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(10) L’Argovie n’existe pas

Die neue Medienoff ensive vermag das Problem nicht zu lösen: der Aargau bleibt ein Konstrukt. Damit lässt sich freilich leben, denn die historisch zementierte Kleinstädterei kann auch eine Stärke sein. Vom Leben ohne kantonale Identität.

Die Dame aus Zürich, die mir an dem Abend gegenübersitzt, hebt die Brauen, als das ältere Ehepaar den Saal betritt. «Wissen Sie», sagt sie dann, «Aargauer erkenne ich auf den ersten Blick.» Etwas überrascht, weiss ich nichts Besseres zu entgegnen als «Ehrlich gesagt – mit Emmentalern etwa verbände auch ich die Vorstellung von einem bestimmten Menschenschlag, aber mit Aargauern?». Die Zürcherin bleibt unbeirrbar: Oh doch, die Aargauer hätten alle eine spezielle Nase und hochsitzende Wangenknochen. – Ich mustere mein von den Fenstern des Landgasthofs nur undeutlich zurückgespiegeltes Gesicht. Was ist mit meiner Nase? Und was mit meinen Wangenknochen?

Dabei habe ich eigentlich nichts zu befürchten. Zwar wohne ich seit je im Aargau – allein, ich bin kein Aargauer. Jedenfalls merkt niemand etwas davon, wenn ich mich mit Namen vorstelle. Und wenn einer es genau wissen will, so verweise ich, Papierschweizer in dritter Generation, auf meinen Bürgerschein der Stadt Winterthur. Darin habe ich Routine. Schliesslich gab es eine Zeit, als das Bekenntnis, man stamme aus dem Aargau, bloss Gelächter auslöste. Die Szene in den «Acharnern», wo Aristophanes die nach Athen auf den Markt kommenden Böotier als Hinterwäldler verulkt, fand ich nie besonders lustig. Genau so fühlte ich mich manchmal selber.

Dabei erfuhr ich überhaupt erst in Zürich, dass es so etwas wie Aargauer gibt. Bei uns zu Hause sprach man von den Bürgern der Stadt Aarau (man hielt sie für ein wenig geschäftstüchtiges Beamtenvölklein mit einem Hang zum Geiz), denen man die weltläufi geren Badener gegenüberstellte oder die leicht mafi osen Bewohner des Schwarzen Erdteils, wie man die katholischen Bezirke nannte. Auf der Schule konnten wir Zwischenstunden damit zubringen, über die Vorzüge von Brugg oder Lenzburg zu streiten, und später, längst erwachsen, erfuhr ich, dass Zofi nger Künstler von einem Aarauer Kritiker nichts anderes erwarteten, als dass er sie in der Luft zerriss oder totschwieg.

Kleinstädterei – campanilismo sagt man in Italien – gibt es überall. Eine Freundin aus Berlin erklärte mir einmal, sie empfi nde sich nicht als Deutsche, sondern ausschliesslich als Berlinerin. In Zürich freilich lernte ich Menschen kennen, die bekannten sich als überzeugte Zürcherinnen und Zürcher. Vorher hatte ich dergleichen Kantonalpatriotismus höchstens aus dem Mund von Politikern im Sonntagsjackett gehört. Denn wenn man einen Kanton regiert, möchte man ja, dass er etwas Besonderes vorstellt – als stünde nicht in jedem Geschichtsbuch, wie das Kunstgebilde «Aargau» in der Helvetik aus vier ganz unterschiedlichen Territorien zusammengeschustert wurde.

Hätten die zweihundert Jahre seither nicht reichen müssen, eine gemeinsame Identität auszubilden? Man betrachte bloss, was die Amerikaner in derselben Zeit zustande gebracht haben! Im Aargau indes gab es kein Zusammenwachsen, nur den nahtlosen Übergang vom Nebeneinander der historischen Regionen zu ihrem Auseinanderstreben nach den Metropolen jenseits der Ränder. Aus dem vorderösterreichischen Fricktal wurde das Einzugsgebiet der Stadt Basel, das Freiamt geriet zu einem Villenvorort von Zürich, und dank der Hochgeschwindigkeitsstrecke hinter Rothrist rückt neuerdings der Südwestaargau in die banlieue von Bern vor.

Gewiss ist das öff entliche Erscheinungsbild unseres Kantons in den letzten Jahren geschlossener geworden. Die Karotten im Supermarkt tragen heute ein schwarzweissblaues Signet, Lokomotiven den Namen «Zugkraft Aargau», und die Konzentration in der Presselandschaft hat nur einen erfolgreichen Konzern übrig gelassen, der zugleich Regionalfernsehen, -radio und ein Printmedium betreibt, das sich demonstrativ «Aargauer Zeitung» nennt. Ein typisch aargauisches Gebilde, muss man präzisieren, ein Verbund von Regionalausgaben, mit den aufgekauften ehemaligen Lokalzeitungen als Kopfblättern. Die Redaktion huldigt dabei einem ausgesprochenen Kult des Labels «Aargau». Seit es die «Aargauer Zeitung» gibt, kennen wir Aargauer Stars: dann und wann eine Miss Schweiz, eine Bundesrätin oder DJ Bobo. Sie alle haben es nicht im Aargau zu etwas gebracht, sondern draussen in der grossen Welt, in New York, in Bern oder gar am Leutschenbach. Insofern hat sich nicht viel geändert, der Aargauer blickt noch immer nach aussen. Es gibt keine Innensicht dieses Kantons, nichts Aargauisches, woran man sich halten könnte.

Alles hierzulande scheint Imitation oder Leihgabe. Etwa so wie die Stadt Aarau sich zum Hochschulstandort aufzublasen versucht, indem sie bei der Universität Zürich ein kleines Seminar borgt. Dorthin, in die Provinz, wird jetzt nämlich ein sogenanntes «Institut für Demokratieforschung» verlegt, eine jener traurigen Stätten also, wo man Studentengehirne auf das Auswerten von Meinungsumfragen abrichtet.

Nicht viel anders das offi zielle Gruppenbild unseres Regierungsrats. Sechs Herren (eine Dame ist nicht dabei), in kraftvoll ausschreitender Bewegung auf den Betrachter zu. Eine exakte Kopie der aktuellen Bundesratsphotographie, die bekanntlich Aufbruch und Innovation ausdrücken soll. Originell war die Idee freilich schon in Bern nicht. Aber das kulturelle Gedächtnis der heutigen Publizistik scheint so kurz, dass kaum jemand bemerken wollte, wie der italienische Maler Giacomo Balla bereits 1933 eine ganz ähnliche Komposition für ein Gemälde benutzt hat, das den Duce und seine Getreuen beim Marsch auf Rom zeigt. Nur dass die alten Faschisten mit grimmiger Entschlossenheit in die Zukunft blicken, der sie entgegenstreben, während unsere Bundes- und Regierungsräte sich konzentriert bemühen, einen zeitgemässen, tänzerisch lebensfrohen Optimismus zu versprühen.

Dennoch haben die Entwicklungen der letzten Jahre die aargauische Identität von einem Thema halbherzig verordneter Staatspropaganda in ein kommerzielles Medienprodukt verwandelt. Wenn es eines Beweises für die Überlegenheit der Privatwirtschaft bedurft hätte – die Reaktion der Öffentlichkeit auf diesen Umschwung müsste ihn liefern. Gleichsam über Nacht sind die Hinterhofschweizer zu Vorzeigebürgern aufgestiegen. Ein grosses Zürcher Journal präsentierte unlängst unsere Kantonsregierung als mustergültiges Reformkabinett und strahlendes Gegenbild zum heillos zerstrittenen Regentenclub der Limmatrepublik. Was geschieht da? Rollt nach so viel Swissness und Suissitude nun eine Welle von Argovity auf uns zu? Hat unser Kanton sich umgestülpt wie ein Handschuh? Oder sind es die andern, die veraargauern? Schliesslich hat mittelmässig und langweilig zu sein für eine Region längst jedes Odium verloren, solange bloss die Steuern tief bleiben. Wird der Aargau die Avantgarde eines Landes im Rückwärtsgang? Freilich, wer hier wohnt und lebt, wer den Kanton in der oder jener Richtung abschreitet, wer durch seine Täler streift oder den Flanken der Juraberge entlang, die an den grauen Strömen lagern wie eine wiederkäuende Herde struppiger Urviecher, der wird am Ende lächeln über das im Teich der veröff entlichten Meinung aufgeregt hin und her schwappende Gerede. Nein, man sieht heute die Kantonsflagge nicht häufiger in unseren Vorgärten flattern als früher. Vielleicht auch, weil ihre linke Hälfte, das Blau mit den Sternen, zu Verwechslungen Anlass geben könnte, die den meisten Aargauern peinlich wären. Wir bleiben ein Kanton der Dörfer und Kleinstädte, wo man sich das Leben ganz angenehm einrichten kann.

Die Laufenburger, die Bremgartner, die Kulmer – sie alle sind noch wie seit je. Nichts da von einer Grundwelle des «Wir-Aargauer-sindwieder- wer!». Insofern bleibt dieser Kanton ein verkleinertes Abbild der Schweiz: bescheidene Tugenden und nur hin und wieder der trotzige Anspruch, mehr und Besseres zu sein (der meist in einer Bruchlandung endet). Und ehrlich gesagt: es macht mir nichts aus, wenn die Identität meines Aargaus bloss eine mediale Luftblase ist. Das hat eher etwas Befreiendes. Ich brauche niemand anderen zu vertreten als mich selbst – und von meiner Wohnheimat verlange ich nicht mehr, als dass sie ein Ort sei, wo ich mich wohl befinde.

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