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Der Höcker der Rechtschreibreform

Wer einmal versucht hat, seinem PC die kleine Wortgruppe «Agnus Dei» einzutippen, erfährt, wozu ein Rechtschreibprogramm (nicht) fähig ist. «Agnus Die» muß der Satz der katholischen Messe heißen. Da ich den Knopfdruck nicht beherrsche, mit dem man dem Gerät zumuten kann, auch vermeintlichen Unsinn stehen zu lassen, muß ich es überlisten. Ich gebe «Deianeira» oder […]

Der Höcker der Rechtschreibreform

Wer einmal versucht hat, seinem PC die kleine Wortgruppe «Agnus Dei» einzutippen, erfährt, wozu ein Rechtschreibprogramm (nicht) fähig ist. «Agnus Die» muß der Satz der katholischen Messe heißen. Da ich den Knopfdruck nicht beherrsche, mit dem man dem Gerät zumuten kann, auch vermeintlichen Unsinn stehen zu lassen, muß ich es überlisten. Ich gebe «Deianeira» oder «Deiss» ein, um das Wort bis auf die ersten drei Buchstaben wieder zu löschen, in der Hoffnung, daß der lateinische Genitiv Gottes vor dem Rechner Gnade finde. «Idiot», höre ich ihn knistern. Selber Idiot!, gebe ich zurück. Kommunikation auf Klippschulstufe. Was hat sie mit der Rechtschreibreform zu tun?

Sie paßt dazu wie die Gämse oder das Quäntchen. Die dritte hochdeutsche Lautverschiebung im Geiste des Pidgin. Warum nicht auch «Läben»? So erscheint es in der Korrespondenz des jungen Thomas Mann, zum Zeichen, das Leben sei der Güter höchstes nicht.

Apropos «Deiß» – schreibt sich der schweizerische Wirtschaftsminister nun mit einem «ß» am Ende, oder einem «ss»? Was sagen die neuen Regeln schon wieder zu einem scharfen S-Auslaut nach langem Diphthong? E-Mail-Adressen kümmert es nicht – sie wissen, daß «ß» in außerdeutschen Sprachen unlesbar wäre. Auf meiner alten Olivetti mit schweizerischer Tastatur, die mich 1962 nach Japan begleitete, kam es gar nicht vor, und in meinem Deutschunterricht ersparte ich den Studenten, es zu lernen. Mit der Folge, daß eine der Absolventinnen bei der Aufnahmeprüfung an die Kaiserliche Universität Tokyo wegen Othographieschwäche durchfiel. Durchgefallen wäre, hätte ich nicht in einem Entschuldigungsbrief an die Prüfungsbehörde das unterlassene deutsche «ß» in aller Form auf mich genommen. Ich sei Schweizer und komme, orthographisch betrachtet, aus dem Busch. Um die Zukunft der Studenten nicht zu gefährden, setzte ich von da an das große «B» meiner Olivetti als «ß» ein. Das sah beinahe so schön aus wie später das große feministische «I» im Wortinneren («AutorInnen»). Seither aber verwende ich das sauer erworbene Zeichen mit Genuß und denke nicht daran, mich von einer amtl. dekretierten Orthographiereform davon wieder dispensieren zu lassen.

So kundenfreundlich, wie sie sich gibt, ist sie übrigens nicht. Ein mir bekannter junger Mann, der eine Stelle suchte, hatte dafür einen handschriftlichen Lebenslauf zu liefern. Wie sich zeigte, diente die neue Rechtschreibung dem prospektiven Arbeitgeber als Selektionskriterium. Der junge Mann bekam die Stelle nicht, und diesmal hätte mein Bekennerschreiben nichts genützt. Was ein Schriftsteller darf, darf ein Arbeitsloser noch lange nicht. Wer rechtschreibt, dem traut man immerhin zu, daß er sich auch nach andern Regeln richtet: es ist ein Indiz für korrekte Sozialisation.

Natürlich: Schulfuchser haben die Rechtschreibung auch schon früher als Grundlage ihrer «Zensur» und also zur Disziplinierung eingesetzt. Aber daran hat sich durch die Reform, wie man jetzt erkennen muß, gleich zweimal nichts geändert. Indem man das alte Instrument als lückenhaft und unlogisch darstellte, versuchte man es als Instrument zu verbessern, und zwar möglichst mit System. Und indem man auch damit glorreich scheiterte und erkennen mußte, daß man das Chaos nur vergrößert hatte, will man es nun par ordre de moufti beenden. Aber wie? Große Zeitungen wie die FAZ machen die Reform nicht mit, andere wie die NZZ schneidern sie sich für den Hausgebrauch zurecht; bedeutende Verlage (wie Suhrkamp) ignorieren sie, und die meisten Autorinnen und Autoren tun nicht mal das. Akademien (wie die Darmstädter) verfassen Denkschriften über die Reformbedürftigkeit der Reform, Philologen demonstrieren ihren Unsinn, während sprachempfindliche Einzelgänger auf Barrikaden steigen, um sie mit Gut und Blut zu bekämpfen.

Wäre die Verwirrung wenigstens dafür gut, einen Zustand schöpferischer Anarchie zu legitimieren! Dazu werden es die regierungsamtlichen Sprachfunktionäre nicht kommen lassen. Auf den massiven Sockel der Schullehrmittel gestützt, dürfte die sogenannte Reform ihr Übergewicht zum Tragen bringen, nach der Logik der Programmierer, wonach irgendeine Ordnung immer noch besser ist als gar keine. Was man hat, daran muß man nicht mehr glauben.

Dabei sollte die Kultur schon auf ein Wort wie «Rechtschreibung» allergisch reagieren. Sie ist eine gar nicht so entfernte Verwandte der Rechtgläubigkeit. Die Tendenz zum Newspeak bleibt jedem Versuch inhärent, Sprache mit System zu regulieren und ihrem Gebrauch Eindeutigkeit vorzuschreiben. Das «Agnus Die» meines Rechners hat es nicht mehr ganz weit zu Orwells Hund, der «frei von Flöhen» ist und damit die einzige Bedeutung von Freiheit illustriert, die das «Ministerium für Wahrheit» dem allgemeinen Sprachgebrauch übrig lassen will.

Zum Glück bleibt eine lebendige Sprache in hohem Grade (ver)ordnungsresistent und verbesserungsimmun. Sie benützt nichts lieber als eine Rechtschreibreform dazu, ihre Unverbesserlichkeit zu demonstrieren. Was einmal – nicht wahr? – als Einführung der gemäßigten Kleinschreibung geplant war, endete mit der absurden Wiederkehr pompöser Worttrennungen und postbarocker Majuskeln: es tut mir Leid. Darf ich es auch schon Leid sein? Noch ist das Gelächter über solche Verrenkungen vernehmlich – Angst habe ich vor dem Tag, an dem es verstummt und niemand mehr versteht, worüber sprachempfindliche Leute sich aufregen. Dann werden, fürchte ich, auch andere Empfindlichkeiten ausgestorben sein, auf die eine Zivilisation, die ihren Namen verdient, nicht verzichten kann.

Orthographie, als begradigte Sprache, kommt einem kulturellen Gedächtnisverlust gleich. Denn die Geschichte, die die Sprache erzählt, verbirgt sich in ihrer Schreibung, und wenn diese eine Differenz zum gesprochenen Laut zu erkennen gibt, ist sie bedeutsam: darin steckt eine Erinnerung. Die französische oder englische Orthographie – gerade die englische! – kultivieren diese Differenz mit Liebe und Entschiedenheit. In diesen Sprachen lassen sich Quiz-Sendungen darüber veranstalten, wie ein Wort «richtig»

geschrieben werde: daraus wird aber nicht nur eine Schule der Korrektheit, darin tut sich ein Stück Kulturgeschichte auf, und damit ein Spielraum des Vorstellungsvermögens. So weit ist es mit unserer Sprache her? Welcher Gewinn, sich in ihr auszudrücken – und welche Freude!

Ich darf wissen, daß «numerieren» nicht von «Nummer» kommt, «plazieren» nicht von «Platz», das «Quentchen» hat mit einem «Quantum» nichts zu tun: die ungewohnte Schreibung bewahrt die Erinnerung daran, daß unsere Sprache von der lateinischen und der französischen mitgebildet wurde. Diese Bildung aber gehört zu unserer eigenen: es bleibt barbarisch, sie als Ballast zu behandeln, den man getrost über Bord werfen kann.

Es gibt natürlich auch das Gegenbeispiel der Volksetymologie, in der eine Sprache das Wort aus der Fremde, um seinen Sinn unbekümmert, sozusagen der eigenen Zunge unterschiebt. Aber das tut der sogenannte Volksmund – bis zum Slang – spontan und ungezwungen, dafür bedarf er keiner amtlichen Nachhilfe, die ihm nach dem Munde zu reden vorgibt. Die «Vereinfachungen» der neuen Rechtschreibung sind – im günstigen Fall – Produkte eines fürsorglichen Paternalismus, der inzwischen auch der Willkür überführt ist. Das amtl. geprüfte Angebot, uns das Leben wenigstens in der Orthographie zu erleichtern, ist unannehmbar, wenn es das Eigenleben der Sprache nicht respektiert und vom Eigensinn ihrer Sprecher und Schreiber nichts wissen will.

Die Pflege einer Sprache ist nicht einmal das Gegenteil ihrer Regulation; denn diese behandelt und beschneidet, als wäre es Wildwuchs, ein Gebilde, das sich durch Selbstorganisation am besten reguliert. Die Sprache beschränkt sich nie auf die Übereinstimmung mit der Gemeinschaft ihrer Sprecher; sie artikuliert und aktiviert auch den Widerspruch zu ihr. Er ist an die Vielsinnigkeit und Vieldeutigkeit sprachlicher Zeichensetzung gebunden. Die Norm ist in der Kultur so wenig wie in der Natur der Träger der Evolution; diese bedient sich der Mutanten, die man rein technisch als «Fehler», als mißratene Kopien betrachten kann.

Eine Rechtschreibung, die Varianten gelten läßt und Schulmeister entmutigt, ist ein «schaffender Spiegel»; jede andere ist überflüssig wie ein Kropf. Hat man vergessen, was herauskam, als eine Kommission über die Eigenschaften des Pferdes zu beschließen hatte? Ein Kamel. So lange Menschen mit Lust und Liebe, aber auch mit Witz und Laune lesen und schreiben, ist die deutsche Sprache die Wüste nicht, in der wir das Kamel dieser Rechtschreibreform nötig hätten.

Adolf Muschg war bis zu seiner Emeritierung 1999 Professor für Deutsche Sprache und Literatur an der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Zürich. In diesem Jahr ist der Schriftsteller zum Präsidenten der Berliner Akademie der Künste gewählt worden.

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