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Brasilien und Fussball II

«Brasilianer werden ist schwierig, weil es eigentlich keine Brasilianer gibt.» Der Medienphilosoph Vilém Flusser, der 1939 vor den Nazis aus Prag nach London und später nach São Paulo floh, wo er bis 1971 lebte und lehrte, wusste zweifellos, wovon er sprach. Brasilien ist ein Durcheinander, eine portugiesisch-afrikanisch-indianisch-japanisch-deutsch-spanisch-italienische Gemengelage erster Güte. Der Europäer wundert sich über die […]

«Brasilianer werden ist schwierig, weil es eigentlich keine Brasilianer gibt.» Der Medienphilosoph Vilém Flusser, der 1939 vor den Nazis aus Prag nach London und später nach São Paulo floh, wo er bis 1971 lebte und lehrte, wusste zweifellos, wovon er sprach. Brasilien ist ein Durcheinander, eine portugiesisch-afrikanisch-indianisch-japanisch-deutsch-spanisch-italienische Gemengelage erster Güte. Der Europäer wundert sich über die Vielfalt der Herkünfte, von denen die brasilianischen Freunde erst nach der zweiten Cachaça erzählen; den Brasilieiro selbst lassen Ursprünge kalt. Er kennt zumeist ein paar Fragmente der familiären Einwanderungsgeschichten und verspürt ansonsten keine Lust, sie weiter zu ergründen. Zu viel Geschichte tötet bloss die lebendige Gegenwart.

Flusser spricht von einer «ausserhistorischen Welt», in der die Brasilianer leben, wobei sich diese aus zahlreichen Parallel- und Gegenwelten zusammensetzt. Die wohl wichtigste ist neben der Religion jene des Fussballs. Die Geschichte des brasilianischen Fussballs ist nicht Reminiszenz, sondern lebendige Gegenwart – jeder hat eine Empfindung des Tags, an dem die «Seleção» erstmals den Weltmeistertitel im Fussball errang (am 29. Juni 1958 in Schweden).

Der wohlgenährte und geschichtsbewusste Europäer wittert sogleich Eskapismus: Die Brasilianer tauchen ein in eine Welt aus Brot und Spielen, um ihre harte Existenz zu vergessen. Diese Sicht der Dinge ist jedoch grundfalsch. Die meisten Brasilianer darben erstens nicht, sondern arbeiten hart an ihrem Aufstieg – und halten überdies die Europäer für ziemlich arrogante Faulenzer. Aber vor allem ist ihnen Fussball etwas ganz anderes als eine Exilstrategie: eine echte «Lebenswelt» mit eigenen Gesetzen, Gesten und Gewohnheiten, ein «Bote einer echten Sinngebung» (Flusser).

Jeder hat in seiner Stadt seine Mannschaft (in Belo Horizonte: Atletico oder Cruzeiro), jeder weiss alles über die «Seleçao». Noch die kleinste Muskelzerrung der Nationalspieler wird registriert, die Körper der Spieler werden zu quasisakralen Leibern. Man muss Pedro Alvares Cabral nicht kennen, um Brasilien zu verstehen, denken die Brasilianer. Aber wer Garrincha, Pelé und Socrates nicht versteht, wird das Wesen Brasiliens niemals erkennen.

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