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Das Hamsterrad des Nachrichtengeschäfts…

… und wie Sie wieder rauskommen: Alain de Botton erklärt, warum Nachrichten über Taylor Swifts Beine manchmal wichtiger sind als die über schmelzende Polkappen. Und warum genau das eine der wenigen Neuigkeiten ist, auf die Sie nicht verzichten sollten.

Das Hamsterrad des Nachrichtengeschäfts…
Illustration: Christina Baeriswyl

Herr de Botton, warum haben Sie – als Philosoph – sich entscheiden, sich mit einem scheinbar so profanen Thema wie den «News» auseinanderzusetzen?

Philosophen sind daran interessiert, wie Menschen denken – oder sollten das zumindest sein. Meist beschäftigen sie sich dazu mit dem Denken anderer Philosophen statt mit dem Denken von Menschen. Aber 99,9 Prozent der Menschheit haben ihre Ideen nicht von Platon oder Kant, sondern, genau, aus den Medien. Deren Nachrichten sind die stärksten Ideenverbreiter weit und breit, deshalb müssten sich Philosophen eigentlich mit ihnen beschäftigen.

Sie übertreiben. Wie viel Prozent der täglich konsumierten News-Dosis eines im Westen lebenden Durchschnittsbürgers sind für ihn persönlich relevant?

Für den Durchschnittsbürger sind die meisten Informationen, die täglich auf ihn einprasseln, tatsächlich komplett irrelevant. Aus diesem Grunde ist auch eine gewisse Gleichgültigkeit gegenüber den meisten Nachrichten angezeigt – wir dürfen erkennen, dass wir eine der ersten Generationen sind, die mit einer Fülle von Informationen über Dinge zugeschüttet werden, ohne darum gebeten zu haben. Der Nachrichten-Hub hat dabei die institutionelle Amnesie der Unfall- und Notaufnahme eines Krankenhauses über Nacht: die Blutflecken sind bei Sonnenaufgang weggewischt und die Erinnerungen an die Toten gelöscht. Egal aber ob es um Erdrutsche in den Anden oder die Demütigung eines einst mächtigen Politikers in Nigeria geht: jeden Morgen beginnt die ganze News-Kakophonie auch in der Schweiz von neuem, und zwar, obwohl hier keiner etwas damit zu tun hat – oder etwas damit anfangen kann.

Sie meinen: wir haben keinen Kaffee bestellt, er kommt trotzdem, ist aber höchstens lauwarm –  und dann auch noch ungeniessbar?

So in etwa. Mit den allermeisten News verhält es sich wie mit einem diplomatischen Dossier über die neuesten Entwicklungen in Kiew, das eigentlich auf dem Schreibtisch eines Ministers hätte landen sollen, aber versehentlich auf dem Frühstückstisch eines Elektrikers in Chur landet. Der könnte die Nachricht netterweise retournieren und höflich darauf hinweisen, dass er damit nichts anfangen könne und es sich um eine Verwechslung handeln müsse. Das würden Sie wohl auch, wenn Ihnen die Gewohnheit nicht die Sinne vernebelt hätte.

Der deutsche Philosoph Georg Wilhelm Hegel hatte also unrecht, als er postulierte, dass in einer modernen Gesellschaft die Religionen durch die Nachrichten ersetzt würden – und wir durch ihren Siegeszug neue Erkenntnisse, mehr Wissen von der Welt, mehr individuelle Freiheit geniessen könnten?

Wir könnten, tun das aber oft nicht. Ein Beispiel: das arktische Eis schmilzt und das wird schwerwiegende, anhaltende Auswirkungen auf Meeresspiegel und Wetter auf der ganzen Welt haben. Ein paar Leute kümmert das, aber seltsamerweise sind Nachrichten von Taylor Swifts Beinen dann doch oft interessanter. Die Sängerin, so konnte man kürzlich lesen, hat sie für 40 Millionen Dollar versichern lassen. Und ja, sie sind schön in einer Weise, die einer Beschreibung zu trotzen scheint: sie sind irgendwie gewöhnlich und doch perfekt. Sie sind lang, aber noch nicht freakig. Sie scheinen durch ihre Länge ungebrochen, fest und doch nachgiebig und weich… Menschen, die die globale Erwärmung ernst nehmen, bekommen hier einen Schlaganfall. Berechtigterweise: denn obschon wunderbar, sind Taylor Swifts Beine von geringer Bedeutung im Vergleich zum Schicksal unseres Planeten. Dabei interessieren wir uns für Taylor Swifts Beine nicht, weil wir besonders ignorant wären, sondern weil wir zum Schutze des Polareises wenig beizutragen haben. Aber: wenn irgendwem wirklich daran gelegen wäre, die abschmelzenden Polkappen ins öffentliche Bewusstsein zu rücken, müsste er mindestens unser Leserverhalten ernster nehmen – und damit seinen Job. Wichtige Nachrichten müssen nämlich nicht nur als «wichtig» bezeichnet werden, sondern auch betörend sein – mindestens so betörend wie Taylor Swifts Beine. Dann haben auch die Polkappen wieder eine Chance.

Wir brauchen gut gemachte Nachrichten. Einverstanden. Wir haben dann aber trotzdem noch ein Massenproblem: irgendwo passiert ja immer etwas. Wie komme ich als Konsument der schieren Masse bei, wenn ich «gut informiert» sein will?

Es fühlt sich tatsächlich so an, als gäbe es immer eine unendliche Menge von neuen Nachrichten. Das ist aber nur bedingt so: wenn Sie aufmerksam die Nachrichten verfolgen, werden Sie feststellen: die Details einer Geschichte mögen sich ändern, was Personal, Zeit und Ort angeht – aber die dahinter aufscheinenden Kernfragen sind immer dieselben. Ein paar Beispiele: in Neuseeland stand der Bürgermeister von Auckland vor kurzem wegen Sexting mit seiner Geliebten und wegen Missbrauchs seines Reisebudgets in einem ganz schlechten Licht da. In Australien stand zeitgleich ein Parlamentarier – übrigens die Spitze der staatlichen Ethikkommission – im selben Licht: ihm wurde in der Presse eine Affäre angelastet, kompromittierende Photos geisterten herum, auch er musste sich den Vorwurf von Missbrauch öffentlicher Gelder gefallen lassen. Jüngst fand sich auch der Ex-Chef der britischen Co-Op-Bank in einem Sex- und Drogen-Skandal wieder. Und erinnern Sie sich: Vor einiger Zeit gab es da einen amerikanischen Präsidenten, der…

… ich habe verstanden: all diese Geschichten kreisen um die eine gleiche archetypische Geschichte.

Genau. Und die lautet so: Männer in verantwortungsvollen Positionen kriegen Probleme, weil ihre sexuellen Wünsche sie zu Dingen verleiten, die, wenn veröffentlicht, beschämend sind. Was hier als Stoff für vier News-Stories daherkommt, ist genau besehen nur eine Geschichte, die mit verschiedenem Personal durchgespielt wurde. Und das gilt für sehr viele Geschichten, die man uns als Nachrichten präsentiert. Die Suche nach Archetypen – nach den Grundmustern, die sich oft wiederholen – ist aber nicht bloss ein Spiel, das Philosophen in ihrer Freizeit spielen. Jeder sollte das machen! Denn durch die Ermittlung des zugrunde liegenden Archetypus kommen wir erstens der wichtigen Frage nach dem «Warum?» der Geschichte auf die Spur. Und zweitens erübrigt sich nach der Ermittlung des Archetypus die ausgiebige Lektüre vieler weiterer einschlägiger Fälle – weil wir jeden neuen Fall diesem Typus zuordnen können und im Grunde wissen, was passierte. Kein Medienvertreter hat aber ein Interesse daran. Klar: denn wüssten genug Menschen davon, würden erst die Konsumentenzahlen vieler Medien sinken – und dann ihre Werbeerträge.

Gutes Stichwort. In Zeiten der andauernden Medienrevolution – das alte Modell der Finanzierung von Zeitungen, ein Drittel Aboerträge, zwei Drittel Werbung, funktioniert nicht mehr – fragt sich: Müssen wir uns an höhere Preise für gute Nachrichten gewöhnen?

Nein, denn Nachrichten müssen nicht zwingend teuer sein; sie müssen nur schlau sein. Die meisten Zeitungen haben etwa diese absurde Idee, dass, um die Welt zu verstehen, ein weltweites, kostspieliges Korrespondentennetz unabdingbar sei. Aber: wer erfassen will, was ist, muss nicht bei allen Dingen dabei sein – sondern darüber nachdenken. Und Nachdenken ist zwar schwierig, aber nicht teuer.

Wenn man Sie so reden hört, muss man sich fragen: Spricht eigentlich irgendetwas gegen eine radikale News-Diät?

Nein, im Gegenteil: Wir brauchen News-Diäten! Wir brauchen lange Bahnfahrten, auf denen wir kein Handy- und WLAN-Signal haben. Flugreisen, bei denen wir einen Platz am Fenster und sonst nichts haben, für zwei oder drei Stunden, die Wolken von oben anschauen und uns unserer Präsenz gewahr werden. Nur wenige Meter entfernt von unvorstellbar kalter Luft – und von einem Rolls-Royce-Motor unter den breiten aschgrauen Tragflächen, dessen Disziplin und Tapferkeit uns helfen, unsere eigenen Gedanken treiben zu lassen…

Sie meinen, etwas weniger prosaisch: Die konsequente Innenschau ist ein probates Mittel gegen äusserliche News-Überdosen?

So ist es. In uns lauern so viele problematische, wenn nicht düstere Wahrheiten, dass wir gut daran tun, uns zuerst mit ihnen zu beschäftigen denn mit denen der anderen. Wenn wir über unsere eigenen Probleme weniger wissen als über die von Prinz Harry, so haben wir schliesslich auch nichts mitzuteilen. Nur wer seine eigenen Schattenseiten kennt, versteht, dass die Nachrichten genau hier ansetzen: Sie führen Stellvertreterdebatten, deren Ausgangspunkte in uns selbst liegen, in nicht ausgetragenen Konflikten, die sehr privat und individuell sind.

Wäre es – statt einer Diät – nicht ratsamer, den Medienkonsum stärker zu personalisieren? Also Inhalte anzufordern, von denen man glaubt, sie seien eine persönliche Bereicherung?

Das übernehmen doch grosse Nachrichtenstationen längst für Sie. Sie wollen uns Uhren und Telefone verkaufen, damit wir an ihr Netz angeschlossen sind. Wenn wir uns dem entziehen wollen, ist der erste Schritt dazu die Befreiung vom Nachrichten-befeuerten Eindruck, dass wir in einer Zeit von besonderer Bedeutung leben, mit unseren Kriegen, unserer Schuld, unseren Unruhen, unseren fehlenden Kindern, unseren After-Premiere-Partys, unseren Schurkenraketen.

Wie tun wir das?

Wir müssen uns gelegentlich in die Lage versetzen, das Ganze von oben anzuschauen und festzustellen, dass die Aktualität ein Nichts ist im Vergleich zur Geschichte. Dass das Studium eines alten, dicken Buches oft viel gehaltvoller ist als wochenlanger, zielgruppenkonformer Nachrichtenkonsum. Dass es sich manchmal lohnt, eine Haltung auszuprägen, die einen aus dem Hamsterrad hinausführt – aber womöglich zurück in die Zeit von Handbibliotheken, von Museen, von Antiquariaten. Beschäftigen Sie sich mit Turmfalken und Schneegänsen, mit dem Gesicht von Zikaden, mit Lemuren und kleinen Kindern – alles Geschöpfe, die sinnvollerweise kein Interesse an unseren eigenen Melodramen zeigen; Gegengewichte unserer Ängste und Selbstbezogenheit. So gewinnen wir ein Gefühl für Überzeitliches – und sind fast schon raus aus dem Hamsterrad des Nachrichtengeschäfts.

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