Die 50-Milliarden-Chance
Er schwört auf das duale Bildungssystem, das es zu schützen gilt, plädiert für weniger Bürokratie und setzt auf den Aufstieg Chinas. Hans-Ulrich Bigler, Direktor des Schweizerischen Gewerbeverbandes, redet nicht um den heissen Brei herum und nimmt die Politik in die Pflicht.
Schweizer Monat: Wie wichtig ist die Qualität von Produkten und Dienstleistungen von Schweizer Unternehmen in den internationalen Märkten, und verändert sich die Wichtigkeit dieses Faktors?
Hans-Ulrich Bigler: Aufgrund des starken Frankens steigt der Druck auf Schweizer Unternehmen im Export. Über den Preis wird es daher immer schwieriger, wenn nicht gar unmöglich, konkurrenzfähig zu bleiben. Die Qualität ist das entscheidende Argument dafür, dass Schweizer Produkte sich behaupten können. Die Qualität ist also eine Voraussetzung, eine conditio sine qua non, und geht Hand in Hand mit der Innovationskraft. Das sind sich die Unternehmen in der Schweiz bewusst, schon seit langem.
Warum nimmt die Bedeutung von Qualität in internationalen Märkten für Schweizer Unternehmen zu?
Durch ein starkes Anwachsen der Kaufkraft in aufstrebenden neuen Mittelschichten beispielsweise in Asien oder Südamerika wird sich die Weltwirtschaft dramatisch verändern. In einer Welt mit einer Population von über acht Milliarden Menschen im Jahr 2025 wird diese neue Mittelschicht das grösste Segment ausmachen. Das eröffnet Chancen, Perspektiven für unsere Wirtschaft und für unsere KMU, die es zu nutzen gilt. Aber dieses veränderte Kaufverhalten in Asien wird auch die Schweizer Wirtschaft entscheidend beeinflussen. Auch wenn die neue globale Mittelklasse ein relativ tiefes Einkommenssegment darstellt – im Vergleich zum hohen Schweizer Standard – und deswegen bisher auch nicht im Fokus der Schweizer KMU stand, wird erwartet, dass diese schnell wachsende neue Käuferschicht die Globalisierung beschleunigen wird. Sie wird sie auf eine neue Ebene heben. In den letzten Jahren haben sich wesentliche Anteile der weltweiten Produktion nach Asien verlagert. Jetzt – so schätzt man – erleben wir den zweiten Schritt: Es wird eine Konsumveränderung folgen. 66 Prozent der neuen globalen Mittelschicht wird bis im Jahr 2030 in Asien leben. Diese Veränderung der Konsumentenlandschaft wird ohne Zweifel auch die Schweizer Wirtschaft stark beeinflussen. Schweizer KMU können hier insbesondere auch über die Qualität und die Swissness punkten, um ihre Produkte und Dienstleistungen erfolgreich zu positionieren. Gerade im immer noch aufstrebenden China bildet sich nach und nach eine selbstbewusste neue Käuferschicht. Diese Möglichkeiten muss man packen!
Ist Qualität denn ein Alleinstellungsmerkmal von Schweizer Produkten und Dienstleistungen von KMU im internationalen Markt?
Das ist sie ohne jeden Zweifel, und ich darf hier direkt auf unseren Anlass synergy verweisen, der am 4. November 2015 im Kursaal in Bern genau diesen Aspekt aufnimmt. Hier präsentieren wir genau solche Unternehmerbeispiele, die trotz höherer Preise ihre Produkte dank Qualität international erfolgreich verkaufen können (Box zu synergy).
Welche Beispiele sind das?
Nehmen wir die Acosim AG, eine Firma, die Mörtel herstellt und ein ganzes Verarbeitungssystem entwickelt hat, mit dem gepflästerte Böden einer viel grösseren Belastung standhalten. Die Preise für diesen Mörtel sind zwar markant höher als für herkömmliche Produkte. Trotzdem erzielt die Acosim AG bereits bis zu zwanzig Prozent ihres Umsatzes im EU-Raum, wo sie dank der höheren Qualität ihrer Produkte die billigere Konkurrenz aussticht. Hier paart sich Innovationskraft mit Mut. Ein zweites Beispiel ist die Zimmerli Textil AG: Der Unterwäschehersteller aus Aarburg setzt auf Qualität und Swissness. Über eine konsequente Qualitätsstrategie hat Zimmerli, die in einer kleinen Produktionsstätte in Colderio im Tessin produziert, eine Marke geschaffen, die weltweit nachgefragt wird und deren Herrenkollektion zu den führenden Linien weltweit gehört.
Sie nennen hier Nischenanbieter mit schwer kopierbaren Produkten. Gibt es andere Beispiele?
Ja, die gibt es. Auch an der synergy vorstellen werden wir das Beispiel der Suteria AG, einer Confiserie aus Solothurn, die ihre Produkte seit 2014 auch in Harbin in China verkauft. Das ist ein interessantes und auch etwas verblüffendes Beispiel eines lokal verankerten kleinen oder mittleren Unternehmens, das nun den Schritt in einen neuen Markt wagt und hier bewusst auf die Qualität und die Marke Schweiz setzt. Wir Schweizer sind wahre Meister des Schokoladenkonsums mit zwölf Kilogramm pro Jahr und Mund. Die Chinesen hingegen bringen es gerade mal auf hundert Gramm. Suteria sieht hier ein enormes Potential, glaubt an ihre Chance und versucht die Gelegenheit zu nutzen. Ein mutiger Schritt.
Das ist eine erstaunliche Geschichte…
Das finde ich auch. Sie sehen, es muss also nicht nur High-Tech, Maschinenbau oder Uhren sein, wofür wir Schweizer auch bekannt und erfolgreich sind. Nein, auch ganz traditionelle Branchen können im Ausland Fuss fassen, wenn man den Markt gut analysiert und mit Qualität überzeugt. Das sind Beispiele mit Nachahmungseffekt.
Gibt es eine historische Begründung für dieses Alleinstellungsmerkmal der Qualitätsweltmeisterschaft?
Ja, die gibt es. Wir sind ein Land mit wenigen Rohstoffen, das erhöht den Druck, innovativ und erfinderisch zu sein. Unsere Kultur, unser Wesen sind imprägniert von Qualitätsbewusstsein. Wir sind gründlich und fleissig. Wir haben früh gelernt zu exportieren. Kleine Länder wie die Schweiz sind in dieser Hinsicht agiler, weil sie es sein müssen. Und sie sind anpassungsfähiger.
Wie wichtig ist der Ausbildungsstandard innerhalb des eigenen Landes dafür?
Gute Ausbildung ist eine entscheidende Voraussetzung. Wir haben einen sehr ausgeprägten Berufsstolz entwickelt, und dies auf sehr hohem Niveau. Wir haben Berufe mit Qualitätsstandards. Und wir haben mit dem dualen Bildungssystem eine typisch schweizerische Errungenschaft auf die Beine gestellt, wofür uns viele beneiden. Dieses System macht gar Schule in den USA, wo die Berufsbildung bislang wenig verbreitet ist. Hier ist Zusammenarbeit geplant (siehe Text auf der gegenüberliegenden Seite). Man sollte die Akademisierung nicht verteufeln, doch ist das Bewahren unseres Bildungssystems essentiell und entscheidend. Hier haben wir einen wirklich guten Wettbewerbsvorteil. Da sollten wir uns die Butter nicht vom Brot wegnehmen lassen.
Hat die KMU-Schweiz in der Exportwirtschaft noch Potential nach oben? Wie viel?
Heute erarbeiten gut ein Drittel der KMU rund fünfzig Prozent ihres Umsatzes im Ausland. Das ist ein stolzer Wert! Unsere KMU sind heute bereits sehr stark internationalisiert. Der Trend der zunehmenden Bedeutung von kaufkräftigen Mittelschichten in grossen Märkten zeigt, dass das Potential der internationalen Märkte für Schweizer KMU weiter zunehmen wird. Dies können die Schweizer KMU nutzen. Entsprechende Rahmenbedingungen oder ausgehandelte Freihandelsabkommen, wie dasjenige mit China, begünstigen das Wirtschaften auf fremden Märkten weiter. Es gibt viel Luft nach oben – auch für Branchen und Bereiche, die man nicht in erster Priorität mit Export verbindet, wie das Beispiel der Confiserie aus Solothurn.
Das Freihandelsabkommen mit China ist demnach für Sie von grosser Bedeutung?
Seit dem 1. Juli 2015 ist das von Bundesrat Johann Schneider-Ammann mit seinem chinesischen Amtskollegen unterzeichnete Freihandelsabkommen zwischen der Schweiz und China ein Jahr in Kraft. Das umfassende Abkommen mit unserem drittwichtigsten Handelspartner ist ein Meilenstein der Schweizer Aussenwirtschaftspolitik und stösst bei den Schweizer Unternehmen auf enormes Interesse. Die Exporte nach China nahmen seit Inkrafttreten um drei Prozent zu und die Importe um gut vier Prozent, während die Schweizer Ausfuhren mit der übrigen Welt nur um 0,4 Prozent wuchsen.
Hier können also auch Schweizer KMU davon profitieren?
In der Schweiz sind nach wie vor Perlen verborgen – KMU, die ausschliesslich für ihre Region produzieren, aber qualitativ hochwertige Produkte haben, die skalierbar wären und international erfolgreich sein könnten. Fehlt es an Mut, Erfahrung, Wissen? Nicht allenthalben, denn Perlen gibt es in der Tat, wie wir am Anlass synergy aufzeigen können. Auch im Umweltbereich eröffnen sich für mutige, innovative KMU ungeahnte Möglichkeiten. Gerade in China wächst das Umweltbewusstsein aufgrund der steigenden Umweltverschmutzung rasant. Die staatlichen Behörden sind hier gefordert, endlich konkrete Massnahmen einzuleiten. Und diese sind oft technischer Natur.
Wie kann das steigende Umweltbewusstsein in China zu mehr Geschäftsaktivitäten in der Schweiz führen?
Die chinesische Regierung hat in ihrem Fünfjahresplan bindende Ziele im Umwelt- und Klimabereich formuliert. Bislang fokussierten Regierungsziele stets auf das Wirtschaftswachstum. Nun haben sich die Behörden zum Ziel gesetzt, den Energieverbrauch pro BIP-Einheit um 16 Prozent und den Wasserverbrauch pro Volumen der industriellen Produktion um 30 Prozent zu senken. Auch plant Chinas Regierung, bis 2020 eine Führungsposition bei der Elektromobilität einzunehmen. Schon in diesem Jahr sollen jährlich eine Million Elektrofahrzeuge gebaut werden, ab 2020 fünf Millionen. Man schätzt, dass China innerhalb der kommenden fünf Jahre Investitionen von einer Billion US-Dollar in die Umwelttechnik stecken wird. Eine kolossale Summe. Einerseits, um umweltfreundliches Wachstum sicherzustellen, und andererseits, um in diesem wichtigen Zukunftssektor eine führende Rolle zu übernehmen. Diese enorme Nachfrage nach energieeffizienten Lösungen eröffnet gerade für Schweizer Firmen eine ganze Reihe neuer Chancen, die in zahlreichen Umwelttechnik- und Energieeffizienz-Sektoren führend sind. Energieeffiziente Gebäude und Produktionsanlagen sowie weitere nachhaltige Technologien aus der Schweiz, zum Beispiel auch aus dem Bereich der Abfallaufbereitung und -entsorgung, werden mit Sicherheit gefragt sein.
Dadurch entstehen Arbeitsplätze in China, aber nicht zwingend in der Schweiz. Sehen Sie das auch so?
Schweizer Unternehmen haben enorm von Chinas Aufstieg profitiert: Die Schweizer Exporte und die positive Handelsbilanz haben sich in zehn Jahren, von 2000 bis 2010, verdreifacht. Die Schweiz profitierte in dieser Dekade auch von einer stetig wachsenden, positiven Handelsbilanz mit China. Es findet also nicht unbedingt eine Verlagerung von der Schweiz nach China statt. Im Gegenteil: die sehr positive Handelsentwicklung schafft zusätzliche interessante Jobs in der Schweizer Wirtschaft. Das ist bereits heute die Erfahrung vieler Schweizer Unternehmen.
Wie kann man Schweizer KMU in den Regionen helfen, dass sie Mut fassen und den Export in Angriff nehmen?
Ein kleines oder mittleres Unternehmen, das international Potential nutzen will, muss sich gut darauf vorbereiten. Unterstützung gibt es zum Beispiel von Seiten der Organisation Switzerland Global Enterprise, welche an der synergy Partnerin ist. Und es ist wichtig, dass wir unsere Unternehmen nicht mit Administration und Bürokratie «zumüllen», wenn sie solche Projekte in Angriff nehmen wollen.
Wie meinen Sie das?
Unsere Unternehmen sollen Luft und Handlungsspielraum erhalten, um in die Erschliessung des sich bietenden Potentials auf den internationalen Märkten investieren zu können. Dazu braucht es weniger Regulierungen, weniger Bürokratie oder unnötige Administration. Ich plädiere auch für weniger Steuern, denn die Erschliessung internationaler Märkte ist immer auch mit zum Teil beträchtlichen Investitionen verbunden. Unternehmen sollen ihre Gewinne investieren können, das schafft auch Arbeitsplätze hier und ist gesellschaftlich von Belang. Es kann deshalb nicht sein, dass mit viel Einsatz erzielte Gewinne mit unsinnigen Forderungen im eigenen Land erodiert werden. Ich meine da zum Beispiel die Idee einer nationalen Erbschaftssteuer, welche danach trachtete, denselben Gewinnfranken der KMU gleich dreimal besteuern zu wollen. Unternehmen sollen Wachstum aus eigener Kraft schaffen, dazu benötigen sie eigene Mittel. Lassen wir ihnen diese Mittel. Hier fordere ich mehr Zurückhaltung von unseren Politikerinnen und Politikern. Das braucht auch Mut.
Können Sie quantifizieren, welche Mittel wir durch unnötige Administration in den Sand setzen?
Eine Studie des Schweizerischen Gewerbeverbandes in Zusammenarbeit mit der Uni St. Gallen hat ergeben, dass zehn Prozent des BIP für Regulierungen «sinnlos» ausgegeben werden. Das sind über 50 Milliarden Franken pro Jahr. Der Bundesrat hat diese Grössenordnung in einem 2013 veröffentlichten Bericht bestätigt. Alleine für 12 Bereiche auf nationaler Ebene errechnete er Regulierungskosten von 10 Milliarden Franken. Alle anderen Bereiche sowie die Regulierungen auf kantonaler und kommunaler Ebene kommen da noch dazu.
Wo sehen Sie die grössten Risiken für den Qualitätsanspruch der Schweizer KMU, der im Zentrum des Erfolges zu stehen scheint?
Qualität wird erreicht, wenn wir genügend qualifizierte Facharbeiter, Fachkräfte haben, die Qualitätsarbeit leisten und diese weiterentwickeln können. Deshalb ist die duale Berufsbildung in der Schweiz von derart zentraler Bedeutung. Die Konsequenz daraus ist eindeutig: Wir müssen dieses System mit allen Mitteln verteidigen und auch die höhere Berufsbildung als Basis für unsere hohen Qualitätsansprüche stärken! Auch dazu eine Zahl: Wir wissen, dass zwei Drittel der Innovationen von Mitarbeitenden in den Betrieben gemacht werden. Diese ersten Schritte sind häufig der Anfang auf dem Weg zu einem neuen Produkt, zu einer neuen Dienstleistung, die zum Schluss den Unterschied zur Konkurrenz ausmachen werden. Das Human Capital, das Know-how der einsatzfreudigen Mitarbeitenden und deren Involviertheit in Entwicklungs- und Entscheidungsprozessen sind demnach entscheidend.
Hans-Ulrich Bigler im Kampf gegen den alltäglichen Unsinn
Gewerbeverbandsdirektor Hans-Ulrich Bigler wirkt ruhig und besonnen im Gespräch, ist aber hart und konkret in der Sache. Von den Politikern wünscht sich der studierte Ökonom jene Beweglichkeit, die Schweizer KMU im harten Wettbewerb oft auszeichnet. Er fordert vom Bundesrat mehr Mut zur Tat. Biglers ausgeprägte wirtschaftsliberale Haltung prägt sein Handeln. Seit 2008 steht Bigler an der Spitze des Schweizerischen Gewerbeverbands sgv.
USA zeigen Interesse an dualem Bildungssystem der Schweiz
Das duale Bildungssystem der Schweiz ist weltweit einzigartig. Um dieses Modell mit Lehre und Berufsschule wird die Schweiz beneidet. Im Sog der Finanz- und Wirtschaftskrise 2008, als Länder wie Italien, Spanien und selbst Frankreich die Grenzen ihrer Wirtschaftskraft schmerzlich zu spüren bekamen, zeigten vorab diese Länder zunehmend Interesse an der pragmatischen und praxisnahen Bildung. Die Schweiz hat so wenige arbeitslose Jugendliche wie kein anderes Land. Auch die USA hat die Stärken des dualen Berufsbildungssystems erkannt. Eine auf höchster Ebene zu Beginn dieses Jahres initiierte Zusammenarbeit, angeführt von Bundesrat Johann Schneider-Ammann, zwischen der Schweiz und den USA im Bereich der Berufsbildung soll den Amerikanern das bewährte Schweizer Modell näherbringen. Ein entsprechendes Abkommen mit der US-Regierung wurde im Juli 2015 unterzeichnet.