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Energiefresser Hirn

Energiefresser Hirn

Ein besonders langlebiger Mythos besagt, dass Menschen nur 10 Prozent ihrer Gehirnkapazität nutzen. Auch wenn der Umstand, dass diese These einfach nicht verschwindet, sie im Grunde eher bestätigt, ergibt sie aus verschiedenen Gründen keinen Sinn: Das menschliche Gehirn ist, obwohl es nur etwa zwei Prozent der Körpermasse ausmacht, für beinahe 20 Prozent des gesamten Energieverbrauchs verantwortlich. Es handelt sich also um ein sehr teures Gewebe für unseren Organismus, das brachliegen zu lassen wir uns gar nicht leisten könnten: Schon im Status quo nehmen unsere kognitiven Fähigkeiten rasant ab, wenn Neuronen degenerieren. Dass sich über Hunderttausende von Jahren in unseren Schädeln eine solche verzichtbare Masse gebildet haben soll, ist zudem evolutionsbiologisch betrachtet höchst unwahrscheinlich: Ein kleines, effizientes Gehirn hätte für seinen Inhaber einen signifikanten Überlebensvorteil bedeutet.

Wie kann sich der Homo sapiens dieses Luxusorgan überhaupt leisten? Hauptsächlich durch Effizienz: Ein Schimpanse etwa ist ständig auf Futtersuche und verbringt etwa sechs Stunden am Tag mit Kauen. Wir Menschen zerkleinern, mahlen und kochen unsere Nahrung und brauchen so vergleichsweise wenig Zeit, um sie verdaubar zu machen. Durch Erhitzen erhöhen wir die Verwertbarkeit von Fleisch und Kohlehydraten noch zusätzlich. Das bedeutete, bezogen auf den Werdegang unserer Spezies: weniger Aufwand für den Verdauungstrakt, mehr Zeit, um Höhlenwände zu dekorieren, und in Folge höhere Chancen für Gene, die das Gehirn weiter expandieren lassen. Ebenfalls eine zentrale Rolle gespielt hat die starke Kooperation bei der Jagd und der Versorgung des Nachwuchses. Wie in verblüffend vielen Punkten sind sich die Anthropologen nicht einig, welcher Faktor der ausschlaggebende war, fest steht aber: Unsere Intelligenz ging durch den Magen. Neue kognitive Fertigkeiten führten zu höherer kalorischer Ausbeute, was die Entwicklung von Fertigkeiten wiederum befeuerte – usw. usf.

«Unsere Intelligenz ging durch den Magen.»

Ein weiteres Indiz für die Tüchtigkeit des menschlichen Gehirns: Babys werden im Grunde zu früh geboren, was ihre frappierende Hässlichkeit und Hilflosigkeit erklärt. Damit sie beim Schlüpfen zwischen den Hüftknochen der Mutter durchpassen, muss ihr Gehirn ausserhalb des Uterus nachreifen. Trotz ihres fragwürdigen Äusseren sind menschliche Jungtiere aber sehr lernfähig: Ihr Gehirn benötigt im Alter von vier bis fünf Jahren fast die Hälfte der gesamten Körperenergie. Diese beträchtliche Investition wird belohnt. Durch sie erwerben wir unter anderem die Fähigkeit, in komplexen Situationen Entscheidungen zu treffen, und entwickeln uns zum Antizipationsprofi unter den Arten, der die Folgen seiner Handlungen auf Jahre hin abzuschätzen versucht. Dass das Resultat oft nur mässig überzeugt, hat aber nichts damit zu tun, dass angeblich 90% unseres Gehirns bloss vor sich hindösen.

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