Der Mittelstand verteilt zu sich selbst um
Der Wohlfahrtsstaat wird vom Rettungsanker zum Rundum-sorglos-Programm für alle. Doch damit überfordert er sich selber.
«Die Stärke des Volkes misst sich am Wohl der Schwachen», heisst es in der Bundesverfassung. Nach diesem Prinzip baute die Schweiz ihren Wohlfahrtsstaat auf. Die AHV sollte Pensionierten einen finanziell abgesicherten Ruhestand ermöglichen; Prämienverbilligungen sollten verhindern, dass Haushalte mit geringen Einkommen durch die Gesundheitskosten in die Armut abrutschen.
Nach und nach wurden die Programme ausgebaut. Inzwischen hat ein Paradigmenwechsel stattgefunden: Der Wohlfahrtsstaat leistet nicht mehr gezielte Hilfe für die Armen, sondern schüttet sein Manna mit der Giesskanne über alle aus.
- Im September stimmte eine Mehrheit der Stadtzürcher Stimmberechtigten dafür, allen Einwohnern ein stark verbilligtes ÖV-Abo zu subventionieren. 140 Millionen Franken pro Jahr lassen sie sich (beziehungsweise die Steuerzahler) dieses Zückerchen kosten.
- Im gleichen Stil geht’s weiter: Am 30. November stimmt Zürich über einen massiven Ausbau der Prämienverbilligungen ab. Profitieren sollen Einkommen bis 100 000 Franken. (Dies zusätzlich zu einer kantonalen Vorlage, die gleichzeitig zur Abstimmung kommt und ebenfalls höhere Prämienverbilligungen vorsieht.)
- Weiter hat das Stadtparlament eine Ausweitung der Kita-Subventionen beschlossen. Künftig sollen Eltern bis zu einem Einkommen von 125 000 Franken «entlastet» werden. Das stösst selbst innerhalb des dominanten rot-grünen Blocks auf Kritik: Die Linksaussenpartei AL warf der SP vor, Klientelpolitik zu betreiben auf Kosten der wirklich Bedürftigen. Ohne Erfolg: Klientelpolitik ist offenbar zu populär.
- Das zeigt sich auch in der Wohnpolitik. Die Stadt Zürich hat das Ziel ausgegeben, dass ein Drittel der Wohnungen «gemeinnützig» sein soll. In günstigen Wohnungen leben allerdings nicht unbedingt die Ärmsten, sondern vor allem der wohlsituierte Mittelstand – und auffällig viele Politiker.
- Auf Bundesebene haben sich vergangenes Jahr 58 Prozent der Stimmberechtigten für eine 13. AHV- Rente ausgesprochen. Sie fliesst an den Multimilliardär genauso wie an die Putzfrau. Letztere profitiert sogar weniger, wenn sie durch die höhere Rente den Anspruch auf andere Leistungen (wie Prämienverbilligungen) verliert. Kostenpunkt des Zustupfs: 4 bis 5 Milliarden Franken pro Jahr.
- Und der nächste AHV-Ausbau steht mit der jüngsten Initiative der «Mitte»-Partei bereits vor der Tür. Sie will Ehepaare begünstigen und dafür noch einmal 3,5 bis 4 Milliarden Franken pro Jahr zusätzlich ausgeben. Zwar sind Verheiratete in der Altersvorsorge bei genauerer Betrachtung gar nicht benachteiligt. Aber sie sind eine wichtige Wählergruppe, die man mit Klientelpolitik ansprechen kann.
Der Sozialstaat wird vom Rettungsanker für Bedürftige zum Wohlfühlprogramm für alle. Und das schlägt sich in den Kosten nieder. Gezielte Hilfe für Bedürftige, die richtige Anreize setzt, ist relativ günstig. Eine Giesskannenpolitik hingegen, die bis weit in den Mittelstand und darüber hinaus Geld verteilt, wird sehr schnell sehr teuer.
Das zeigt sich auch im Bundesbudget: Seit den 1990er-Jahren haben sich die Sozialausgaben des Bundes real verfünffacht. Hat sich in dieser Zeit die Zahl an Armen und Hilfsbedürftigen so stark erhöht? Nein, das Geld fliesst vor allem an den Mittelstand.
Das Tragische dabei ist, dass es letztlich der gleiche Mittelstand ist, der die Rechnung bezahlt – einfach aus einer anderen Tasche. Der Sozialstaat wird so zum ineffizienten Durchlauferhitzer. Zur Finanzierung der 13. AHV-Rente zum Beispiel soll die Mehrwertsteuer angehoben werden; das trifft die Ärmsten überproportional stark.
Die zunehmende Umverteilung erzeugt immer neue Anspruchsgruppen, die um staatliche Pfründen konkurrieren. Die Klientelpolitik schafft eine wachsende Schicht von Staatsabhängigen und entzieht zugleich der produktiven Wirtschaft Ressourcen. Ein Extrembeispiel war das peronistische Argentinien, das sich so in die Armut herunterwirtschaftete. Ist das die Zukunft der europäischen Wohlfahrtsstaaten?
Ein Sozialstaat, der mit der Giesskanne hantiert, ist nicht nur ineffizient, sondern unsozial – und untergräbt das eigene Fundament.
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