Gehobene Gaumenfreuden
Die helvetische Küche entwickelt sich weiter. Als Gegenprogramm zu Monsterportionen mit Käse und Kartoffeln haben wir sieben Gänge mit viel lokalem Gemüse ausprobiert.

Ein schwelgerischer Abend in Basel mit Sarah Spale und Anita Haldemann, aufgezeichnet von Ronnie Grob und Vojin Saša Vukadinović, fotografiert von Matthias Willi.
Was die Schweizer Küche im Jahr 2022 kann, zeigt sich dort, wo sie konstant Innovationsfähigkeit beweisen muss: in der Spitzengastronomie. Wir wollten die Probe aufs Exempel machen und herausfinden, ob uns ein hiesiges Restaurant der Haute Cuisine zu überzeugen vermag. Unsere Wahl fällt auf das von Dragan Rapić geführte «Roots» in Basel, wo Pascal Steffen seit 2017 Küchenchef ist; nur ein Jahr später erklärte «Gault Millau» das Restaurant zur «Entdeckung des Jahres» und verlieh ihm 17 Punkte. Einen Michelin-Stern gab es obendrauf. Die kulinarische

Erkundung wollten wir gern teilen und fanden uns deshalb mit Schauspielerin Sarah Spale («Wilder») und der Kuratorin des Kunstmuseums Basel, Anita Haldemann, zu einem siebengängigen Menü am Rheinufer ein. Zum gehobenen Genuss wollten wir klären, was die Schweizer Küche eigentlich ausmacht.
Begleitet von Weisswein, Gourmetsaft und köstlichen Amuse-Bouches versuchen wir zunächst, für uns selbst zu klären, was die hiesigen Küchengewohnheiten auszeichnet. Zur Einstimmung liegt ein altes Kochbuch auf dem Tisch, herausgegeben von Nestlé, das den Eidgenossen in den 1970er-Jahren kantonale Spezialitäten vorstellte. Unter den Rezepten aus dem Kanton Basel finden sich der Rheinsalm nach Basler Art, die geröstete Mehlsuppe und der Milkentopf mit Blätterteig. Oder aber geschmorte Tauben auf Brot; gerechnet werden hier «für 8 Personen 8 Tauben», gereicht werden sie mit Englischbrotscheiben, wie Toast damals genannt wurde.
Das uns servierte Menü ist arm an Kohlehydraten, viel Wert werde zudem auf regionales Gemüse aus Basel gelegt. Grösser könnte der Unterschied zur herkömmlichen Schweizer Küche mit mächtigen Portionen von Kartoffeln, Käse und Speck kaum sein. Die Essgewohnheiten haben sich mit dem technischen Fortschritt eben verändert; niemand von uns hat seinen Tag mit schweisstreibender Feldarbeit verbracht.
Raclette ohne Käse
Gibt es nun eine Definition der schweizerischen Küche, auf die sich alle einigen können? «Meine Erinnerungen an Kindheitsküche ist auch Miracoli, denn meine berufstätige Mutter musste schnell kochen», erzählt Spale, die in Basel aufgewachsen ist. «So richtig gekocht wurde bei uns hauptsächlich am Wochenende.» Ihr absolutes Lieblingsgericht als Kind sei Raclette gewesen, das aber bitte ohne Käse: «Cornichons, Maiskolben und Kartoffeln mit Saucen, das war für mich das Grösste!»

Die aus dem Kanton Bern stammende Anita Haldemann kann sich überdimensionierter Schinkenkeulen («Hamme») im Hause ihrer Grossmutter entsinnen. Oder Zunge mit Kartoffelstock, gedörrten Bohnen und Tomatensauce. Fondue nennt bezeichnenderweise niemand. Das 1952 von Mövenpick eingeführte und zum Skilagergericht verkommene Riz Casimir ebenso wenig.
Dafür herrscht Einigkeit, was die Sossenordnung auf dem heimischen Kinderteller anbelangte, wenn es Kartoffelstock gab: «Team Seeli» gewinnt. Wie wichtig die Vorstellung einer spezifisch schweizerischen Küche tatsächlich ist, weiss hingegen der nicht in der Schweiz Aufgewachsene zu berichten: Unter den Aufgaben, die bei Einbürgerungstests gestellt werden, finden sich bisweilen auch Bilder, bei denen landestypische Fleischgerichte identifiziert werden müssen. Wer noch nie einen Wurst-Käse-Salat gegessen hat, riskiert hier Punkteabzug. Schweizermacher 2022.
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Dieser Artikel ist in Ausgabe 1094 - März 2022 erschienen. Er ist nur registrierten, zahlenden Nutzern zugänglich. Vollen Zugang erhalten Sie über unsere attraktiven Online- und Printangebote.
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