Das unentschuldigte
Fehlen der Vernunft
Der Homo logicus hat ausgedient.
Zu Beginn der Aufklärung galt der Mensch als Vernunftwesen und das rationale Argumentieren als Königsweg zur Lösung von Problemen und zum Erkenntnisgewinn. Dieses Menschenbild wurde im 20. Jahrhundert gründlich auseinandergenommen. Erkenntnisse aus der Psychologie, den Neurowissenschaften und der Verhaltensökonomie präsentieren den Menschen nur mehr als Tier unter Tieren, geleitet vornehmlich von Impulsen aus den Tiefen des Unbewussten. Immer wieder wurde nachgewiesen, dass wir Entscheidungen nicht aufgrund rationaler Abwägungen, sondern aufgrund unbewusster Präferenzen treffen und erst im Nachhinein allerlei Gründe suchen und aufrufen, um unser Verhalten zu plausibilisieren. Ist die aufklärerische Idee des vernunftbestimmten Subjekts demnach obsolet geworden?
Paradoxerweise führen die modernen Wissenschaften den Menschen als irrationales Wesen vor, gelangen zu dieser Erkenntnis aber dank rationaler Schlussfolgerungen. Es scheint also möglich, die Vernunft «wegzuerklären», indem man sich ihrer bedient. In den Naturwissenschaften selbst wird nur für zwei Arten von Sätzen Wahrheit beansprucht: zum einen für empirische Sätze, also solche über die Beschaffenheit der Wirklichkeit (etwa: «Goethe ist 1832 gestorben»), zum andern für analytische, die per Definition wahr sind («Kugeln sind rund»). Um überhaupt empirisch vorgehen zu können, braucht es allerdings die Argumentation. Es gibt keine Empirie im Sinne empirischer Daten, die für sich genommen – ohne Begründung – zu Erkenntnissen führen. An jedem einzelnen Experiment, seinem konkreten Aufbau und der Deutung seiner Ergebnisse hängt eine ganze Kette von Argumenten. Und auch diese können mehr oder weniger überzeugend ausfallen.
Logik als brüchige Diskussionsstütze
Kein Mensch interagiert mit anderen in einem kommunikativen Vakuum, frei von Zeitdruck, von unterschiedlichen Interessen und auf der Grundlage gleichverteilten Wissens. Daher taugt die Logik als Stütze in Diskussionen auch nur bedingt: Sie klammert das Subjekt aus und beweist nur die Gültigkeit oder Ungültigkeit von Schlüssen. Bereits die antike Rhetorik schlägt deshalb eine Alternative vor: Nach Aristoteles muss Argumentieren darauf angelegt sein, ein bestimmtes Publikum im Hinblick auf einen bestimmten Gegenstand zu überzeugen. Denn immer geht es beim Argumentieren um ein konkretes Handlungsproblem: Ein Plan ist zu entwickeln, ein Erwartungsbruch zu rechtfertigen oder ein Dissens zu bereinigen. Zweck des Argumentierens ist – zum Unglück vieler Argumentationsmodelle – nicht primär das theoretische Überzeugen in Form eines Wissensabgleichs, sondern das emotionale Überzeugen. Aus diesem Grunde bestimmen Drohungen, emotionale Appelle, hartnäckige «Nein, doch»-Schlagabtäusche und unlautere Strategien wie das Lancieren von Falschbehauptungen, Lügen oder sonstige Manipulationen Diskussionen in der Regel auch öfter als die logische Argumentation. Sollten wir demnach also auf sie verzichten?
«Sind wir dazu verdammt, uns selbst immer wieder in dem zu bestätigen, was wir bereits denken?»
Dass es unvernünftig wäre, in ihr die Lösung all unserer kommunikativen Probleme zu sehen, zeigt bereits das sogenannte Münchhausen-Trilemma: Es besagt, dass jeder Versuch, eine Aussage sicher und letztgültig zu beweisen, zu einem von drei möglichen Ergebnissen führt: einem Zirkelschluss, einem unendlichen Regress oder dem Abbruch des Verfahrens. Glücklicherweise, müsste man hier ergänzen, machen wir uns also in Alltagsgesprächen und Diskussionen nur selten auf die Jagd nach Letztbegründungen. Was wir allerdings ständig versuchen ist, unsere Aussagen nach bestimmten Regeln zu strukturieren. Auf diese Weise ermöglichen wir es anderen, unsere Schlussfolgerungen nachzuvollziehen. Auch dabei kann aber manches schiefgehen: Bei Fehlschlüssen etwa folgt eine Aussage nicht aus den angegebenen oder angenommenen Voraussetzungen. Sie begründen sich also in der formalen Struktur eines Arguments und sagen nichts über den Wahrheitsgehalt der Bedingungen selbst aus. Ein Beispiel für die vielen Varianten, in denen sie uns begegnen, ist die Scheinkorrelation: Eine solche fände sich etwa zwischen dem Schokoladenkonsum in den europäischen Ländern und der Zahl ihrer Nobelpreisträger (leider ohne kausalen Zusammenhang). Beliebt im täglichen Umgang ist auch das Non-sequitur. Aus «Wenn die Glühbirne zerbräche, würde es im Zimmer dunkel» folgt nicht: «Das Zimmer ist dunkel, also ist die Glühbirne zerbrochen.»
In der Praxis erschweren insbesondere kognitive Verzerrungen die vernünftige Diskussion. Sie verpassen dem Wahrnehmen, Erinnern und Urteilen des Menschen einen systematischen Drall ins Irrationale und erschweren, dass wir Erfahrungen sammeln, die unsere Überzeugungen in Frage stellen. Psychologische Experimente haben etwa gezeigt: Während wir dazu neigen, uns innerlich selbstwertdienlich aufzuplustern, attestieren wir Menschen mit abweichenden Ansichten ebenso unbewusst ein charakterliches oder mentales Defizit. Aus einer einzelnen Erfahrung erstellen wir allgemeine Regeln, über- oder untertreiben Ereignisse in eine uns genehme Richtung oder übersehen sie selektiv, falls sie unseren Auffassungen widersprechen.
Scheinrationalität in der politischen Debatte
Das Phänomen kognitiver Verzerrungen wirft ein interessantes Licht auf den Verlauf auch aktueller politischer Debatten: Leicht sehen wir dort bestätigt, dass Menschen (natürlich die anderen, nicht wir selbst) vorzugsweise auf Basis derjenigen Daten diskutieren, die gerade verfügbar oder einfach zu beschaffen sind. Die wiederholte Wahrnehmung einer anfangs neutral beurteilten Sache trägt dann bereits dazu bei, dass wir sie positiver beurteilen. Und unsere Wahrnehmungen und Urteile verschieben sich nicht grundlos auf diese Weise: Wiederholte Darbietung beispielsweise erlaubt, zwischen sicheren und gefährlichen Umständen zu unterscheiden, und bildet eine wichtige Quelle für psychologische und soziale Stabilität. Wir ziehen allerdings den Status quo, wie es scheint, systematisch der Veränderung vor. Sind wir also dazu verdammt, uns immer wieder in dem zu bestätigen, was wir bereits denken?
Nun, falls wir das nicht wollen, brauchen wir Menschen um uns herum, die anders denken als wir. In der Realität tun wir uns aber leider vorzugsweise mit solchen zusammen, die unsere Meinungen teilen – beispielsweise in medialen Resonanzräumen. Auch ganze Gruppen haben die Neigung, Mitglieder, die andere – mitunter nur leicht abweichende – Meinungen vertreten, zu marginalisieren. So entsteht eine Illusion der Einstimmigkeit.
Fatale Letztbegründungen
Nachdem ich in der Form eines Selbstwiderspruchs so viele schöne Gründe zusammengetragen habe, die gegen das «rationale Argumentieren» sprechen – warum ist dasselbe weiterhin das beste Instrument, um Probleme (vernünftig) zu lösen? Wie Sie an dieser Stelle sehen, beweist die Tatsache, dass wir Fehlschlüssen und kognitiven Verzerrungen überhaupt auf die Spur kommen können, dass Menschen grundsätzlich das Vermögen haben, rational vorzugehen. Andererseits zeugt es von unserem Bedürfnis nach wahren Aussagen, nicht nur von unseren Mitmenschen, auch von uns selbst. Wer sich in Diskurse einbringt, erhebt unweigerlich einen Wahrheitsanspruch (auch wenn er ihn vielleicht nicht einlöst). Dabei gilt: Daten und Angaben, die zur Untermauerung der Aussagen gemacht werden, lassen sich fälschen – was jemand allerdings nicht vortäuschen kann, ist die sinnvolle Verknüpfung von Aussagen.
Ziel jeder anständigen Debatte muss es also sein, Widersprüche in Aussagen aufzuzeigen, wackelige Letztbegründungen zu entlarven. Innerhalb einer Kurzformel wie «Ich halte Beleidigungen für falsch, Sie Hornochse» ist das einfach, möglich ist es aber auch in schwierigen Fällen wie «Deregulierung ist das Heilmittel für alles (ausser sie ist gerade nicht zu meinem Vorteil)» oder «Gewalt ist verdammenswert, ausser für die gute Sache (also meine)». Dazu braucht es allerdings zwingend eines: das uneingeschränkte Recht für jedermann, alle Ansichten offen und (soweit möglich) gleichberechtigt einzubringen, denn nur so können andere prüfen, ob die Argumentationen plausibel erscheinen. Damit ist noch nicht entschieden, ob man sich auf eine Aussage einigt oder nicht – es geht bloss um den offenen Diskussionsraum.
Der kommt letztlich auch der Gesprächsqualität zugute. Denn: Wer argumentative Problemstellen benennen kann, bremst den hochtourigen Leerlauf von Debatten. Das macht sie nicht nur interessanter, sondern auch ergiebiger. Und: Ein tieferes Verständnis für die Tücken ihrer Struktur löst den einzelnen aus der Erregungsspirale. So kann man den eigenen Unmut in konkrete Schritte überführen oder, je nach charakterlicher Disposition, gelassener auf das reagieren, was sich scheinbar nicht ändern lässt.