(2) Wille zum Erfolg
Im Gespräch mit Heim-, Wahl- und Ex-Aargauern zeigt sich: es herrscht Aufbruchstimmung, die politischen und gesellschaftlichen Reformkräfte haben die Oberhand. Neuerdings ist sogar Aargauer Mundartrock angesagt.
Aargauer pflegen ihre Leistungen nicht an die grosse Glocke zu hängen. Ihre unaufgeregte Art hat im harten Wettbewerb um Aufmerksamkeit etwas geradezu Wohltuendes. Einer der international bekanntesten Exponenten des Kantons hat sich darauf spezialisiert, aargauische Sekundärtugenden wie Respekt und Bescheidenheit weltweit in Liedform zu vermarkten. Seine Firma besteht aus acht Angestellten, erwirtschafteein Kanton startet durcht jährlich mehrere Millionen Umsatz und generiert einen für seinen Heimatkanton kaum beziff erbaren Imagemehrwert. Kurz, dieser Musteraargauer – man kennt ihn gemeinhin unter dem Künstlernamen DJ Bobo – verkündete in einem Interview jüngst die neue aargauische Handelsmaxime: «Das Geheimnis des Erfolgs? Nicht stillstehen. Sich immer weiterentwickeln. Versuchen, besser zu werden, die eigenen Fehler auszumerzen. Auf der Bühne neue Ideen entwickeln, Risiken eingehen. Und vor allem: investieren. Ein grosser Teil unseres Knowhows und Geldes geht sofort wieder zurück in die Show und in die Musik.»
Der gelernte Bäcker-Konditor aus Kölliken mit bürgerlichem Namen René Baumann hat seine Lektion gelernt. Sein Plädoyer für Innovation, Investition und Risikobereitschaft könnte aus einer Werbebroschüre des Aargauer Regierungsrats stammen, der im Jahre 2005 unter dem Titel «Kanton Aargau. Ein Standort in Bewegung» eine erfolgversprechende Wachstumsinitiative lanciert hat. Mit einem 25-Punkte-Programm sollen Unternehmen und Privatpersonen dazu bewegt werden, ihren Firmen- oder Wohnsitz in den Aargau zu verlegen. Es winken tiefe Steuern, gute Infrastruktur, hohe Wohnqualität, einfache administrative Abläufe. Während sich Volksvertreter anderer Kantone in ideologischen Grundsatzdiskussionen ereifern, haben sich die Aargauer Politiker, unter Missachtung ihres Parteibüchleins, längst auf ein pragmatisches Vorgehen besonnen und damit begonnen, sich im nationalen und internationalen Standortwettbewerb zu positionieren. Sie planen nicht für die nächsten paar Jahre, sie bauen an der Zukunft des Kantons. In einem Mix aus technisch und biblisch aufgeladenen Worten heisst es im offi ziellen Papier: «Die Finanzpolitik bedarf einer langfristigen Planungsperspektive und darf nicht in einem 12-Monats-Zeitraum definiert werden. Deshalb kann kurzfristig bis 2010 ein temporär negativer Saldo in Aufgaben- und Finanzplan auftreten. Wer nicht investiert, dererntet nichts.»
Alles nur geschickt inszenierte Politpropaganda? Nein, sagt Peter Wanner, Verleger der «Aargauer Zeitung». «Die Regierung wartet mit mutigen Taten auf. Wachstumsprogramm, Steuersenkungen, Bildungsoff ensive, Gemeindereform, wir sind auf dem richtigen Weg.» Die liberale Tradition des Kantons, der in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die helvetische Aufbruchstimmung exemplarisch verkörperte, mache sich nach jahrzehntelangem Lavieren wieder bemerkbar. «Wir starten durch», sagt Wanner, wobei er mit «wir» – ganz unaargauisch – alle Aargauer meint. Der Aargau gleiche zwar einem Flickenteppich aus der ehemaligen Grafschaft Baden, Fricktal, Freiamt und Berner Aargau, aber letztlich sei es eben ein Kanton der Regionen und die «Aargauer Zeitung» die Stimme dieses Kantons. Die Reformkräfte sieht Wanner in der politischen Mitte: «Die SVP sagt prinzipiell immer zuerst einmal nein, und die SP ist strukturkonservativ.» Zweimal hat er sich auf die Nationalratsliste der FDP setzen lassen, zweimal wurde er nicht gewählt. «Die Partei hat mich ausgebremst. Und die Bevölkerung wollte nicht, dass einer zu viel Macht hat.»
Derweil greift die neue Aufbruchstimmung im politischen Establishment weiter um sich. «Im viertgrössten Schweizer Kanton geht eben alles ein wenig schneller», spottet Staatsschreiber Peter Grünenfelder über die Langsamkeit der Behörden anderer Kantone. «Anstelle jahrelangen Wartens auf zentrale Bundesvorgaben werden politische Initiativen gestartet.» Auch Grünenfelder, Bürger von Küsnacht/ZH, stimmt ein Loblied auf den Reformeifer seiner neuen Heimat an: «Der KantonAargau wird defi nitiv zur Benchmark im föderalistischen Konzept.»
Katja Gentinetta, stellvertretende Direktor inder in Zürich domizilierten Denkfabrik Avenir Suisse, die lange an der administrativen Front im Aargau gearbeitet und den erfolgreichen kantonalen Expoauftritt im Jahre 2002 konzipiert hat, pflichtet der Einschätzung Grünenfelders bei. In den Aargauern reife die Gewissheit «Wir sind wieder wer». Der neue Optimismus dürfe jedoch nicht zum Fehlschluss verleiten, dass sich in der Substanz viel verändert habe. «Die Aargauer tun, was sie tun, ohne viel Aufhebens zu machen. Das war schon immer so.» Vielleicht habe früher der Diskurs über die internen Diff erenzen dominiert, während man heute gegen aussen geschlossener auftrete. Gegenüber aller Zentralisierung und Vereinheitlichung hätten die Aargauer jedoch ein geschichtlich gewachsenes Misstrauen bewahrt. Die Aargauer – eine Willensnation im kleinen, die nicht mehr und nicht weniger will, als dass es ihr gut geht.
Thomas Pfisterer, ein Nachkomme der Zschokke-Familie und freisinniges Urgestein der Aargauer Politik, regt an, die jüngsten Veränderungen in einem grösseren Zusammenhang zu sehen. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts habe ein grosser sozialer, politischer und demokratischer Aufbruch stattgefunden, eine Bildungsrevolution nach Heinrich Zschokkes Motto: «Volksbildung ist Volksbefreiung». Damals ging es darum, den Übergang von der Agrar- zur Industriegesellschaft zu bewältigen. Heute stehe ein zweiter grosser Umbruch von der Industrie- zur mobilen Wissensgesellschaft an, ein Umbruch, der vor 100 Jahren mit der Nutzbarmachung der Wasserkraft begann. Laut dem FDP-Ständerat sind die Aargauer dafür ganz und gar geschaff en: «Der Aargau ist ein regionales Gebilde. Da der Einzelne sich an keinem Fixpunkt orientieren kann, hat er gelernt, aus sich selbst zu schöpfen.» Innovation und Eigeninitiative seien sozusagen zur zweiten Natur geworden. Zugleich hätten die Aargauer ihre Stärken jedoch nie privategoistisch verstanden. Der Aargau, der sich mit der Eidgenossenschaft stets arrangieren musste, um sich gegen die angrenzenden Kantone durchzusetzen, habe ebenfalls gelernt, im nationalen Interesse viel in Kauf zu nehmen. «Wir haben die Verkehrsinfrastruktur, Kernkraftwerke und Zwischenlager für radioaktiven Abfall im Interesse unserer Miteidgenossen ausgebaut. Und wir haben es verstanden, daraus einen Standortvorteil zu schaff en.»
Der Autor Hansjörg Schneider, Erfinder von Kommissar Hunkeler, hat den aargauischen Non-Zentralismus in seinen Jugendjahren als Provinzialismus empfunden und das Weite gesucht. Es zog ihn in den 1960er Jahren nach Basel, wo er sich unter der Obhut Walter Muschgs mit deutscher Literatur befasste. Von Aargauer Provinz mag er heute indessen nicht mehr sprechen. Kein Zentrum zu haben, sagt er, könne auch eine Chance sein: «Die Aargauer sind ein anarchistischer Haufen, der sich stets neu erfindet. Die Oberfläche scheint glatt und still, aber im Untergrund brodelt’s.» Schneider erwähnt die vielen Aargauer Jazz-Musiker. Und er erzählt von Hermann Burger und seinem Roman «Schilten», in dem ein Aargauer Lehrer am Widerstand gegen von oben auferlegte Gesetze innerlich zugrunde geht.
Der Kanton Aargau nennt sich – unter Rückgriff auf den Namen einer von Heinrich Zschokke mitgegründeten Gesellschaft – gerne «Kulturkanton». Sibylle Lichtensteiger, Co-Leiterin des Stapferhauses Lenzburg, das sich durch aktuelle und provokative Ausstellungen einen Namen gemacht hat, schätzt den kantonalen Kunstfreiraum. «Wir haben zwar kein Opernhaus und kein Schauspielhaus», sagt sie, «allerdings ist das Fehlen grosser Häuser auch der Grund, weshalb die Aargauer Kulturschaffenden in Standortfragen so innovativ sind und nicht nur in Kulturtempeln Kultur veranstalten.» Grosse Kulturhäuser verschlängen Millionen für die Infrastruktur – das Geld liesse sich besser verwenden: «Wenn es der Aargau schafft, die Millionen in Kunst und Kultur zu investieren, dann sehe ich da viel Potential.»
Einer, der sich in der Aargauer Kulturszene selbst durchschlägt, ist Thomas Garcia, Leader und Sänger der Band Lockstoff . «Die Kultur ist extrem in Bewegung», sagt er, «und die Zeit gekommen, in Aargauer Dialekt zu singen.» Der 30jährige Mundartrocker, dessen Mutter aus Niederrohrdorf und dessen Vater aus Spanien stammt, glaubt an die Zukunft seines Kantons. «Von Provinzialismus keine Spur. Es gibt einen guten Spirit in meinem Kanton, den Willen zum Erfolg. Wir sind bereit, alles zu geben.»