…der Perfektion im Schweizer Infrastrukturbau
Was darf eine Tramhaltestelle kosten? Wir meinen natürlich eine mit einem Unterstand für Regentage, von Orthopäden entwickelten Bordsteinen und einem bärensicheren Abfalleimer. Wir hätten geschätzt, dass die zu Luxus neigende Little Big City grosszügig einige zehntausend Franken dafür springen liesse… immerhin World Class – Swiss Made. Dass aber gleich CHF 170 000 verbaut werden, hat uns […]
Was darf eine Tramhaltestelle kosten? Wir meinen natürlich eine mit einem Unterstand für Regentage, von Orthopäden entwickelten Bordsteinen und einem bärensicheren Abfalleimer.
Wir hätten geschätzt, dass die zu Luxus neigende Little Big City grosszügig einige zehntausend Franken dafür springen liesse… immerhin World Class – Swiss Made.
Dass aber gleich CHF 170 000 verbaut werden, hat uns dann doch dazu bewogen, die Sache unter die Lupe zu nehmen. Apropos Lupe: Mit welcher Akribie werden Rinnsteine gelegt, Bordsteinkanten angeschrägt und Bitumenabschlüsse sorgsam aufgetragen! Gebaut für die nächsten hundert Jahre. Wie weiland Ernst Göhners Schutzräume, in denen mittlerweile nur noch Grossmutters saure Gurken vor Angriffen sicher sind.
Wir fragen uns: Wann beginnen wir, Abstriche zu machen? Wann fangen wir damit an, auf unnötigen Luxus zu verzichten, der weder Mehrwert noch Genuss schafft?
Wohl erst, wenn wir einsehen, dass Perfektionismus ein Symptom ist. Die nanometergenauen Bordsteine repräsentieren unseren Zwang, auch als Menschen perfekt sein zu müssen, in engen Bahnen zu denken und uns freiwillig unter die Fuchtel der Perfektion zu stellen. Die Bordsteine stehen auch für die Illusion einer heilen Welt, die jedem Wandel widersteht und trotz gegenläufiger Anzeichen Sicherheit und Kontrollierbarkeit vorgaukelt.
Sicher, auch wir sind überzeugt, dass eine solide Infrastruktur für eine funktionierende Wirtschaft und Gesellschaft notwendig und für die Schweiz ein entscheidender Standortvorteil ist. Der an die plastische Chirurgie erinnernde sterile Ästhetikwahn hat jedoch nichts mehr mit zweckmässigem Infrastrukturbau zu tun, sondern mit mangelnder Toleranz für das Unperfekte, Vorläufige und Unabgeschlossene des Menschseins.
Vieles ist schlicht nicht notwendig, wie der Blick in jedes unserer Nachbarländer und andere Erdteile zeigt. Wir meinen, auch in diesem Bereich tut eine gute Portion Gelassenheit gut. Wir sind gespannt, wann das Umdenken einsetzt und wann auch die Schweizer von ihrem depressionsfördernden Fassadenpolierungswahn ablassen.