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Wider die Enteignung der Sprache

Ob man jetzt «Gemse» oder «Gämse», «rau» oder «rauh» schreibt, ist auf den ersten Blick wirklich keine weltbewegende Entscheidung. Die Frage, ob es einen Sinn habe, überlieferte Schreibkonventionen durch ungewohnte Neuerungen zu ersetzen, ist aber bereits ziemlich grundsätzlicher Art. Noch zentraler ist die Frage, ob es denn Aufgabe des Staates sei, die Rechtschreibung verbindlich festzulegen, […]

Ob man jetzt «Gemse» oder «Gämse», «rau» oder «rauh» schreibt, ist auf den ersten Blick wirklich keine weltbewegende Entscheidung. Die Frage, ob es einen Sinn habe, überlieferte Schreibkonventionen durch ungewohnte Neuerungen zu ersetzen, ist aber bereits ziemlich grundsätzlicher Art. Noch zentraler ist die Frage, ob es denn Aufgabe des Staates sei, die Rechtschreibung verbindlich festzulegen, oder ob nicht der Verweis auf ein privat herausgegebenes Referenzwerk, bzw. auf mehrere konkurrierende Referenzwerke, die darstellen, was allgemein üblich und bewährt ist, einer staatlich beauftragten Kommission vorzuziehen wäre, die das allgemein Übliche verändern will. Schliesslich stellt sich auch die Grundsatzfrage nach dem Stellenwert der Einheitlichkeit. Wie wichtig ist die rigorose Ausschaltung von Streitfragen und Grenzfällen, wie schädlich ist eine Bandbreite, die regionalen Eigenheiten und persönlichen Vorlieben Raum lässt? Es wird in dieser Ausgabe der Schweizer Monatshefte nicht für die orthographische Anarchie geworben. Konventionen erleichtern das Zusammenleben und das gegenseitige Verständnis und verhindern die Verluderung. Aber die Sprache lebt und entwickelt sich, und wir sähen als Garanten eines vernünftigen Nachvollzugs von Veränderungen lieber Verlagsunternehmen, die permanent der wissenschaftlichen und publizistischen Kritik und dem Konkurrenzdruck ausgesetzt sind, als eine staatlich beauftragte Kommission mit undurchsichtigen Querverbindungen zum Verlagswesen.

Wenn sich Zeitungsredaktionen und Verlage standhaft weigern, dem verordneten sprachbehördlichen Druck nachzugeben, und wenn Dichter und Schriftsteller Alarm schlagen, weil die sogenannten Vereinfachungen zu einem Verlust an Ausdrucksmöglichkeit und an Präzision führen, so geht es um Grundsätzliches. Soll man einem Autor verunmöglichen, den Unterschied zwischen «allein stehend» und «alleinstehend» im Schriftbild auszudrücken? Jeder sensible Sprachbenützer sollte sich weigern, mitzumachen, wenn ihm von Amtes wegen durch unsinnige Schreibweisen differenzierte Unterscheidungsmöglichkeiten weggenommen werden.

Wie weiter? Die beste Option ist ein Übungsabbruch in Verbindung mit einer grosszügig bemessenen intertemporalen Toleranzfrist. Wir plädieren darum in dieser Ausgabe für ein Time-out und für einen schrittweisen Ausstieg, und wir möchten darüber eine echte Auseinandersetzung eröffnen. Selbst wenn die staatlichen Maschinerien nicht mehr zu stoppen wären, gibt es eine andere, freiheitliche Option: Die Unterwanderung der Allgemeinverbindlichkeit – durch jene kreative Dissidenz, die sich weigert, jede verordnete Neuerung mitzumachen, Rücksicht nimmt auf Traditionen, die ihren guten Sinn hatten, und gleichzeitig offen ist für eine subtile Weiterentwicklung des spontanen Sprach- und Schreibgebrauchs.

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