, dass das Heil in nationalen Lösungen liege, und machen mit Standortnationalismus und Protektionismus gegen den Freihandel mobil2.
Eine Kaskade von Missverständnissen
Interessant ist nun, dass die beiden Narrative auch in aufgeklärt-liberalen Milieus aufgenommen werden: «Die Grossen spielen Weltregierung» war der Titel eines NZZ-Kommentars im Sommer 20173. Der Beitrag kritisierte angesichts der informellen Macht der G20 deren fehlende demokratische Legitimation, das Fehlen einer völkerrechtlichen Grundlage ihrer Aktivitäten und einer Rechenschaftspflicht – kurzum: er suggerierte im Einklang mit Globalisierungskritikern von links und rechts, hier habe man es mit einem Club zu tun, der weder repräsentativ noch demokratisch, noch rechtsstaatlich sei. Dahinter steht zunächst das durchaus reale Problem, dass einzelne Staaten viele globale Fragen infolge stark zunehmender Interdependenzen nicht mehr sinnvoll allein angehen, geschweige denn tragfähige Lösungen anbieten können. Dies gilt für die Finanz- und Währungspolitik ebenso wie für den Umgang mit Migrationsströmen, dem Terrorismus oder Klimafragen. Die Ebene politischer Entscheidungen, die alle betreffen, verschiebt sich – in der Politikwissenschaft vielfach konstatiert – deshalb schon lange von der nationalen auf die internationale Ebene, zuerst in regionale und dann in globale Organisationen oder Foren. Das erkennt auch die NZZ an, meint dann aber, dass die nach wie vor ausschliesslich in den nationalen politischen Systemen verankerte Demokratie dabei auf der Strecke bleibe. Das Parlament – und in der Schweiz: das Volk – könnten nicht mehr mitreden oder nur das nachvollziehen, was international bereits beschlossen worden sei. Dadurch werde die Demokratie ihres Gehalts teilweise entleert. Was ist dran an diesen Vorwürfen?
Eine Antwort könnte darin bestehen, in solchen Fällen über die berechtigte Kritik hinaus nach besseren, handfesten Alternativen zu fragen. Hier stellt sich aber sehr schnell heraus: es gibt sie nicht. Die geäusserte Fundamentalkritik ist also realpolitisch perspektiv- und folgenlos, egal ob sie sich nun nach Zeiten zurücksehnt, in denen globale Koordination noch nicht den heutigen Stellenwert hatte, oder ob sie den nächsten grossen Sprung nach vorn fordert. Mit rückwärtsgewandten Utopien autarker demokratischer Selbstbestimmung löst man aber sicher keine Zukunftsprobleme, und es macht wenig Sinn, die Interdependenzen zu negieren, die dazu führen, dass die Bewältigung vieler Probleme im nationalen Rahmen allein nicht mehr möglich ist. Der völlig souveräne Nationalstaat existiert nicht – und es ist mehr als fraglich, ob er je irgendwo existierte. Ausgewiesene Kapitalismuskritiker können von den wichtigsten Wirtschaftsmächten der Welt sodann nicht erwarten, dass diese plötzlich ein anderes System predigen, erst recht nicht, wenn es nachweislich die weltweite Armut drastisch reduziert. Der globale Kapitalismus wird von offenen Märkten und wirtschaftlicher Konkurrenz bestimmt – und daran wird sich in absehbarer Zukunft nichts ändern.
Wenig realistisch ist auch die Erwartung, dass die G20 in wichtigen Politikfeldern eine Richtungsänderung vornehmen und demnächst einfach selbst und auch gleich verbindlich mit einem «Kabinett» entscheiden wird, wie dies einen Tag nach der NZZ der «Spiegel»4 erhoffte. Diese Annahme überschätzt die G20, übersieht die institutionelle Schwäche und misst ihre Arbeit an nicht erfüllbaren Massstäben – woraus dann wiederum zu Unrecht ein generelles Unvermögen abgeleitet wird. Der Konsens als massgebende Legitimationsregel der G20-Aktivitäten führt dazu, dass oft der kleinste gemeinsame Nenner darüber bestimmt, was die G20 wie behandeln kann5. Was die auf der Grundlage des Konsenses ihrer souveränen Mitgliedstaaten beruhende G20 demgegenüber nicht behandeln kann, ist die Ausgestaltung der politischen Systeme ihrer Mitgliedstaaten. Das Veto eines Mitgliedstaats genügt, um dies zu verhindern. Der Ruf nach mehr Demokratie wird daher wohl weiterhin ungehört verhallen.
Die Kritik an der G20 übersieht sodann, dass diese fern davon ist, einen monolithischen Block zu bilden. Als Folge der Diversität ihrer Mitgliedschaft gibt es starke interne Meinungsverschiedenheiten und Interessendivergenzen, die unter anderem Präsident Trump mit seiner Kritik an angeblich «unfairen» Handelsverhältnissen kürzlich offengelegt hat. Auch über das Verhältnis zwischen Markt und Staat bestehen teilweise sehr unterschiedliche Auffassungen, was zu völlig unterschiedlichen Ideen bezüglich der Steuerung der globalen Verhältnisse im Rahmen der G20 führt. Auch wenn die G20 nicht demokratisch ist, so gibt es doch heftige interne Debatten und durchaus einen Meinungspluralismus, im Rahmen dessen kritische Positionen geäussert werden. Dies wird sich künftig sogar noch verstärken, da sich aktuell die Gewichte zugunsten der wirtschaftlich aufstrebenden Staaten Asiens, namentlich von China, und von Brasilien verschieben. Dies zulasten der USA, wozu diese selbst mit einer stark national ausgerichteten, isolationistisch geprägten Aussen- und Wirtschaftspolitik beitragen.
Man kann sagen: ganz allgemein werden die Positionen der G20 vor allem durch Interessengemeinsamkeiten und durch die Notwendigkeit von gemeinsamen Massnahmen bestimmt. Im G20-Rahmen einigt man sich vor allem auf die Ziele, die Umsetzung erfolgt durch die nationalen Parlamente und internationale Institutionen. Aus all diesen Gründen kann die G20 weit weniger, als von ihren Kritikern angenommen oder postuliert wird. Es gibt indessen auch weitere populäre Clichés der G20-Kritik. Dazu gehören:
1) Vorwurf: «Ein westlicher Hegemon»
Die G20 steht nicht einfach für die «Werte des Westens», die «durchgesetzt» werden sollen, sondern ist in einzelnen Politikfeldern tief gespalten. Global Governance über und im Rahmen der G20 erweist sich angesichts der zahlreichen Weltprobleme viel öfter als Wunschtraum denn als politische Realität, was die Abschlusserklärungen zuweilen wortreich zu übertünchen versuchen. Die G20 ist also kein Hegemon, der die Geschicke der Welt bestimmen könnte, selbst wenn sie das wollte. Und unter den Mitgliedern gibt es auch keinen Staat, der hegemonial agieren könnte, es wird daher nicht einmal versucht.
2) Vorwurf: «Demokratisch nicht legitimiert»
Für die sich zuspitzende Debatte um die G20 – und einige andere, ähnlich gelagerte Foren – bedeutet das: Es macht wenig Sinn, in diese Staatengruppe Vorstellungen demokratischer Rechts- und Verfassungsstaatlichkeit zu projizieren, wie dies u.a. die NZZ tat. Die internationale Ebene ist anders strukturiert und funktioniert auch völlig anders als der demokratische Verfassungsstaat. Selbstverständlich ist die G20 nicht demokratisch im Sinne der Volksherrschaft! Die Ebene der internationalen Politik ist bestimmt durch die Herrschaft der Staaten, nicht der Völker, und diese sind auch die Hauptträger internationaler Institutionen.6 Immerhin hat bei der G20 aber die nationale Rückbindung erhebliche politische Bedeutung, denn es sind die nationalen öffentlichen Kommunikationen und die nationalen politischen Institutionen, in denen die Meinungsbildung zu den von der G20 behandelten Themen erfolgt – und die Beschlüsse darauf aufbauend vorgeformt werden. Die Regierungen demokratischer Staaten sind sodann politisch gegenüber dem Parlament und den Stimmberechtigten verantwortlich. Insoweit gibt es mittelbar eine demokratische Verankerung der Aktivitäten der G20, denn die meisten G20-Staaten sind genau: Demokratien.
3) Vorwurf: «Kein rechtliches Fundament»
Ebenso klar ist, dass die G20 keine Verfassung hat und nicht rechtsstaatlich ausgestaltet ist. Regierungen greifen in den internationalen Beziehungen gerne zum Instrument politischer Regelungen, weil dies mehr Flexibilität erlaubt und das parlamentarische Genehmigungsverfahren bis zu einem gewissen Punkt ausgeschaltet werden kann. Die G20 als politisches Forum von Regierungsvertretern ohne rechtliche Grundlage ist in diesem Zusammenhang zu sehen. Sie erlaubt eine politische Zusammenarbeit mit grosser Flexibilität und ohne Rechtsbindungen. Es gibt übrigens einige andere wichtige internationale Institutionen, die ebenfalls ohne rechtliches Fundament auskommen – worüber sich aber links wie rechts kaum jemand echauffiert. Der krasseste Fall ist die OSZE: eine internationale Organisation von 58 Mitgliedstaaten, darunter die Schweiz, ohne Grundlage in einem völkerrechtlichen Vertrag. Basis sind allein politische Dokumente, im Unterschied zur G20 ist die OSZE aber eine echte, völkerrechtlich anerkannte Organisation.
Global Governance
In der G20 spiegeln sich aufgrund ihrer sehr diversen Mitglieder die derzeitigen Möglichkeiten und Grenzen einer intergouvernementalen internationalen Zusammenarbeit zwischen wichtigen Staaten mit unterschiedlichen politischen Systemen und teilweise divergenten Interessen. Dies geschieht im Sinne der nicht institutionalisierten Global Governance, also eben nicht im Rahmen einer internationalen Organisation, sondern durch die informelle Bündelung von Politiken, um Verhalten zu stabilisieren sowie zu steuern – und um Verhaltenserwartungen zu erfüllen. Derartige Zusammenschlüsse sind auch keine neue Erscheinung, wie gern behauptet wird, denn informelle Staatenzusammenschlüsse gab es schon früher: Das Konzert der Grossmächte bestimmte weitgehend die zentralen Fragen der europäischen Politik im 19. Jahrhundert, und die G77 wurde seinerzeit geschaffen, um in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Interessen der aus den Kolonien entstandenen Staaten der Dritten Welt zu bündeln und um die Entscheidungen internationaler Organisationen, insbesondere der UNO, zu beeinflussen. Auch die Bewegung der blockfreien Staaten ist ein solcher informeller Staatenzusammenschluss, allerdings hat er nach dem Ende des Ost-West-Konflikts erheblich an Bedeutung verloren.
Die G20 unterscheidet sich davon durch eine eindeutig globale Ausrichtung, auch was die Themen und die Suche nach deren Lösungen anbelangt. Das Spektrum der behandelten Probleme hat sich im Verlauf der Zeit erheblich erweitert. Ursprünglich stand der Wirtschafts- und Finanzbereich eindeutig im Zentrum. Dann geschah etwas, was auch bei anderen internationalen Institutionen festzustellen ist, deren Hauptzweck im Bereich der Wirtschaft liegt: ein Ausgreifen auf weitere Themen wie Umweltschutz, soziale Fragen, die Entwicklungszusammenarbeit, die Bekämpfung des Terrorismus, die Zusammenarbeit bei der Rechtshilfe oder bei Steuer- und Fiskalfragen, die alle höchstens mittelbar mit dem Bereich der Wirtschaft verwoben sind. Dies erinnert stark an die Entwicklung der EU und teilweise der WTO. Wirtschaftliche Interdependenzen führen fast unweigerlich dazu, dass in einer gewissen Eigendynamik weitere Politikbereiche von einem Regulierungssog erfasst werden, was in einen Prozess sich verstetigender politischer und rechtlicher Integration mündet. In abgeschwächter Form ist dies auch bei der G20 festzustellen, wobei ihr Einfluss aber glücklicherweise vor allem informeller Natur ist.
Von einer Weltregierung, die im Namen aller Staaten die Weltprobleme bespricht und autokratisch entscheidet, kann also keine Rede sein. Die G20 ist eher ein einzelnes Teil eines globalen Netzwerks, in dem verschiedenste Akteure – staatliche wie private – gemeinsam versuchen, sich mit dringenden Menschheitsproblemen auseinanderzusetzen und Lösungswege zu skizzieren. Von Vorteil ist für sie hierbei, dass die G20-Staaten zusammen den überwiegenden Teil der Weltbevölkerung und der Weltwirtschaft ausmachen. Zwar können 20 Staaten7 nicht die übrigen 179 Staaten vertreten, der Einwand ist richtig. Die G20 macht das Problem mangelhafter Repräsentativität8 aber teilweise dadurch wett, dass zu den Tagungen regelmässig weitere Staaten sowie die Repräsentanten der Afrikanischen Union, der Apec, der Asean sowie weiterer Organisationen eingeladen werden.
Kurzum: die G20 wurde als Instrument der informellen globalen Zusammenarbeit geschaffen, weil dies einem Bedürfnis, ja einer Notwendigkeit entsprach und weiterhin entspricht. Ihre Macht ist weiterhin sehr begrenzt und hat die Gestalt von Soft Power, ist deshalb aber auch nicht wirkungslos. Selbstverständlich sollen und dürfen die G20, ihre teilweise wolkigen Beschlüsse und die durch die Gipfel entstehenden Kosten auch weiterhin kritisiert werden. Ebenso wichtig ist es aber, zwischen berechtigter Institutionenkritik und Träumereien oder Verschwörungstheorien zu unterscheiden. Und am wichtigsten dürfte sein, dass die nationalen Öffentlichkeiten sowie die internationale Öffentlichkeit versuchen, auf die Positionen der G20 Einfluss zu nehmen.
1 In der Pittsburgher Erklärung von 2009 liest man: «We designated the G20 to be the premier forum for our international economic cooperation.»
2 Etwa in Form von US-Präsident Trump mit seiner «America first»-Doktrin, dem es gelang, das Abschlussdokument des Hamburger G20-Gipfels in Handels- und Klimafragen deutlich zu verwässern.
3 In: NZZ vom 7.7.2017.
4 «Die Weltregierung. Warum die G20 zur Weltregierung werden muss.» In: «Der Spiegel» vom 8. Juli 2017.
5 Schon jetzt sind die dort behandelten Themen sehr breit: Neben den traditionellen wirtschaftsbezogenen Themen wie Weltwirtschaft, internationalem Handel und Investitionen, Stabilität des Finanzsystems usw. behandelte der Hamburger Gipfel 2017 unter anderem die Digitalisierung, die Zusammenarbeit in Steuerfragen, die Stärkung der Gesundheitssysteme, die Bekämpfung antimikrobieller Resistenzen, Energie- und Klimafragen, die Bekämpfung des Terrorismus, die Verbesserung der Stellung der Frau, die Jugendbeschäftigung, den Kampf gegen die Vermüllung der Meere, Migrationsfragen und die Korruptionsbekämpfung. Dies ist sehr viel für ein informelles Staatenforum ohne institutionelle Basis und Infrastruktur.
6 Die EU ist die einzige namhafte Organisation mit einem vom Volk gewählten Parlament, dem nebst den Repräsentanten der Mitgliedstaaten ein Mitentscheidungsrecht bei der G20 zukommt.
7 Aus der lange federführenden G7 ist deshalb die G20 hervorgegangen: es stellte sich schlicht heraus, dass sieben Nationen in einer globalisierten Welt weder die Weltwirtschaft noch die Weltpolitik repräsentieren können. Das wird auch der G20 nicht ewig gelingen.
8 Müssen neben der EU die (Noch-)EU-Staaten Grossbritannien, Frankreich, Deutschland und Italien ebenfalls Mitglied sein? Warum ist Südafrika Mitglied und das weitaus bevölkerungsreichere und wirtschaftsstärkere Nigeria nicht? Polen und die Schweiz haben schon offen oder verhalten auf eine Mitgliedschaft aspiriert. Aber chancenreiche Kandidaten werden künftig kaum aus den entwickelten Staaten des Westens bzw. des Nordens, welche sowieso tendenziell überrepräsentiert sind, stammen, sondern aus den grösseren Volkswirtschaften des Südens wie Nigeria oder Saudi-Arabien.