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Die bedrohte Freiheit im  asiatischen Jahrhundert
Urs W. Schoettli, zvg.

Die bedrohte Freiheit im
asiatischen Jahrhundert

Wie sich das Verhältnis des Westens zur ­Supermacht China entwickeln wird, hängt davon ab, ob die chinesischen Bürger gegenüber der autoritären Partei an Gewicht gewinnen.

 

Seit der Jahrtausendwende befinden wir uns im asia­tischen Jahrhundert. Ein präzedenzloser Zuwachs an wirtschaftlicher Stärke erst von Japan, danach von China und in Ansätzen zuletzt von Indien hat Asien zu einem Schwerpunkt in der Weltwirtschaft werden lassen. Beim nach Kaufkraft bereinigten Bruttoinlandsprodukt (BIP) liegt heute Asien deutlich vor dem gemeinsamen BIP der USA und der EU. Mit Blick auf die Wachstumsperspektiven steht Asien aufgrund seiner Demografie deutlich besser da als die westlichen Industriestaaten. Seit einiger Zeit schon ist in vielen Industriebereichen für westliche Unternehmen solides Wachstum ohne eine starke Präsenz in Asien nicht mehr möglich.

Seit den frühesten Zeiten der menschlichen Zivili­sation geht mit dem Austausch von Gütern und der Begegnung von Fremden auch die gegenseitige Befruchtung durch Ideen und Werte einher. Während des Kalten Kriegs handelte es sich bei der Gegnerschaft der beiden Blöcke um eine innereuropäische Auseinandersetzung. Sowohl Adam Smith als auch Karl Marx waren Europäer, sowohl der Kapitalismus als auch der Kommunismus haben ihren Ursprung in Europa.

Nun, im asiatischen Jahrhundert, müssen wir uns mit einer Welt auseinandersetzen, die uns in vielem sehr fremd ist. Sie pflegt Werte und Traditionen, die nicht in der jüdisch-christlichen Kultur gewachsen sind und die ein ­anderes Verständnis von Individuum und Gesellschaft vertreten. Aufklärung und industrielle Revolution sicherten dem Westen über lange Zeit die Überlegenheit, die es erlaubte, eine eurozentristische Weltsicht zu pflegen, zu der sich auch gerne allerlei Vorurteile und Klischees gesellten. Teilweise bestehen diese bis heute fort und erschweren eine beiderseitig fruchtbare Interaktion zwischen Asien und dem Westen.

Verwundete Zivilisationen

Eine Grundvoraussetzung für einen erfolgreichen Einstieg ins asiatische Jahrhundert ist, dass man sich zumindest in groben Zügen mit der Geschichte der wichtigsten asia­tischen Länder vertraut macht und ein Gespür für die Sensibilitäten der Menschen erwirbt. Eigentlich sollte dies selbstverständlich sein, doch schaffte eine oberflächliche Globalisierung die Illusion, dass wir auf einer nach den westlichen Vorstellungen abgeflachten Erde leben würden.

Sowohl Indien als auch China sind in den Worten des indischstämmigen Literaturnobelpreisträgers V. S. ­Naipaul «wounded civilizations». Er spielte damit auf die brutalen Verwundungen an, die verschiedenen Zivilisationen vom europäischen Kolonialismus beigefügt worden sind. Es mag ein ungewöhnlicher Zufall sein, dass die beiden asiatischen Hochkulturen Indien und China im 19. Jahrhundert in die Dekadenz fielen und von europäischen Kolonialmächten erniedrigt wurden. Vergessen oder gezielt ignoriert wird oft, dass asiatische Zivilisationen über Jahr­tausende hinweg dem Westen weit überlegen waren. Der asiatische Kontinent beherbergte gleich mehrere Hochkulturen, von denen die chinesische eine bemerkenswerte Kontinuität aufweist, die bis in die Zeit des Römischen Reichs zurückreicht.

Strebt im Spätherbst eine präzedenzlose dritte fünfjährige Amtszeit an: Chinas Staatschef Xi Jinping, hier im Mai 2022 an einer Feier in der Grossen Halle des Volkes in Peking. Bild: Li Xueren/Xinhua/Keystone.

Im Gegenzug wurde im 20. Jahrhundert die vorgeb­liche «gelbe Gefahr» beschworen. Unlängst wurde diese neu belebt mit der Behauptung, dass «die Chinesen unsere Jobs stehlen». Ignoriert wurde bei dem ganzen «Asia bashing» die Tatsache, dass China als Werkstätte der Welt über mehrere Jahrzehnte hinweg den westlichen Indus­triegesellschaften einen Konsumboom ohne Inflation ermöglicht hat.

Pragmatischer Konfuzius

Wenn wir vom 21. Jahrhundert als dem asiatischen Jahrhundert sprechen, ist uns bewusst, dass es sich dabei primär um das japanische und das chinesische Wirtschaftswunder handelt. Indien hinkt hinterher, hat aber ebenfalls das Potenzial dazu. China und Japan sind ebenso wie ­Südkorea und Vietnam stark von der Weisheitslehre des Konfuzius geprägt. Sie stehen damit in markantem Gegensatz zu Indien mit seiner allgegenwärtigen Metaphysik.

Im Zentrum des Konfuzianismus, der keine Religion, sondern eine Weisheitslehre ist, steht eine Reihe von ­Werten, die auch dem Westen wohl anstehen würden. Wir ­denken dabei an die hohe Wertschätzung von Bildung und ­Erziehung, an die ausgefeilte Pflichtenlehre und an den ausgeprägten Pragmatismus. Alle diese Werte stehen hinter dem chinesischen Wirtschaftswunder, welches Ende der 1970er-Jahre mit den historischen Reformen von Deng Xiaoping lanciert wurde. Chinas Modernisierung erfolgte mit einer Rückbesinnung auf traditionelle chinesische Werte. Dies ist ein wichtiger Grund, weshalb die Volks­republik im Unterschied zur verblichenen Sowjetunion zu einer wirtschaftlichen Erfolgsstory werden konnte – und dies ohne Aufgabe der nationalen Einheit und der Alleinherrschaft der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) schaffte.

Ein Duopol entsteht

Aus asiatischer Sicht ist die Pax Americana in Asien mit dem verbockten Abzug der USA und ihrer Alliierten aus Afghanistan zu einem Ende gekommen. Selbst der Musteralliierte Japan hat Zweifel an der vollständigen Verlässlichkeit der Amerikaner im Fall der mit China umstrittenen Senkaku-Inseln unweit des Archipels von Okinawa. Am Horizont sieht nicht nur Beijing eine neue Weltordnung aufziehen mit einem chinesisch-amerikanischen Duopol.

Zum asiatischen Jahrhundert gehören nicht nur neue weltwirtschaftliche Perspektiven. Ebenso wichtig ist die Erkenntnis, dass es im Grossraum des Indopazifiks gefährliche akute und schlummernde Krisen- und Kriegsherde gibt. Während der Trump-Administration hat Washington in seiner China-Politik einen scharfen Kurswechsel voll­zogen. Seither setzen die USA auf Containment, auf Eindämmung. Man hat endlich aus den Fehlern, die beim WTO-Beitritt von China begangen wurden, gelernt.

Lange Zeit hatte in der ­Verwaltung wie in vielen amerikanischen Thinktanks die ­Meinung vorgeherrscht, dass wirtschaftlicher und techno­logischer Fortschritt auch die politische Öffnung und Modernisierung nach sich ziehen würde. Vor allem ein starker chinesischer Mittelstand, so die Meinung, würde den Reformdruck erhöhen. Menschen, die beruflich erfolgreich sind und in ihrem Privatleben immer mehr Verantwortung übernehmen müssen, würden auch mehr politische Freiheit und mehr Rechte einfordern.

Die Entwicklung in China widerlegt diese Annahme deutlich. Das Land und ein Grossteil der Bevölkerung sind, wenn man sich vor Augen hält, wie China beim Tod von Mao Zedong im Jahr 1976 nach den Verheerungen der ­Kulturrevolution darniederlag, sehr viel wohlhabender. Dennoch gibt es keine breite Bewegung, die sich für die Einführung der Demokratie starkmacht.

Erfolgreich gegen Armut

Es ist dies aus mehreren Gründen ein delikater Sachverhalt. Natürlich steht es Auswärtigen nicht zu, darüber zu befinden, ob die Chinesen zur Demokratie befähigt sind oder nicht. Mit Sicherheit kann davon ausgegangen werden, dass es kein Gen gibt, welches Chinesen gegen Demokratie immun machen würde. Die lebendige Demokratie in Taiwan jedenfalls widerlegt jeden Zweifel an der Demo­kratiefähigkeit der Chinesen.

Auf der anderen Seite muss man aber auch die Stimmen ernst nehmen, die darauf drängen, ein politisches System danach zu beurteilen, was es für die Menschen leistet. Es liegt nahe, die beiden Milliardenländer Indien und China zu vergleichen. Ohne Zweifel ist es ein bittereres Schicksal, in Indien arm zu sein als in China. Auch scharfe Chinakritiker werden nicht bestreiten können, dass im Verlauf seiner Wirtschaftsreformen die wohl grösste Armutsbekämpfungsaktion der Geschichte realisiert wurde.

Wer nun denkt, das chinesische «Modell» für Entwicklungs- und Schwellenländer empfehlen zu können, sollte besser einen Blick hinter die Kulissen der Volksrepublik werfen und die äusserst gefährlichen Achillesfersen der KPCh-Herrschaft zur Kenntnis nehmen. Einmal abge­sehen davon, dass ein religiös, sprachlich und ethnisch ­erheblich vielfältigeres Indien den unitarischen Zentralismus Chinas nicht verkraften würde, müsste man sich auch fragen, weshalb Indien, welches die Herausforderungen der Alternanz und der Nachfolge mit demokratischen ­Mitteln bestens gelöst hat, auf ein so veraltetes und gescheitertes System wie den chinesischen Totalitarismus zurückgreifen sollte.

Xis neue Weltordnung

Damit sind wir bei der zentralen Herausforderung des asiatischen Jahrhunderts gelandet. Wie steht es um die Zukunft der Idee der Freiheit, die offensichtlich von einer Reihe von alten und neuen Feinden bedroht und in Frage gestellt wird? Mit Xi Jinping gelangte 2012 ein Politiker an die Spitze von Partei und Staat, von dem man wusste, dass er mehr Gewicht auf Ideologie legt als seine pragmatischeren Amtsvorgänger Hu Jintao und Jiang Zemin. Inzwischen wissen wir, dass Xi, der am 20. Parteikongress der KPCh im Spätherbst eine präzedenzlose dritte fünfjährige Amtszeit anstrebt, grosses Gewicht auf eine neue Weltordnung legt, in welcher das chinesische Vorbild von Staat und Wirtschaft eine wichtige Rolle spielt.

Die Nachkriegsordnung und vor allem das kurze Zwischenspiel einer westlich geprägten Globalisierung, welches auf die Unterbrechung des Kalten Kriegs gefolgt war, hatten auf dem sogenannten Washington-Konsens beruht. Dieser wurde von den Bretton-Woods-Institutionen getragen und bestand aus einer Weltordnung, die von den Pfeilern der liberalen Demokratie, der Marktwirtschaft und des Freihandels getragen wurde.

«Aus asiatischer Sicht ist die Pax Americana

in Asien mit dem verbockten Abzug

der USA und ihrer Alliierten aus

Afghanistan zu einem Ende gekommen.»

Es war angesichts der gewaltigen Steigerung von Chinas Wirtschaftskraft stets zu erwarten, dass die neu-alte Weltmacht China sich nicht mit rein ökonomischen Muskeln zufriedengeben würde. Zu gross ist weiterhin die Bürde der Geschichte, die nach einer vollen Wiederherstellung von Chinas Status als Hegemonialmacht ruft.

Die ganze Strategie von Xi Jinping ist darauf angelegt, «die Wiedergeburt der grossen chinesischen Nation» auch in der globalen Ordnung abzusichern. Er tut dies mit Ins­trumenten wie der Asian Infrastructure Investment Bank (AIIB) und der Belt and Road Initiative (BRI) und untermauert es mit einem Peking-Konsens, welcher dem Westen mit einer Ordnung entgegentritt, die auf Autoritarismus, Staats- beziehungsweise Parteikapitalismus und Merkantilismus setzt.

Bei seinen globalen Aspirationen lässt China keine Zweifel daran, dass es die Zukunft der Welt bei seinen eigenen Werten sieht. Will der Westen nicht überrollt werden, so muss er eine Strategie entwickeln, wie er seine Werte, die er richtigerweise für essenziell hält, wirksam verteidigt. Washington sieht die Lösung primär im Containment von China. Wir sehen eine offensive Strategie zur Förderung der Idee der Freiheit im asiatischen Jahrhundert vor allem im Heranwachsen einer lebendigen Bürgergesellschaft und eines robusten Rechtsstaats in China. Beides sind Ziele, die in der Vergangenheit unerreichbar schienen, die aber in Zukunft angesichts des starken Wachstums der urbanen Mittelschichten und des im Gang befindlichen Generationenwechsels durchaus realisierbar sein sollten. Fest steht jedenfalls, dass der Schlüssel für die Gestaltung des asiatischen Jahrhunderts bei den internen chinesischen Entwicklungen liegt.


 

Hinweis: Eine ausführliche Version dieses Textes kann beim Autor per E-Mail ­angefordert werden: uschottli@yahoo.co.uk

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