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Geben Sie Ihre Stimme dem Algorithmus
Illustration von Stephan Schmitz.

Geben Sie Ihre Stimme dem Algorithmus

Der «KI-Wähler» kann dem Bürger helfen, besser informiert abzustimmen – und das künftig gleich für ihn übernehmen.

Wollen wir die direkte Demokratie erhalten, sollten wir sie auch im digitalisierten Zeitalter beleben, nicht in fester Urform, sondern als flexible Struktur, die auf Grundwerten beruht – vielleicht in neuer Form. Digitalisierung bringt Chancen, und wenn ihre Risiken sorgfältig in die Planung einbezogen werden, können diese Chancen einer Verbesserung der Demokratie dienen. Das bedingt, neue Wege zu gehen – digitaldemokratisch unterwegs! Wie also sollte die Demokratie bei der Digitalisierung vorgehen, ohne ihre eigenen Grundwerte zu gefährden? Nach dem Trial-and-Error-Prinzip.

Grundsätzlich macht Digitalisierung Prozesse einfacher, schneller und kostengünstiger. Sie spart Kosten, indem sie physische demokratische Prozesse ersetzt: Informationen werden vollständiger und schneller zugänglich, Menschen können ohne persönliche Interaktion kommunizieren und zusammenarbeiten, Entscheidungsprozesse werden günstiger und rascher durchgeführt. Diese Schnelligkeit und der Zugriff auf vollständige Information machen verbesserte Entscheidungsprozesse möglich und senken die Kosten. Das bedeutet, dass sich jede Demokratie erlauben könnte, wie in einem Labor mit der Digitalisierung zu experimentieren. Die Kosten der Experimente sind relativ tief, die Resultate daraus liegen rasch vor und der Erkenntnisgewinn – insbesondere aus Fehlern – ist von unschätzbarem Wert für die Weiterentwicklung der Demokratie.

Auf neuen digitaldemokratischen Pfaden

Die Digitalisierung unserer Gesellschaft tritt aktuell in eine neue Phase – alle Welt spricht über ChatGPT, das Wundertool der künstlichen Intelligenz (KI). ChatGPT trainiert sich wie andere LLMs (Large Language Models) anhand der ihm zur Verfügung gestellten Daten autonom und stellt das aufbereitete Wissen in der gewünschten Form zur Verfügung. Es ist mit einer Allgemeinenzyklopädie vergleichbar, die laufend neues Wissen aufnimmt und aufbereitet und dieses Wissen empfängergerecht auf Kommando wiedergibt.

Dieser Informationsprozessor, der sich selbst trainiert, ist das ideale Instrument, um Bürger zu informieren, zum Beispiel über eine Abstimmungsvorlage. Unser von den jüngsten LLM-Versionen inspiriertes Tool «Artificial Intelligence Voter» (zu Deutsch: «KI-Wähler») könnte uns vor einer Abstimmung umfassend informieren und die Vor- und Nachteile jeder anstehenden Entscheidung optimal aufbereiten. Der KI-Wähler sollte natürlich bessere Informationen liefern als die aktuellen Versionen von ChatGPT, aber künftige LLM-Versionen sollten dieses Ziel erreichen.

Doch der KI-Wähler sollte noch mehr können. Der ideale Bürger stimmt nämlich nicht allein aufgrund der Information ab, die er bekommt oder sich erarbeitet. Er hat auch einen Schatz an Erfahrungen und ein Weltbild, die seine Präferenzen und Werte prägen. Was er auf den Stimmzettel schreibt, ist das Ergebnis einer simplen Formel: Information + Präferenzen = Stimmverhalten.

Wenn der KI-Wähler sich auch noch die Präferenzen eines Bürgers «antrainieren» könnte, würde er vor der Abstimmung gleich entscheiden wie «sein» Bürger – falls dieser sich optimal informiert hat. Wäre das nicht praktisch? Der Bürger bekäme Hilfe dabei, sich zu informieren, und könnte den KI-Wähler an seiner Stelle abstimmen lassen – er könnte sicher sein, dass der KI-Wähler gemäss seinen Präferenzen abstimmt, aber bei jeder einzelnen Abstimmung auch optimal informiert ist.

Selbstverständlich wird es zentral sein, den KI-Wähler gegen Manipulationen abzusichern: Der Algorithmus muss standardisiert, für alle gleich benutzbar und gegen Eingriffe geschützt sein. Man könnte den KI-Wähler auch so programmieren, dass er zum Beispiel nie emotional entscheidet – im Gegensatz zum Bürger – oder dass er besonderen Wert auf eine langfristige Perspektive bei seinen Entscheidungen legt. Der KI-Wähler wäre im Idealfall eine bessere Version seines Bürgers, informiert, sachlich und weitsichtig. Allerdings ist die ­persönliche Stimmabgabe ein intrinsischer Wert für die meisten Menschen in einer Demokratie und macht das Wesen einer Demokratie erst aus. Das und mögliche Manipulationen des KI-Wählers müssen berücksichtigt werden.

Eine Person, ein KI-Wähler, eine Stimme

Auf dieser Grundlage schlagen wir deshalb ein Abstimmungsverfahren in zwei Runden vor. In einer Vorbereitungsphase sollten alle Bürgerinnen und Bürger Zugang zum gleichen Typ von KI-Assistenten bekommen, unserem KI-Wähler, der auf zwei Dinge trainiert wird: Erstens lernt er die Vorlieben und Werte seines Bürgers durch einen Frage-Antwort-Prozess kennen und sammelt alle über den Bürger verfügbaren Daten mit dem Ziel, einen «digitalen Zwilling» seines Benutzers zu schaffen. Dieser repliziert die Werte und Präferenzen des Bürgers so gut wie möglich.

Zweitens kann der KI-Wähler mit grossen Datenbanken an Wissen trainiert werden, welche für die Entscheidung über bestimmte politische Vorschläge relevant sind. Ein trainierter KI-Wähler könnte dann errechnen, wie der Bürger, den er repliziert, über bestimmte Initiativen oder Gesetzesvorlagen abstimmen würde. In einer ersten Abstimmungsrunde würden alle KI-Wähler abstimmen sowie das Resultat der KI-Abstimmung publiziert. Alle Bürger erfahren so, wie ihre «besser informierten» digitalen Zwillinge entscheiden würden. Diese Abstimmung dient lediglich als Information für die Bürger.

In einer zweiten Abstimmungsrunde stimmen die Bürger selbst ab. Dabei folgen sie entweder dem Beispiel ihres KI-Wählers oder auch nicht. Die Bürger behalten also ihr Entscheidungsrecht, wenn sie es vorziehen, die Entscheidung des KI-Wählers nicht zu replizieren. Das Ergebnis, das umgesetzt wird, ist das Abstimmungsergebnis der zweiten (menschlichen) Abstimmung.

Der Vorteil unseres Verfahrens liegt darin, dass jeder Bürger sich so den «Rat» seines optimal informierten KI-Wählers einholt, wie er gemäss seinen Präferenzen abstimmen sollte. Dennoch behält er die volle Kontrolle über sein Stimmrecht: Die KI-Abstimmung ist nur ein Hinweis darauf, was für ihn die optimale Entscheidung wäre.

Das demokratische Prinzip «gleiches Stimmrecht für alle» wird in diesem Verfahren dadurch gewährleistet, dass jeder Bürger Zugang zu einem KI-Wähler von gleicher Qualität hat. Dieses gleiche Recht für alle müsste im Wahlgesetz festgehalten und vom Staat durchgesetzt werden. Auch sind viele Varianten des Verfahrens möglich. Zum Beispiel könnte man den Bürgern erlauben, ihre KI-Wähler nicht an der ersten Runde einer Abstimmung teilnehmen zu lassen, auch wenn sie dadurch auf den Rat eines Experten verzichten, der ihre Werte und Präferenzen teilt. Man könnte den Bürgern auch gestatten, die KI-Wähler überhaupt nie zu benutzen.

Der KI-Wähler erlaubt es den Bürgern, auf einem Informationsniveau abzustimmen, das demjenigen eines Experten in der Abstimmungsfrage nahekommt. Ein Bürger, welcher der Entscheidung seines KI-Wählers folgt, hat die Gewissheit, so zu entscheiden, als ob er selbst ein Experte wäre. Ein hochentwickelter KI-Wähler könnte zudem verschiedene Perspektiven abwägen, z.B. eine langfristige gegenüber einer kurzfristigen Perspektive.

Unterstützen, nicht manipulieren

Manipulationsrisiken gibt es bei Algorithmen immer, aber sie können weitgehend eliminiert werden: Die Resultate der KI-Abstimmung werden publiziert, sodass die Bürger sehen, wie die KI-Wähler entscheiden würden. Doch sie behalten die Möglichkeit, sich selbst zu informieren und im zweiten Wahlgang nach eigenem Gutdünken abzustimmen, wenn sie Zweifel an der KI-Entscheidung haben.

Die KI-Wähler könnten die Bürger sogar dazu bringen, einige Punkte genauer zu betrachten, wie etwa den Vergleich zwischen kurz- und langfristigen Folgen einer Entscheidung. Man kann sagen, dass die KI-Abstimmung grössere Weitsicht garantieren kann als eine menschliche Entscheidung. Wir wollen natürlich nicht, dass die KI den Menschen bei demokratischen Entscheidungen ersetzt. Ganz im Gegenteil: Wir möchten das enorme Potenzial von KI nutzen, um jedem Bürger zu besseren Kollektiventscheidungen zu verhelfen. Er soll über die Vorschläge der KI nachdenken, bevor er abstimmt. Somit erlauben die KI-Wähler besser gestützte Entscheidungen, die aber immer noch von Menschen getroffen werden: Das macht die KI-unterstützte Demokratie leistungsfähiger und vor allem verhilft es der Demokratie zu höherem Ansehen – durchaus auch ein Exportschlager für andere Länder!

Die Eckpfeiler der Demokratie sind zum einen das Stimmgeheimnis und das gleiche Stimmrecht für alle und zum anderen die korrekte Auszählung der Stimmen. Diese Punkte müssen garantiert werden, damit kollektive Entscheidungen die Präferenzen der Wähler widerspiegeln und damit die Bürger Vertrauen in die Demokratie haben und sie erhalten wollen. Unser Verfahren gefährdet diese Eckpfeiler nicht, sondern es garantiert sie. Ist der ganze Prozess digitalisiert und geeignet verschlüsselt, werden Stimmgeheimnis, gleiches Stimmrecht für alle und das Zählen jeder einzelnen Stimme sichergestellt.

Hans Gersbach, zvg.

Natürlich muss man bei solchen neuen Verfahren vorsichtig vorgehen: Jedes neue Verfahren muss ausprobiert werden und sollte jeder Prüfung standhalten. Man muss die Bürgerinnen und Bürger restlos überzeugen oder zumindest Anreize bieten, damit sie bereit sind, das neue Abstimmungsverfahren zu akzeptieren. Auch können bei der Umsetzung unerwartete Nebeneffekte auftreten. Nur ein konsequentes Trial-and-Error-Verfahren wird den KI-Wähler zu einem effizienten Werkzeug für Kollektiventscheidungen machen – und möglicherweise zur besten Werbung für die direkte Demokratie.

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